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Suche nach dem Glück auf dem Land

In Frankreich galt das Leben auf dem Land lange Zeit als rückständig. Wer dynamisch war, zog in die Stadt. Die Folge: Ganze Regionen verödeten. Ein Jahrhundert lang war die Landflucht ein großes Problem in Frankreich. Doch das ist längst vorbei. Heute ziehen mehr Menschen aus Paris und der Region Ile de France weg, als sich neu dort niederlassen. Viele Dörfer hingegen wachsen.

Von Bettina Kaps; Redakteur am Mikrofon: Norbert Weber |
    "Leben auf dem Land", das ist inzwischen ein moderner Traum. Es ist ein Traum vom einfachen und authentischen Leben, fern vom Stress, von der Hektik und den Aggressionen der Großstadt. Die Sehnsucht nach tieferen menschlichen Kontakten, der Wunsch nach guter Luft und gesundem Essen, nach mehr beruflicher Selbstständigkeit.

    Die Stadt Limoges und ihre Region, das Limousin, liegen fast im Zentrum von Frankreich. Es ist eine abgelegene Gegend, bis heute. Früher gab es hier Porzellanmanufakturen, doch die haben nach und nach bis auf einige wenige dicht gemacht. Die Einwohnerzahl sank im vergangenen Jahrhundert um rund ein Drittel. Seither bietet die Gegend neben der Landwirtschaft nur wenig Arbeitsmöglichkeiten.

    Weil es die Verödung jedoch nicht einfach hinnehmen wollte, entwickelte das Limousin als erste Region Frankreichs eine aktive Politik, um neue Bewohner anzuziehen. So hat der Regionalrat eigens ein Amt für den Empfang von Neuankömmlingen geschaffen. Und tatsächlich ist es dem Limousin gelungen, die Tendenz zu wenden. Seit 2004 steigt die Bevölkerungszahl, dank der Zuwanderer wieder an. Viele der Neubewohner stammen aus einer Großstadt. Und nicht wenige haben vor ihrer definitiven Entscheidung die "Messe für die Übersiedlung aufs Land" besucht, die seit 2001 alle zwei Jahre in Limoges abgehalten wird.



    Der Traum vom Land – im Sonderzug von Paris in die Provinz
    Paris, Gare d'Austerlitz. Terminus für die Regionalzüge in den Südwesten Frankreichs. Stefano Venchiarutti – 39 Jahre, klein und schlank, blondes Haar - checkt die Abfahrtstafel. Für 8:20 Uhr ist ein Sonderzug angekündigt, Zielort ist Limoges, wo die Messe für die Übersiedlung aufs Land stattfindet.

    Stefano trägt Jeans und ein zartrosa T-Shirt, dazu einen militärisch angehauchten Designer-Blouson, außerdem Stoffschuhe in Orange und Rosa. Dezente Kleidung mit Schick. Er ist Stylist, zeichnet Sportmode und Accessoires für die japanische Modemarke Kenzo. An diesem Freitag hat er eigens Urlaub genommen, um in die Provinz zu reisen. Stefano beschreibt seine Sehnsucht nach einem Leben auf dem Land so:

    "Als ich neulich mit der Metro fuhr, ist mir ein Werbeplakat für diese Reise aufgefallen. Ich erinnere mich genau an das Bild: eine Rolltreppe, die auf einer grünen Wiese ankommt, mitten auf dem Land. Das hat mich wie ins Mark getroffen. Ich überlege nämlich, ob ich mein Leben radikal ändern soll. Und weil es keine Zufälle gibt, habe ich mir gesagt: Das ist ein Zeichen, diese Reise muss ich unternehmen."

    Stefano ist nicht allein mit diesem Vorhaben. Am Kontrollpunkt auf Gleis 13 hat sich schon eine Schlange gebildet. Alles Städter, die in den Sonderzug steigen wollen, weil sie das Leben in der Großstadt leid sind. Die Wagen sind alle Erster Klasse und die Reise ist gratis - die Region Limousin lädt ein und sie lässt sich nicht lumpen, wenn es darum geht, neue Bewohner anzulocken. 300 Großstädter, die mit dem Gedanken spielen, aufs Land zu ziehen, sollen auf der Messe informiert und abends im Hinterland beherbergt und verpflegt werden. Menschen, die in den Anmeldepapieren als "Porteurs de projet" bezeichnet werden, als Projektträger. Für das Land sind sie Hoffnungsträger.

    "Erstaunlich, wie sehr mein Vorhaben dem Zeitgeist entspricht. Mein Partner hat denselben Wunsch. Meine Kollegen und Freunde sagen: genial, super, hast du ein Glück! Leben auf dem Land, das facht heute die Fantasie der Städter an","

    erzählt Stefano. Er setzt sich in ein Abteil, studiert das Programm der Veranstaltung. Auf der Messe will er erkunden, wie er und sein Freund auf dem Land Geld verdienen können.

    ""Ich werde fragen, welche Arbeitsmöglichkeiten es gibt. Ob ich es wagen kann, eine Firma zu gründen oder zu übernehmen. Die Aktivität ist mir ziemlich egal. Kreative Arbeit ist mir lieber, aber eigentlich bin ich absolut offen."

