Da sitzen sie im Weltsaal der Vereinten Nationen. 192 Mitgliedsstaaten. Es ist Freitag der 13. Oktober 2006. Und der damals scheidende UNO-Generalsekretär Kofi Annan tritt vor der großen goldenen Wand ans marmorne Rednerpult.
Er habe sich gewünscht, sagt er unter dem Gelächter der Welt unten im Saal, seinem Nachfolger würde erspart bleiben, was ihm damals bei seiner Wahl passierte. Annan, einst gewählt an einem Freitag dem 13. Aber, es war wieder passiert. Das Datum, Freitag der 13., ein Zufall. Das Prozedere nicht. Auch der damals neue UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon, gewählt per Akklamation.
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen, das Forum, das Gesicht und Stimme der Welt darstellt, es durfte den neuen Generalsekretär nur mehr beklatschen. Keine geheime Wahl. Keine Abstimmung. Keine Mitsprache. Der ehemalige Schweizer Botschafter Paul Seger, nicht der Einzige, der das alles eher befremdlich fand. Die Vereinten Nationen, für ihn verschwinden sie bei der Suche und Wahl des Generalsekretärs so intransparent hinter dicken Mauern wie der Vatikan, wenn es gilt, einen neuen Papst zu wählen:
Intransparenter Wahlvorgang
"Weil in der Vergangenheit die Wahl eines Generalsekretärs ähnlich transparent verlief wie die Ernennung des Papstes. Nur hat es da keinen Vatikan, sondern in den Hinterzimmern des Sicherheitsrats kommt die Entscheidung zustande. Da kommt plötzlich mal weißer Rauch aus dem Sicherheitsrat raus. Und wir als die Übrigen, die nicht im Sicherheitsrat vertreten sind, können am Schluss nur noch applaudieren."
So war es bisher. 70 intransparente Jahre lang. Der Sicherheitsrat, 15 Nationen groß, beriet. Am Ende aber entschieden die fünf ständigen Mitglieder. Russland, China, die USA, Frankreich und Großbritannien. Sie waren und sind das Konklave. Die UNO-Generalversammlung, degradiert zu Jubel-Persern.
Wie das mächtigste UNO-Gremium, der Sicherheitsrat, einen Generalsekretär aussucht, wie diskutiert und gefeilscht wird hinter stets verschlossenen Türen, es ist eins der großen Geheimnisse der UN. Peter Burian war damals – 2006 - junger UNO-Botschafter der Slowakei. Er saß mit am Tisch, als sie Ban Ki-moon beriefen. Für den jungen Diplomaten einer der großen Momente seiner Karriere, sagt er im ARD-Interview:
"Als Neuling war das und ist es noch einer der Höhepunkte meiner Karriere gewesen."
Der Vergleich mit der Papstwahl, Peter Burian, der damals am Ende Ban Ki-moon mitwählen durfte, er findet ihn angemessen:
"Das ist eine gute Beschreibung. Ich hatte auch das Gefühl, wir wählen hier einen Papst."
Alle Vetomächte müssen zustimmen
Jeder künftige Generalsekretär braucht im 15-köpfigen Sicherheitsrat mindestens neun Ja-Stimmen. Darunter aber jede Stimme der fünf Vetomächte. Soll heißen: Die USA, Russland, China, Frankreich oder Großbritannien können jeden noch so geeigneten Kandidaten verhindern. Für den damals jungen, vielleicht naiven UNO-Botschafter der Slowakei ein frustrierendes Erlebnis:
"Es war schon ein bisschen frustrierend. Denn selbst, wenn man einen besseren Kandidaten im Auge hatte, jede Vetomacht konnte diesen qualifizierteren Kandidaten verhindern."
Die Macht der Vetomächte. Ungebrochen bis heute. Aber das Grummeln der Weltgemeinschaft wuchs, schwoll an zu vernehmbarem Protest. Über 90 Nationen in der Generalversammlung wollten mehr Transparenz, mehr Mitsprache. Wollten nicht länger akzeptieren, dass der Chef der Weltregierung namens UNO an der Welt vorbei im Hinterzimmer der Macht gekürt wird.
