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Suchender Blick nach dem Geheimnis der Details

"Felder", "Ränder" und "Umgebungen" nannte Jürgen Becker drei seiner Bücher, die als experimentelle, offene Textlandschaften damals erhebliches Aufsehen erregten und inzwischen längst zu Signaltexten der westdeutschen Nachkriegsliteratur geworden sind. Am 10. Juli 1932 wurde er in Köln geboren.

Von Christian Linder |
    "Dies waren die Wiesen am Fluss. So verlief der Weg über das Feld. In der Ferne glitzernd die Raffinerie. Hier stand die Bank. Es waren zwei Frauen, zwei Kinder, vorübergehend im Gespräch. Mehr war und geschah nicht. Damals, vor einer Stunde."

    "Damals, vor einer Stunde" – in der Schlusszeile des Gedichts "Zeit verging am Sonntagnachmittag" bricht Jürgen Becker das kleine Stillleben auf, indem er das, was gerade passiert ist, in eine ferne Vergangenheit rückt. Diese überraschenden Überblendungen von Gegenwart und Vergangenheit, die Herstellung von Gleichzeitigkeit zwischen Erinnerungen oder Gefühlen oder Ereignissen von vor einer Stunde und von vor 20 oder 40 Jahren sind das Kennzeichen seiner Lyrik wie seiner Prosa. Solche offenen Textlandschaften hat er von Beginn an entworfen. "Felder", "Ränder", "Umgebungen" heißen drei von Mitte der 1960er bis Anfang der 1970er-Jahre erschienene Prosabücher, in denen Becker sein Schreiben den Zwängen einer Gattung entzogen und statt Anpassung an vorgegebene Formen den Prozess der Verschmelzung dieser Formen vollzogen hat.

    "Mir kam es darauf an, Bewusstseinsbewegungen, also die Ereignisse in meinem Kopf, das Geschiebe der Assoziationen wahrzunehmen, aber ich wollte nicht den Umweg über eine Gattung nehmen, sondern diese Bewusstseinsvorgänge unmittelbar in Sprache übersetzen."

    Wenn Jürgen Becker später auch wieder zur Gedichtform oder klassischen Prosatexten wie "Erzählen bis Ostende" oder "Der fehlende Rest" zurückfand – unvergleichlich blieb sein suchender Blick nach dem Geheimnis der Details, aus denen die Erinnerungen ihre Energien holen. Solches Schreiben als eine Art, zu leben hat, auch den Roman "Aus der Geschichte der Trennungen" hervorgebracht, in dem Becker – am 10. Juli 1932 in Köln geboren – seine Kindheit in Thüringen nachzeichnet, wohin die Eltern 1939 gezogen waren. Die in dem Roman beschriebenen Spuren führen zwar mitten hinein sowohl in Beckers, als auch Deutschlands Vergangenheit, aber:

    "Ich bin ja gar nicht daran interessiert, eine Autobiografie zu schreiben. Mir ging es eher darum, mit der Rückkehr in die Landschaft der Kindheit nach dem zu suchen, was zum Teil verblasst oder verschwunden ist, weshalb die Imagination hinzukommen muss. Und das wäre schon der Tod einer authentischen Autobiografie, wenn nämlich die Imagination anfängt, mitzuwirken. Und all das Fehlende, all die weißen Flecken im Kopf dann erneuert."

    1947 kehrte er nach Westdeutschland zurück, zunächst nach Waldbröl und später wieder nach Köln. Sein Studium hatte er abgebrochen, schrieb stattdessen für den Rundfunk und beteiligte sich seit Ende der 1960er-Jahre mit Hörspielen wie "Häuser", "Bilder" und "Hausfreunde" an der Gestaltung des sogenannten "Neuen Hörspiels". 1974 wurde er Leiter der Hörspielredaktion im Deutschlandfunk und blieb es bis 1993. In diesen Jahren entstanden vor allem zahlreiche Gedichtbände mit Titeln wie "Erzähl mir nichts vom Krieg", "In der verbleibenden Zeit" oder "Odenthals Küste". In der Nähe von Odenthal im Bergischen Land hat er auch ein Haus, das er oft als Ort seines Erzählens benannt hat, ein etwas verdunkelter Ort, wo aber alles Wichtige beisammen sein und sich zeigen müsste. Da sind zum Beispiel Gefühle, die sich immer wieder einstellen, wo immer in der Welt sich der Erzähler auch gerade aufhalten mag:

    "Schulwanderungen, Familienausflüge, Spaziergänge mit Mädchen, Radtouren und Fahrten im Geländewagen, sie hatten in ihm Gefühle hinterlassen, die er noch in fernsten Gegenden, plötzlich, anfallweise, als Heimweh empfand."

    Es gebe die "Dauer eines Schmerzes, den wir nicht mehr spüren", der sich hinziehe "im Schatten glücklicher Jahre, im Echo einer alten Musik", heißt es in einem Gedicht Jürgen Beckers, das eine "Zukunft für Bilder" beschwört: "Wenn niemand mehr", lautet die letzte Zeile, "die Bilder werden erzählen." Eigentlich, hat Jürgen Becker einmal verraten, wollte er Landschaftsmaler werden, aber da ihm das Talent fehlte, habe er in seinem Bilderrausch die Landschaftsbilder in seiner Poesie erfinden müssen. In dem unverwechselbaren Jürgen-Becker-Sound beendet er sein "Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft" denn auch mit einem Bekenntnis zur poetischen Landschaftsmalerei:

    "Es macht wenig Unterschied zwischen dieser und jener Entfernung; es kommt auf die Nähe zu unseren Landschaften an, die so wichtig für die Argumente der Bilder, für die Arbeiten im Gedächtnis sind."