    Ein junger Mann setzt sich ins Abteil, brauner Lockenkopf, Bart, Drillichhose und Rucksack. Dann eine graublonde Dame mit roter Handtasche und Pumps und eine quirlige junge Frau mit Bubikopf und Händen voller Silberschmuck. Menschen, die sich nie zuvor gesehen haben. Aber sich dennoch sofort ihren Traum vom Land erzählen. Lorraine ist 30 Jahre alt, hat immer in Paris gelebt. Ihr Beruf: Sie polstert antike Stühle und Sofas auf. Seit zwei Jahren spielt sie mit dem Gedanken, die Großstadt zu verlassen:

    "Ich suche mehr Lebensqualität. Mein Gehalt ist nicht hoch, in einer Stadt wie Paris komme ich damit nicht weit. Außerdem sehne ich mich nach engeren menschlichen Kontakten. Selbst wenn ich auf dem Land wenig verdienen würde, so könnte ich dort vielleicht mein eigener Chef sein."

    Geneviève, Ende 50, arbeitet in einer Kosmetikfirma. Sie möchte ihre Wohnung in Paris verkaufen und in ein Dorf ziehen, berichtet sie:

    "Aber wer weiß, ob ich mich integrieren kann, ob nicht unerwartete Schwierigkeiten auftauchen. Von der Messe erhoffe ich mir konkrete Antworten. Ich will herausfinden, ob ich auch wirklich die persönlichen Voraussetzungen habe, um diesen einschneidenden Wechsel zu vollziehen."

    Stefano erzählt von Tokio - seine Arbeit bringt ihn häufig in die japanische Hauptstadt. Dort, verspürt er den Wunsch nach Landleben ganz besonders stark, sagt er:

    "Und zwar wirkliches Land. Ich suche ein Dorf, oder sogar einen Weiler, keine mittelgroße Stadt. Ich will von einem Extrem zum anderen wechseln."

    In der Messehalle von Limoges. Die Metallwände sind mit Strohballen dekoriert, aus denen an langen grauen Schnüren Computermäuse heraushängen. Stefano steuert zielstrebig zu einer Konferenz. Thema: Kulturelle Projekte auf dem Land. Dann hört er bei einer Veranstaltung über Telearbeit zu, dabei hält er Spiralblock und Stift in der Hand, notiert eifrig. Schließlich meldet er sich zum individuellen Beratungsgespräch an, skizziert sein Projekt - es hat sich ein bisschen verändert.

    "Ich bin Stylist. Ich möchte auf mehreren Beinen stehen, vielleicht freiberuflich weiter arbeiten in meinem Beruf, die Telearbeit erscheint mir viel versprechend. Außerdem will ich kulturelle Ereignisse organisieren, Ausstellungen, ein Jazzfestival…. Ich weiß, dass ich damit nicht viel Geld verdienen kann, aber dafür würde ich mit mehr Lebensqualität bezahlt…"

    Die Beraterin schlägt Stefano daraufhin vor:

    "Wie wäre es mit einem touristischen Angebot? Sie könnten vielleicht Gästezimmer anbieten. Lebensqualität allein macht nicht satt, ein Minimum an Geld braucht man schon."

    Zwei Tage lang saugt Stefano alle Informationen auf, spricht mit Menschen, die das Abenteuer Land schon vor einigen Jahren gewagt haben, hört Geschichten über Erfolge und Misserfolge, von Glück und Frustrationen.

    Zurück nach Paris. Stefano blättert nachdenklich in den Broschüren, die er eingesteckt hat, liest seine Notizen, unterstreicht, was er tun muss, um seinen Traum voranzubringen.

    "Ich überlege jetzt anders als auf dem Hinweg, erwäge auch Telearbeit. So könnte ich meinen Beruf als Selbständiger ausüben und zu den Besprechungen nach Paris fahren. Das war ursprünglich nicht meine Absicht. Aber ich stehe wieder mit beiden Beinen auf festem Boden. Jetzt muss ich all die Gespräche und Informationen erst einmal verdauen."

    Paris, Gare d'Austerlitz. Küsse, Umarmungen. Die Reisenden tauschen Adressen aus, wünschen sich Erfolg bei der Verwirklichung ihrer Projekte. Für Stefano, Geneviève und Lorraine steht immer noch fest: Sie wollen der Großstadt den Rücken kehren, so schnell wie möglich.

    Einer der sowohl das Land- als auch das Großstadtleben kennt, ist der portugiesische Schriftsteller Josè Maria Eca de Queiroz. In einem kleinen Dorf in Nordportugal aufgewachsen, lebte er später in Paris. Er starb 1900. In einem seiner letzten Romane "Stadt und Gebirg", schlendert seine zentrale Figur Jacinto, Sohn einer angesehenen Bürgerfamilie aus Nordportugal, der jedoch in Paris geboren und aufgewachsen ist, mit seinem Freund Zé Fernandes durch die Großstadt. Jacinto empfindet auf einmal geradezu körperliche Abscheu vor dem Stadtleben. (Literaturauszug)

    15 Jahre lang arbeitete Norbert Kaysen als Techniker für Kabelnetzwerke, anfangs in Straßburg, später dann in Mantes-la-Jolie, einer Stadt im Einzugsbereich von Paris. Dort schaffte er es sogar bis ins Management, musste dafür jedoch täglich nach Paris fahren. Bis zu anderthalb Stunden brauchte er meist, um mit dem Motorrad an seine Arbeitsstelle zu kommen. Seine Frau Sylvie hatte kürzere Wege; sie arbeitete zuerst in einem Supermarkt und später dann als Buchhalterin. Aber als Norberts Firma einen Entlassungsplan aufstellte, war ihr beider Entschluss gefasst: Norbert und Sylvie wollten aufs Land.