Die Bewegung "One for seven Billion" entstand, warb mit Briefen, Unterschriften, rief die Welt auf, aufzustehen für mehr Transparenz, appellierte per Instagramm und Twitter und Youtube-Video. Und sie fanden einen großen, den wohl entscheidenden Mitstreiter. Den Präsidenten der 70. Generalversammlung, den knorrigen Dänen Mogens Lykketoft. Anfang März dieses Jahres sitzt er in seinem Büro, zweiter Stock des UNO-Hauptgebäudes in New York, lehnt sich zurück und lächelt das stille Lächeln eines Siegers:
"Dieses Mal haben wir es wirklich geschafft", sagt er, zum ersten Mal in der Geschichte der UNO sei die Wahl des UN-Generalsekretärs ein sehr viel transparenterer Prozess. Per Resolution beschließt die Generalversammlung, die Tür zum Hinterzimmer der Macht wenigstens einen Spalt weit zu öffnen."
Ein Zeitenwechsel? Vielleicht. Ein Aufbruch auf jeden Fall, sagt auch der deutsche UNO-Botschafter Harald Braun:
"Dieses Jahr war es so, dass es erstmals einen Brief gab im Dezember des letzten Jahres, in dem gemeinsam der Präsident der Generalversammlung und die Vorsitzende des Sicherheitsrates die Staaten aufgefordert haben, Kandidaten zu nominieren."
Neuerung: Nominierung von Kandidaten
Eine Premiere. Ausgang offen. Zwölf Kandidaten traten ins Rampenlicht einer früher lichtscheuen Kandidatensuche. Sechs Frauen. Sechs Männer. Und es gibt fortan neue Regeln. Jeder der Kandidaten muss sich der Generalversammlung vorstellen. Rede und Antwort stehen. Eine Art Bewerbungsgespräch. Öffentlich.
Acht UNO-Generalsekretäre gab es bisher. Sie kamen aus Asien, Lateinamerika, Afrika und Europa. Der oder die Neunte aber soll jetzt erstmals aus Osteuropa kommen. Die Russen klagen ein, was geografischer Proporz heißt, aber doch nirgendwo in der UNO-Charta verankert ist.
Zwölf Kandidaten also - traten im April an die Öffentlichkeit. Einzige Voraussetzung: Ein Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen musste sie nominiert haben. Sieben der zwölf stammten aus Osteuropa. Sechs waren Frauen. Denn auch das sollte sich dieses Jahr erstmals ändern. Die Welt und über 60 Nationen der Generalversammlung wollten endlich eine Frau an der Spitze der UNO. Die kolumbianische UNO-Botschafterin Maria Emma Mejia Velez führte an, was mittlerweile als Ruf über alle UNO-Flure hallt: Wir wollen eine Frau. Deutschlands UNO-Botschafter Harald Braun, einer im Chor der vielen:
Viele wünschen sich eine Frau an der UNO-Spitze
"Nach wie vor ist es so, dass wir der Meinung sind, dass es eine historische Gerechtigkeit wäre, wenn auf acht männliche Generalsekretäre jetzt endlich eine Frau folgen würde."
Im April dieses Jahres sitzt Mogens Lykketoft als Präsident in der Generalversammlung. Die Bewerbungsgespräche begannen und er begrüßt eine Kandidatin nach der nächsten im Weltsaal, da wo vor zehn Jahren noch Ban Ki-moon per Akklamation gewählt wurde.
Eine Kandidatin nach der anderen stellte sich und ihre Vision der Vereinten Nationen vor. Eine der Kandidatinnen, Natalia Gherman, ehemalige Außenministerin Moldawiens. Tage vor ihrer Bewerbungsrede sitzt sie im ARD-Studio, optimistisch, dass es diesmal klappen könnte. Vielleicht für sie, ganz sicher aber für eine Frau:
"Ich glaube, es ist höchste Zeit für eine Frau, nächster Generalsekretär der Vereinigten Nationen zu sein. Ich komme aus Osteuropa und ich bin sicher, es ist auch höchste Zeit für uns Osteuropäer für diesen Top-Spitzen-Job zu kämpfen."
Wochen später. Mogens Lykketoft, der dänische Motor für mehr Transparenz, hat die Generalversammlung in ein Fernsehstudio verwandelt. Wieder eine Premiere. Zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinten Nationen gibt es so etwas wie eine öffentliche Kandidatendebatte. Zehn der zwölf treten an, live übertragen weltweit im Fernsehen und Internet.
Zwei Moderatoren. Zehn der zwölf Kandidaten und 193 Nationen als Zuschauer im Saal. Und wieder sind es die Frauen, die für Frauen werben. Unter dem Beifall im Saal sagt Natalia Gherman, wenn die UNO führen wolle durch gutes Beispiel, dann müssten sie dieses Mal eine Frau zur Generalsekretärin wählen.