    Vor zwei Jahren besuchten die beiden dann die "Messe für die Übersiedlung aufs Land" und kontaktierten den Verein "SOS Villages", der sich bemüht, kleine Dörfer am Leben zu erhalten. Dank dessen Vermittlung übernahmen die Kaysens Ende 2005 ein leer stehendes Geschäft in Saint Ybard. Das Dorf liegt in der Correze, so heißt ein Departement im Herzen von Frankreich. Sie hatten es nie zuvor besucht.

    In kurzer Zeit machten sie dort aus ihrem Tante-Emma-Laden ein Allround-Geschäft: die Kaysens verkaufen nun neben den üblichen Artikeln auch Gasflaschen, Zeitungen, Handy-Karten und Angelscheine. Sie bieten Bügelservice an und haben unzählige weitere Projekte in Planung, insbesondere die Eröffnung eines Bistros. Aber das neue Leben ist kein Zuckerschlecken.



    Ein Traum geht in Erfüllung - vom Büro in der Großstadt in den Tante-Emma-Laden von Saint Ybard
    Es ist halb neun. Norbert Kaysen zieht das Rollo hoch, sperrt die Ladentür auf, schaltet die Türglocke ein. Seine Frau Sylvie bettet Fischfilets auf grobes Eis. Dann füllt sie die Regale auf: Milch und Joghurt, Wein und Konserven, Fleisch, Käse. Die weißen Metallstellagen und der helle Kachelboden sind blendend sauber. Die Kaysens haben schon geputzt und gewischt, wie jeden Morgen und berichten von ihren ersten Erfahrungen, die sie in dem Dorf gemacht haben:

    "Im ersten Jahr haben uns die Leute vom Dorf beobachtet. Sie waren auch ein bisschen verschlossen. Aber als sie sahen, dass ab fünf Uhr früh im Laden Licht brannte, war das Eis gebrochen. Sie wissen jetzt, dass wir nicht ins Grüne gezogen sind, um die Hände in den Schoß zu legen, sondern um zu arbeiten und den Laden wieder in Schuss zu bringen."

    Sylvie und Norbert Kaysen sind beide Ende 30, schlank und eher von kleiner Statur. Sylvie trägt die rotblond getönten Haare sauber zusammengebunden. Der Pferdeschwanz wippt im Takt ihrer zackigen Bewegungen. Sylvie versprüht Energie. Norbert ist ruhiger. Er hat hellgrüne Augen, schütteres blondes Haar und ein sympathisches Jungengesicht.

    Vor 18 Monaten kamen die Kaysens nach Saint Ybard. Unter mehreren Kandidaten wählte der Bürgermeister sie als neue Pächter des Lebensmittelgeschäfts aus, das zuvor nicht mehr rentabel war und Pleite ging. 30.000 Euro Ablöse mussten sie dafür bezahlen.

    "Das Pariser Leben hat uns überhaupt nicht mehr gefallen. Wir sehnten uns nach Ruhe, Gelassenheit und engerem Kontakt zu den Menschen. Den hatten wir in Paris noch nicht einmal mit unseren Nachbarn. Und dann dieses Gefühl von Unfreiheit. Wenn wir abends aus dem Kino kamen, wurden wir regelmäßig angemacht. Wir mussten den Mund halten und alle Beleidigungen auf uns sitzen lassen, sonst wäre es noch brenzlig geworden. Dadurch ist uns die Lust aufs Kino völlig vergangen. Wir wollten nicht mehr ausgehen."

    Nach solchen Erlebnissen reifte in ihnen der Entschluss, aufs Land zu ziehen. Zuerst wollte das Paar luxuriöse Gästezimmer mit Sauna und Whirlpool anbieten. Aber dann entschloss es sich für ein handfestes Projekt ohne allzu großes Risiko.

    Die ersten Kunden kommen in den Laden. Sylvie begrüßt sie mit Vornamen und Wangenkuss, fragt nach Neuigkeiten, dann stellt sie sich hinter die Fleischtheke, zieht Gummihandschuhe über, bedient. Norbert geht durch die Hintertür zur Garage. Dort steht der Kleinlaster, mit dem er an fünf Tagen die Woche zu seinen Kunden fährt. Die Wandregale sind voll mit Waren und auf dem Boden stapeln sich Obst- und Getränkekisten.

    Schmale Landstraßen ziehen sich in Kurven durch die Hügellandschaft. Apfelplantagen sind mit Netzen abgedeckt, die vor Hagel schützen sollen. Auf den Wiesen grasen braune Kühe. Zwischen Eichen und Esskastanien taucht ein Gehöft auf. Norbert hält an. Eine grauhaarige Frau kommt aus dem Bauernhaus. In der einen Hand trägt sie den Einkaufskorb, an der anderen führt sie die kleine Enkeltochter.

    "Guten Tag, Madame Chaunut. Ich bringe Ihnen die Zeitung und die Schweinekoteletts, die Sie bestellt haben. Wollen Sie wieder Wein? Wie geht es Ihrem Bruder? Wir haben ihn lange nicht gesehen!"

    "Nicht besonders gut, es hat was am Herzen… Ich brauche Mehl, Nudeln, Pantoffeln, Größe 42, und einen Spray gegen Hornissen","

    antwortet Madame Chaunut.

    ""Haben Sie schon Heu gemacht?"

    "Ja, aber es liegt alles auf dem Boden, schon seit 8 Tagen…"

    "Das ist kein gutes Jahr…. Alles zusammen macht das 36, 57 Euro!"

    Die Bäuerin schiebt einen Blankoscheckheft über die Theke. Norbert Kaysen trägt die Summe ein, er schreibt in einer großen, deutlichen Schrift, dann zeigt er ihr den Scheck, sie schaut nur flüchtig hin. Er will die Einkäufe ins Haus tragen. Madame Chaunut wehrt ab: Das kann sie selber. Nächste Woche schaut der Händler wieder vorbei, am gleichen Tag zur gleichen Zeit. Dann bringt er auch die Pantoffeln mit, die er nicht vorrätig hatte.

    Sein Job, sagt Norbert Kaysen, bestehe zu 40 Prozent aus Kommerz. 60 Prozent sei Sozialarbeit. Er schaut auch bei Leuten vorbei, die fast nichts kaufen, weil er sich verantwortlich fühlt. Gerade das mag er an seinem neuen Leben, so Kaysen:

    "Für mich ist es ein wahres Vergnügen. Manchmal bin ich morgens gedrückter Stimmung. Aber sobald ich die Menschen treffe und mit ihnen rede, geht es mir gut. Wir sprechen nicht nur übers Geschäft, sondern auch über all die Kleinigkeiten des täglichen Lebens. Dabei vergesse ich, dass ich arbeite. Ich ziehe einfach los, um Leute zu treffen."

    22 Kunden stehen heute auf seiner Liste, alles alte Leute. Einige Berufstätige haben ihm schon signalisiert: Wenn sie in Rente gehen, soll er sie auch beliefern.

    19 Uhr ist vorbei und Sylvie Kaysen hat das Geschäft geschlossen. Die Fleischtheke ist zugedeckt, die Frischware im Kühlraum verstaut. Jetzt sitzt sie am Tisch, gibt Bestellungen auf und macht Buchhaltung. Früher, in Mantes-la-Jolie, da hatte sie eine 35-Stunden-Woche, erzählt Sylvie Kaysen:

    "Davon sind wir weit entfernt. Wir arbeiten mehr als doppelt so viel: Im Durchschnitt 80 Stunden pro Woche. Das heißt: wir sind 80 Stunden präsent, aber es gibt natürlich auch Leerlauf und die Gehälter, die wir in Paris hatten, sind hier durch vier geteilt."

    Sie macht die Rechnung ohne Bedauern. Denn unterm Strich haben sie gewonnen. Davon sind Sylvie und Norbert Kaysen überzeugt:

    "Wir haben unseren Traum verwirklicht. Wir müssen hier auf nichts verzichten. Wir haben den gleichen Komfort wie in der Stadt, dazu die Natur, und außerdem kann ich sagen: ich bin mein eigener Chef! Das ist was wert. Wir sind oben auf der Leiter angekommen."

    Der Morvan ist ein Mittelgebirge, eine dünn besiedelte, waldreiche Region in Burgund. Früher arbeiteten die Männer als Holzfäller und als Flößer auf den zahlreichen Flüssen der Region. Heute verlässt die Jugend einen Landstrich, in dem sie keine berufliche Zukunft sieht. Die Folge: die Bevölkerung altert rapide; die Hälfte aller Geschäftsleute steht vor der Rente. Besonders schmerzlich für die Dagebliebenen ist der Mangel an Hausärzten, Krankenschwestern, Krankengymnasten und Zahnärzten. Doch erstaunlicher Weise verzeichnete der Morvan im Jahr 2003 erstmals seit Jahrzehnten ein demografisches Plus. Ein Grund: die Niederländer kommen.

    Rund 3.000 holländische Familien sind im Morvan bereits heimisch geworden. Dass der Strom nicht abreißt, ist auch Jan Vanderlee zu verdanken. Der Amsterdamer hat einen sehr aktiven niederländischen Club gegründet, der sich um die Eingliederung der Neubürger aus dem Ausland bemüht. Seit kurzem ist Vanderlee auch "Kopfjäger". Im Auftrag von Kommunen wirbt er vor allem Menschen an, die im Gesundheitssektor arbeiten.



    Grenzenloser Empfang im Morvan – wo Niederländer Franzosen heilen
    Viermal ist Myriam nun schon mit dem Küchenmesser zum Gemüsebeet gelaufen. Jetzt stellt sie Teller auf den Gartentisch: sie sind üppig gefüllt mit einer Komposition in grün, gelb, blau und lila.

    "Alles aus unserem Garten, außer dem Schinken und dem Omelett natürlich, aber die Eier sind von unseren Hühnern, also auch aus dem Garten. Genau wie die Kartoffeln, der Spargel, Salat, Malvenblüten… Und die kleinen blauen Blüten, das ist Borretsch,"

    berichtet Myriam Vanderlee. Die 47-Jährige ist groß und schlank, trägt eine ausgewaschene blaue Latzhose, die blonden Haare hat sie locker zusammengebunden. Neben ihr sitzt Jan, Anfang 50, so groß und dünn wie sie. Durch den kahl rasierten Schädel wirkt sein Gesicht besonders hager, Nase und Ohren stehen hervor. Fast sein ganzes Leben lang war Vegetarier. Jan berichtet:

    "Einmal in Frankreich war es schier unmöglich, Vegetarier zu bleiben. Eines Tages habe ich das Fleisch eines Bauern aus unserm Dorf probiert - so etwas Gutes hatte ich noch nie gegessen. Manchmal klopfen Jäger an unsere Tür und schenken uns ein Stück Wildschwein oder Reh oder eine Forelle - wir essen hier sehr gut."