Nathalia Gherman, die bulgarische UNESCO-Chefin Irina Bokova, die neuseeländische Ex-Premierministerin Helen Clark. Die costa-ricanische UNO-Klimachefin Christina Figueres, die amtierende argentinische Außenministerin Susanna Malcorra und die Ex-Außenministerin Kroatiens, Vesna Pusic, treten an. Als im Juli die Kandidatendebatte im Weltsaal läuft, tritt die Soziologieprofessorin Pusic selbstbewusst ans Pult und sagt, warum die Welt und warum die Vereinten Nationen dieses Mal zum ersten Mal eine Frau brauchen:
"Ich bin eine Frau. Das reicht aber nicht. Ich bin Feministin. Und die UNO wurden 70 Jahre von 50 Prozent der Lebenserfahrung der Menschheit dominiert. Jetzt brauchen wir die anderen 50 Prozent."
50 Prozent der weiblichen Lebenserfahrung aber reichen nicht für sie. Die Feministin unter zwölf Kandidaten. Sie ist die Erste, die aus dem Rennen ausschneidet. Denn trotz aller Transparenz: Die Probeabstimmungen laufen im Sicherheitsrat. Im Juli die Erste. Strow Poll heißt, was über Wohl und Wehe eines Kandidaten entscheidet. Alle 15 Mitglieder des Sicherheitsrates erhalten bei den ersten fünf Probeabstimmungen weiße Zettel. Aus drei Möglichkeiten kann jeder der 15 UNO-Botschafter wählen. Anonym. Niemand weiß, wer wie abstimmt. Er kann den Kandidaten ermutigen. Er kann von der Kandidatur abraten. Er kann sich neutral verhalten.
Fünf Abstimmungen sind angesetzt
Fünf solcher Abstimmungen mit weißen Zetteln sind angesetzt. Die nächste und fünfte am 26. September. Am 4. Oktober dann ändern sich Farbe und Bedeutung. Die fünf Vetomächte erhalten rote Zettel. Das Nein einer Vetomacht für jeden Kandidaten dann sichtbar und zugleich das sichere Aus. Die Welt hatte eine Frau aus Osteuropa gewollt. Aber fünf der sechs Frauen fielen bisher durch. Mogens Lykketoft, der mutige Reformer, nicht der einzige, der enttäuscht ist:
"Es war eine Überraschung für mich und viele andere, dass die weiblichen Kandidaten nicht besser abschnitten. Da wir doch eine so lange Debatte über die Notwendigkeit hatten, eine Frau zu wählen."
Die Weltgemeinschaft wollte eine Frau aus Osteuropa. Favorit aber ist ein Mann aus Portugal. Antonio Guterres. Er war Ministerpräsident seines Landes, er war zehn Jahre UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge. Ein Schwergewicht, ein Insider. Der Platz an der Spitze der Vereinten Nationen, der Beste, das menschliche Leid zu lindern, sagt der rhetorisch beschlagene Profi. Gott habe ihm die Chance gegeben, viele Erfahrungen zu machen, das verpflichte ihn seinerseits zurückzugeben.
Favorit ist Portugiese Antonio Guterres
Vier Probeabstimmungen bisher. Vier Mal landet Guterres vorn. Zuletzt nur zwei Gegenstimmen. Eine davon - offiziell unbestätigt - die Russen. Sie wollen einen Osteuropäer. Putin will Osteuropa oben sehen. Auf Platz zwei derzeit Miroslav Lajcak, amtierender slowakischer Außenminister. Er hat in Moskau studiert. Kommt aus Osteuropa. Eine Frau ist auch er nicht und verärgert viele weibliche Mitglieder der Generalversammlung, als er bei seiner Vorstellung damals sagt, Frauen könnten in der Tat einige Dinge sicher besser. Einiges?, fragt eine Delegierte spitz zurück:
"Ich stimme ihnen zu, Frauen können alles besser. Ich kriege sicher Ärger mit meiner Frau, weil ich gesagt habe, sie könnten nur einiges besser."
Derzeit als einzige Frau mit Restchancen: Irina Bokova. UNESCO-Chefin. Bulgarin. Russlandfreundlich. Dass sie an der Militärparade Moskaus zur Feier des Sieges im Zweiten Weltkrieg teilnahm, während Russland die Krim annektierte, aber haben speziell die Amerikaner im Sicherheitsrat nicht vergessen. Und so rumort es wieder auf den Fluren und in den Hinterzimmern der Macht bei den Vereinten Nationen.