    Jan lehnt sich zurück, schaut ins Grüne: Eine alte Steinmauer umgibt den Gemüsegarten, dahinter sind die dicht bewaldeten Berge des Morvan zu sehen. Zurück nach Amsterdam zieht es das Ehepaar nicht mehr, und auch nicht in ihre alten Berufe: Myriam war Redakteurin beim Fernsehen, Jan hatte eine Firma.

    "Im Bereich Marketing. Da hieß es immer: schnell, schnell, schnell! Zuerst war ich allein, zehn Jahre später hatte ich 15 Angestellte. Ich habe nonstop gearbeitet, bis zum 'Burn-Out'. Da ist es besser, man hört auf und verwirklicht seinen Traum,"

    berichtet Jan. Ihren Traum fanden sie im Internet: Ein altes Bauernhaus am Dorfrand von Corancy. Angeboten von einem holländischen Immobilienmakler, der in Frankreich lebt. Seit sechs Jahren genießen sie nun die Ruhe der 400-Seelen-Gemeinde. Aber Arbeit fliegt Jan auch weiterhin zu: Zuerst bat ihn der Bürgermeister, den Campingplatz auf Trab zu bringen. Jan erzählt, dass er schnell einen Pächter fand - aus Holland:

    "Hier im Morvan und auch in anderen ländlichen Gegenden fehlt es an Geschäftsleuten. Die Hälfte aller Unternehmer steht vor der Rente, aber die Leute finden keine Käufer. Es mangelt auch an Ärzten. Die Franzosen wollen nicht aufs arme Land, uns Niederländer aber zieht es hierher, wir lieben Ruhe und Einsamkeit. Deshalb arbeite ich jetzt als 'Headhunter'. Ich suche in Holland, aber auch in Belgien und Deutschland, nach Gesundheitspersonal und Kleinunternehmern."

    Überraschungsbesuch. Eine Nachbarin kommt in den Garten. Sie stellt einen Eimer mit Sauerkirschen auf den Tisch und drückt Jan einen Zettel voller Zahlen in die Hand - die Bilanz ihrer Textil-Reinigung. Seit Monaten sucht die Frau schon einen Käufer. Holländer sind nun ihre letzte Hoffnung. Myriam und Jan sind überzeugt, dass sie bald einen Interessenten finden werden. Noch einen Kaffee im Stehen, dann bricht der Kopfjäger auf.

    Brinon-sur-Beuvron, 217 Einwohner. Ein großer leerer Platz, rundherum Läden: ein Bäcker, zwei Bistros, ein kleines Informatikgeschäft, Lebensmittel, Apotheke - ein dynamisches Dorf. Aber fast jeder dritte Bewohner ist über 60 Jahre alt und auch der Arzt, der nur ein paar Stunden pro Woche praktiziert, steht vor der Rente. Der Bürgermeister sucht händeringend einen Nachfolger, außerdem wünscht die Bevölkerung einen Krankengymnasten. Den hat Jan jetzt gefunden: Dick Havenaar, 49 Jahre alt, die Ray-Ban im dichten dunkelblonden Haar, grasgrünes Hemd, Ärmel hochkrempelt, erzählt er:

    "Hier auf dem flachen Land ist Arbeit ohne Ende für Krankengymnasten, das weiß ich. Ich denke, dass es ein herrliches Gefühl sein wird, wenn man mit offenen Armen empfangen wird und seine Arbeit auf richtige Art machen kann."

    Dick ist aus Deutschland angereist. 15 Jahre hat er dort gearbeitet, jetzt vertreibt ihn die Gesundheitsreform. Im Morvan war er nie zuvor. Heute hat er sein erstes Treffen mit dem Bürgermeister von Brinon und Vertretern des Gemeindeverbands. Jan dolmetscht:

    "Bitte sehr, ich stelle Ihnen den Kandidaten vor. Leider spricht er noch nicht gut Französisch, aber das wird sich schnell ändern. Sie haben seinen Lebenslauf gesehen…"

    "Wir wünschen uns sehr, dass jemand kommt und den alternden Menschen hier hilft. Wir haben niemand im Umkreis von 20 Kilometern","

    wird Jan entgegnet.

    Die zukünftige Praxis von Dick Havenaar: ein dunkler Raum, dicke Heizungsrohre, altmodische Stromschalter, ein ausgemusterter Röntgenapparat… Der Bürgermeister verspricht gründliche Renovierung. Außerdem sieht er von der Miete ab. Der Krankengymnast schaut sich schweigend um. Jan verabredet ein weiteres Treffen, um die amtlichen Formalitäten zu besprechen. Dann blickt er seinen Landsmann fragend an. Dick nickt.

    ""Ja klar, absolut, ich werde es probieren. Ob's geht? Abwarten. Ich hab ein gutes Gefühl dabei."

    (Literaturauszug) Auch wenn es neuerdings immer mehr Franzosen aufs Land zieht - im Zeitraum von fünf Jahren waren es rund eine halbe Million - profitieren nicht alle Dörfer von diesem Trend. Viele verlieren noch immer Einwohner und zahlreiche Häuser verfallen. Dass es vor allem an den Entscheidungsträgern vor Ort liegt, ob die Abwanderung gestoppt und neue Bewohner angelockt werden können, hat Les Voivres bewiesen.

    Les Voivres liegt im südlichen Teil der Vogesen, rund 30 Autominuten von Epinal entfernt. Das Dorf hat keine Trümpfe – weder Industrie noch außergewöhnlichen Freizeitwert noch Sehenswürdigkeiten wie ein Schloss oder eine alte Kirche. Aber es hat einen überaus dynamischen Bürgermeister, und der hat dafür gesorgt, dass sich die Einwohnerzahl von Les Voivres innerhalb von zehn Jahren fast verdoppelt hat. Inzwischen wird nicht nur renoviert, sondern auch gebaut, und neuerdings siedeln sich in der Gemeinde auch private Firmen an.



    Les Voivres, ein soziales Experiment - wo Arbeitslose für Aufschwung sorgen
    Ein Gartenzaun umgrenzt den Schulhof. Bürgermeister Michel Fournier drückt das Tor auf, schiebt sich an den spielenden Kindern vorbei, begrüßt die Lehrer. Den Frauen drückt er einen Kuss auf die Wangen, dem Mann reicht er die Hand. Dann zeigt er auf das Schulhaus und erzählt:

    "Hier hat alles angefangen: Das ist die Schule, die dicht gemacht werden sollte, weil wir nur noch neun Schüler hatten. Die Schulbehörde hatte uns die endgültige Schließung für 1990 angekündigt. Das war logisch. Aber ein Dorf klammert sich an seiner Schule fest, die Schule ist das Leben."

    Der Bürgermeister, 57 Jahre alt, ist groß und kräftig. Von Beruf ist er Florist, sein Geschäft hat er im Nachbardorf, denn in Les Voivres gibt es keine Läden. Trotz der hohen Stirn mit den breiten Falten wirkt das gerötete Gesicht rund und gemütlich. Das liegt an dem buschigen Schnäuzer, dessen Enden die Mundwinkel umranden. Michel Fournier scherzt mit den Lehrern, mit allen ist er per Du, und seine Augen zwinkern vergnügt. Die Schule hat er gerettet, zur Grundschule kam sogar eine Vorschule hinzu, und das Dorf lebt auf. Heute hüpfen und rennen 75 Schüler im Alter zwischen zwei und elf Jahren über den Hof.

    "Wir jammern nicht und demonstrieren nicht. Weißt du, ich bin pragmatisch. Damals habe ich gesagt: Wenn im Dorf Kinder fehlen, müssen auswärts Kinder gefunden werden,"

    erzählt Michel Fournier. Der Bürgermeister beschloss, Familien ins Dorf zu holen, Großfamilien. Dazu musste er Wohnraum schaffen.

    "Ich fuhr durch die umliegenden Dörfer und suchte Arbeitslose. Mit Hilfe von staatlich geförderten Arbeitsverträgen konnten wir 20 Leute anstellen. Daraufhin hat der Gemeinderat das erste Haus gekauft, es war eine Ruine. Die neue Mannschaft hat es restauriert."

    Michel Fournier steigt ins Auto, fährt los. Wuchtige Bauernhäuser säumen die Hauptstraße, die meisten aus Naturstein und mit einem großen Torbogen. Sie sind gepflegt, Fenster und Läden gestrichen, und in den Gärten blühen blaue Hortensien. Aber das war nicht immer so. Bis in die 90er Jahre verfiel das Dorf und die Einwohnerzahl sank unaufhörlich, bis es nur noch 200 waren. Ein paar Ruinen gibt es heute noch. Der Bürgermeister hält vor zwei brüchigen Steinmauern und einem Schutthaufen und sagt:

    "Sieh dir dieses Haus an! Da ist nicht mehr viel übrig, da wachsen schon Bäume drin. Die Kommune will es kaufen, aber die Besitzer weigern sich. Das ist ein Drama. So etwas müsste verboten sein. Drei Viertel aller Häuser, die wir im Lauf der Zeit gekauft haben, sahen so aus."

    Als die ersten beiden Häuser renoviert waren, lockte das Dorf per Zeitungsannonce kinderreiche Familien an. Mit dem Versprechen, dass sie die Mietwohnungen später kaufen könnten, wobei ihnen die Kommune alle Mietzahlungen anrechnen würde. Zwei Familien zogen ein, sogenannte Sozialfälle. Michel Fournier streckt die Finger in die Höhe und rechnet vor:

    "Sechs Kinder plus fünf Kinder macht elf, dazu die neun, die schon da waren, das sind 20. Zwanzig Kinder - die Schule war gerettet."