Und der Name einer Kandidatin kursiert, die bisher gar nicht offiziell nominiert ist. Kristalina Georgieva. Sie ist Bulgarin. War Vizechefin der Weltbank, war EU-Kommissarin. Ist derzeit Vizepräsidentin der EU-Kommission. Ein politisches und diplomatisches Schwergewicht auch sie.
Alle hörten die Gerüchte, sagt Mogens Lykketoft, aber es gebe keine offizielle Bewerbung. Einer der 193 Mitgliedsstaaten muss sie vorschlagen. Dass jetzt, zu so einem späten Zeitpunkt, noch eine Kandidatin dazukommen könnte, der deutsche UNO-Botschafter Braun sagt jedenfalls nicht nein:
"Das ist nicht auszuschließen. Ursprünglich waren im Feld mal 12 Personen vertreten, inzwischen sind es noch neun. Nach vier Probeabstimmungen im Sicherheitsrat gibt es keinen Kandidaten und keine Kandidatin, die nicht auch Gegenstimmen bekommen hätten, sodass ich es durchaus für möglich halte, dass in den nächsten Wochen noch der eine oder die andere zu diesem Kandidatenfeld hinzutritt."
Streit um Kandidatin Georgieva
So vehement ist offenbar hinter den Kulissen der Streit um Georgieva entbrannt, dass sich das russische und deutsche Außenministerium sogar öffentlich beschimpfen. Die russische Außenamtssprecherin hatte behauptet, Kanzlerin Merkel habe beim jüngsten G-20 Gipfel in China beim russischen Präsidenten Vladimir Putin für Georgieva geworben. Der Sprecher von Außenminister Steinmeier schießt in Berlin erstaunlich scharf zurück:
"Weil uns das jetzt schon das zweite Mal in wenigen Tagen passiert, dass es da Äußerungen meiner russischen Amtskollegin in Moskau gibt. Wir jedenfalls hier auf dieser Bank halten uns an die Fakten: Das Verfahren läuft zunächst mal im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und dann in der Generalversammlung; aber zunächst im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und da ist Russland von Anfang an ständiges Mitglied. Mir geht es eigentlich nur darum zu sagen, da von offizieller Seite Dinge in die Welt zu pusten, die objektiv falsch sind - wie gesagt, das geschieht schon zum zweiten Mal in wenigen Tagen – das ist kein freundlicher Umgang miteinander."
Kein freundlicher Umgang, aber Teil des Kampfes um den Platz an der Spitze der Vereinten Nationen. Die dringend einen sprachgewaltigen, durchsetzungsfähigen, einen wetterfesten Charismatiker an der Spitze der UNO brauchen. Mit Kandidaten, die den kleinsten gemeinsamen Nenner repräsentierten, würde weder der Sicherheitsrat noch die Welt der Verantwortung gerecht, sagt der deutsche UNO-Botschafter Harald Braun:
"Ich glaube, die Mitglieder des Sicherheitsrates täten sich keinen Gefallen, wenn sie das Kriterium Stromlienenförmigkeit anlegen würden. Deshalb glaube ich, dass es auch im Interesse der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates ist, hier die beste Persönlichkeit zu finden und nicht jemanden zu wählen, der nicht in der Lage wäre, die wichtigsten Ziele der Vereinten Nationen auch umzusetzen."
Noch Hoffnung auf Frau an der Spitze
Im Oktober hat Russland für einen Monat den Vorsitz im Sicherheitsrat. Alle erwarten, dass spätestens dann der oder die neue Generalsekretärin der Vereinten Nationen von Russland der Welt vorgestellt werden wird. Der deutsche UNO-Botschafter hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er in seiner Zeit eine Frau an der Spitze der Vereinten Nationen erleben kann:
"Als Vater von zwei Töchtern würde ich mich darüber besonders freuen."
Egal aber wer am Ende nach zehn Jahren auf den Südkoreaner Ban Ki-moon nachfolgt, für jeden gilt, was Kofi Annan damals 2006 seinem Nachfolger mit auf den Weg gab:
"Sie treten den unmöglichsten Job der Welt an und Sie werden viel Humor brauchen. Also, vergessen Sie nicht, in der Zeit als UNO-Generalsekretär auch Spaß zu haben."