    Aber jetzt war der Ruf des Dorfes in Gefahr. In den Zeitungen standen bitterböse Kommentare. Michel Fournier hat sie nicht vergessen: Da hieß es: Das Elend der Welt sammelt sich in Les Voivres. Ja, sogar vom Mülleimer des Departements war die Rede. Der Bürgermeister reagierte schnell: auch die Zugezogenen bekamen Eingliederungsjobs, als Sprungbrett in die Arbeitswelt. Zu tun gibt es genug: Die Angestellten des Dorfes renovieren, pflegen Grünanlagen, säubern den Dorfteich. Damit nichts schief läuft, schaut Michel täglich nach dem Rechten. Über 20 Häuser hat die Gemeinde inzwischen gekauft und renoviert, mehr als 200 Eingliederungsverträge abgeschlossen, und die Einwohnerzahl stieg auf 360. Stolz zeigt der Bürgermeister alle Winkel des Dorfes:

    "Inzwischen werden auch neue Häuser gebaut. Hier zum Beispiel: diese Leute wären bestimmt weggezogen, wenn das Dorf nicht diesen Aufschwung genommen hätte. Der Mann hat hier Arbeit gefunden, er fährt den Schulbus, vor allem aber: die Familie fühlt sich wohl im Dorf."

    Am Dorfrand entsteht eine kleine Siedlung. Dahinter haben sich Firmen niedergelassen: ein Sägewerk, eine Baufirma, ein Ingenieursbüro. Es ist Mittag. Autos parken im Dorf, sie gehören Menschen von auswärts. Denn gegenüber der Kirche hat die Bar mit dem Restaurant wieder aufgemacht, und die Köchin hat einen guten Ruf, berichtet Michel Fournier:

    "Zuerst hieß es: in eure Wohnungen wird doch niemand einziehen. Wer will schon in einem Nest begraben sein. Wir haben nichts Besonderes, kein Schloss, nichts dergleichen. Aber wenn man genau hinschaut, dann gibt es ein großes Potential. Manchmal genügt es, den Dingen neues Leben einzuhauchen. Das ist genau wie mit den Menschen: wenn man ihnen ein neues Leben ermöglicht, sind sie schön."

    Auf einer Kreidetafel steht das Tagesmenü: Gemüsepastete und Coq au Vin. Michel Fournier begrüßt die Wirte und bestellt.

    (Literaturauszug) Das Departement Orne liegt im westlichen Teil der Normandie. Es ist dünn besiedelt und die Menschen leben überwiegend von der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie. Andere Jobs sind hier rar. Deshalb wurde die Gegend auch zur "Zone de revitalisation rurale" erklärt, zu einer Zone der ländlichen Wiederbelebung, wodurch Firmen Steuervorteile erhalten können.

    Selbstständige aber haben nichts von solchen Hilfen, betont Xavier de Mazenod, ein Internet-Consulter, der sich vor vier Jahren in dieser ländlichen Gegend niedergelassen hat. Um das Land zu beleben, sollten die Entscheidungsträger vielmehr ganz auf neue Kommunikationstechnologien setzen. De Mazenod wünscht eine flächendeckende Versorgung mit Glasfaser-Technik. Außerdem eine aktive Empfangspolitik: Bürgermeister, Regionalpolitiker und die örtlichen Behörden müssten daraufhin arbeiten, dass sich Neuankömmlinge auch willkommen fühlten. Weil sie das nicht tun, sorgt er für den Empfang von Projektträgern - und zwar auf seine Weise.



    "Zevillage" vernetzt Telearbeiter in der Normandie - mit WiMax zwischen Kühen und Traktoren
    Eine braunweiß gescheckte Kuh glotzt mit großen Augen durch die Zweige. Unter dem Tier ist ein Ortsschild zu sehen: "Zevillage Punkt net", so heißt das Dorf der Telearbeiter. Ein Dorf im Internet. Xavier de Mazenod sitzt vor seinem PC, beugt sich über die Tastatur und bringt Neuigkeiten in Umlauf:

    "Es ist eine kleine Erinnerung an die Leser von Zevillage: Ich lade sie zu einem Treffen von Bloggern in der Normandie ein, nächsten Freitag. Die Leute kennen sich übers Internet, aber oft möchten sie sich auch in Fleisch und Blut sehen."

    De Mazenod tippt mit zwei Fingern, verschreibt sich, korrigiert. Der 52-Jährige ist groß und schlank, er hat dichtes braunes Haar, ein offenes Jungengesicht, und trägt einen hellen Wollpullover mit Kragen und Cordhose. Bequemer Landhausstil. Vor drei Jahren hat er Paris den Rücken gekehrt, ist mit Frau und zwei Kindern in die Normandie gezogen. Hier hat er das virtuelle Dorf gegründet. Es ist das erste in Frankreich, erzählt De Mazenod:

    "Als wir damals erzählten, dass wir die Stadt verlassen wollten, sagten viele Leute: Habt ihr ein Glück, das würden wir auch gerne. Wir haben uns gefragt: Aber warum machen sie es dann nicht? Später wurde uns klar: Viele kennen das Landleben nicht, sie haben keine Ahnung, wie sie einen solchen Wechsel anstellen sollen. Daraufhin habe ich das getan, was ich kann: Ich habe eine Website und einen Blog geschaffen, auf denen ich über alle Aspekte unseres Landlebens hier schreibe. Nach und nach hat sich rund um Zevillage eine Gemeinschaft gebildet."

    Xavier de Mazenod drückt auf die Page-Down-Taste: Auf einen Artikel über die Datenübertragungstechnik WiMAx folgt ein bunt bebildertes Plädoyer für den örtlichen Camembert aus Rohmilch. Daneben ein Link zu einem Videospot zum Thema "Macht Telearbeit glücklich?". Außerdem eine heiße Auseinandersetzung über das Für und Wider einer ovalen Autorennstrecke mit überhöhten Kurven, wie sie in der Gegend gebaut werden soll.

    "Die Leute, die regelmäßig durch Zevillage surfen, wollen Verbindungen knüpfen. Es sind Telearbeiter, die nicht vereinsamen wollen. Außerdem sind da die Neuankömmlinge: Einige wollen regelrecht an die Hand genommen werden. Ich selbst oder jemand aus unserem Kreis erklärt sich zum Ansprechpartner. Wir stellen die Neuen bei den örtlichen Behörden vor, helfen ihnen, ein Haus zu finden, informieren über die Schulen."

    140 Interessenten haben bereits auf dem Blog angefragt, aber nur sechs Familien sind wirklich aufs Land umgesiedelt. Die meisten Anfragen stammen von Menschen, die nach den Sommerferien vom Landleben träumen, aber kein richtiges Projekt haben. Denen rät Xavier ab, denn Arbeit kann Zevillage nicht vermitteln, sagt er:

    "Viele Leute lesen nicht, was wir schreiben: Hier auf dem Land gibt es keine Arbeit. Jeder muss seinen Job mitbringen. Deshalb besteht Zevillage aus Telearbeitern, die ihren Arbeitsplatz verlegt haben und ihre Kunden nun aus der Entfernung betreuen. Ich bin ein Verfechter der Telearbeit und sehr glücklich, dass ich hier arbeiten kann. Wenn ich anderen helfen kann, ihr Leben zu ändern, um es mir gleich zu tun, bin ich sehr froh."

    Xavier de Mazenod ist selbständig. Er berät Firmen, die über das Internet kommunizieren wollen, gestaltet ihren Internet-Auftritt und bietet Fortbildungen für Online-Redakteure an.

    Mittagszeit. De Mazenod steht auf, verlässt sein Büro unter dem Dach des Bauernhauses, geht durchs Wohnzimmer. Die Balkendecke ist niedrig. Bücher und Ölgemälde bedecken die Wände. Ein wuchtiger Kamin erinnert an Zeiten, in denen das 500 Jahre alte Haus noch keine Heizung besaß. Xavier verabschiedet sich von seiner Frau und bricht zum "First Tuesday" auf, so heißt ein bekanntes internationales Netzwerk für junge Unternehmer der Zukunftsbranchen - er hat sich den Namen einfach für das monatliche Mittagessen der Telearbeiter aus der nahen und fernen Umgebung ausgeliehen.

    Vor der Haustür liegt eine tote Spitzmaus - die Katze hat mal wieder gejagt. Das Auto steht neben der Scheune, in der sich riesige Strohballen stapeln. De Mazenod besitzt 40 Hektar Land, sie werden von einem Bauern bestellt.

    20 Kilometer entfernt liegt Alencon, 29.000 Einwohner, die größte Stadt der Umgebung. Drei Frauen und sechs Männer, im Alter zwischen 30 und 60 Jahren, sitzen schon auf der Terrasse in der Sonne. Menschen, die sich im Internet kennengelernt haben. Eine Frau steht auf, begrüßt Xavier, stellt sich vor: Janique Ladouar, rotbraun getöntes Haar, blauer Rollkragenpullover, beige Hose, schreibt hin und wieder für Zevillage, jetzt trifft die etwa 60-Jährige den Gründer des virtuellen Dorfes zum ersten Mal.

    "Zevillage und die Idee, die Telearbeiter in dieser Gegend zu begleiten - das ist sehr nützlich. Denn seit ich aufs Land gezogen bin, treffe ich auf Landwirte und Bürgermeister, die sagen: Aber warum haben Sie sich ausgerechnet im letzten Winkel angesiedelt, 500 Meter vom Dorf entfernt? - Weil die Landschaft dort herrlich ist. - Das ist uns egal. Und dann kommt der Stromlieferant EDF und will mitten in die herrliche Landschaft einen Strommast pflanzen."

    Janique Ladouar schleppt eine Reisetasche mit sich und auch ihren Lap-Top. Sie ist eigens aus Paris angereist, denn für ihren jetzigen Job musste sie den Wohnsitz zurück in die Großstadt verlegen. Ihr Landhaus liegt einsam in der Bocage, einer hügeligen Heckenlandschaft, und besitzt immer noch keinen Zugang zum Internet. Darauf kann die Herausgeberin von verschiedenen Websites jedoch nicht verzichten. Dieser Tage hat sie sich auf Zevillage über ihr Verbindungsproblem beklagt - der Text wurde sogleich von anderen Bloggern übernommen und im Netz verbreitet. Janique Ladouar erzählt:

    "Ich bin sicher, dass mein Artikel Folgen haben wird. Bester Beweis: Der Internet-Anbieter hat mich schon kontaktiert, er will neue Tests machen, um zu prüfen, ob ich nicht doch ans Netz angeschlossen werden kann. Ich bin begeistert, dass es Zevillage gibt. Seither fühle ich mich längst nicht mehr so allein."

    WiMax, Wifi, WiFiMax oder Glasfaser…die Telearbeiter unterhalten sich über technische Möglichkeiten, vergleichen die Preise, tauschen Ideen aus. Nicht nur Janique Laudour fühlt sich auf dem Land als Außenseiterin. Zevillage verleiht ein Gefühl der Zugehörigkeit. Die Kellnerin nimmt die Bestellung auf, Xavier de Mazenod bittet um Rosé-Wein für alle.