Zu den Seltsamkeiten der Hörbuch-Berichterstattung zählt der Umstand, dass so gut wie nie die ersten Sätze einer CD als Einstieg in die Besprechung taugen. Diesmal aber ist es ganz anders:
"Damals war es so, dass es einen Nachtzug gab, von Straßburg nach Avignon, der kurz nach elf abfuhr. Also in der Stunde vor Mitternacht, ich glaube um 23 Uhr 12 oder 18 ..."
... und mit diesem Zug beginnt eine unerhörte Geschichte. Man weiß nicht, was in der kalten, unwirtlichen Dezembernacht in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschehen wird, aber man weiß, dass man vom ersten Satz an nicht mehr weghören kann.
"Und in Frankreich ist es nicht so, dass sie die Züge ansagen, und der Zug unmittelbar danach fährt, sondern sie sagen die Abfahrt an, und dann steht der Zug manchmal noch sechs, sieben, acht Minuten. Und dann rollt er ganz sacht an."
Peter Kurzeck ist, was es eigentlich nicht mehr gibt, ein geborener Erzähler, dem Geschichten nicht erst unter den Händen zu gefertigter Literatur werden. Wenn er – als Schreibender würde er selbst sagen: ins Unreine – spricht, entstehen aus kleinen Begebenheiten große Ereignisse voller Spannung und Angst, Verzweiflung und Erlösung. Unscheinbare Details brauen eine Atmosphäre aufziehenden Unglücks zusammen. Was etwa führt der Reisende zur Nacht alles mit sich? Gepäck, na klar:
"Eine Reisetasche. Eine Tasche aus Ballonseide, die man ganz klein zusammenlegen kann, aber auch sehr gut vollpacken. Weil ich auf der Rückfahrt immer mehr Gepäck hatte, als auf der Hinfahrt eigentlich, deswegen hatte ich diese Tasche mit. Noch eine kleine Tasche. Dann meinen Mantel dahin gehängt, einen neuen Mantel, den ich auf der Reise zum ersten Mal anhatte. Einen schwarzen Kaschmirmantel – das darf man eigentlich gar nicht sagen! –, den ich mir in Berlin gekauft habe, der im Grunde nach meiner eigenen Vorstellung viel zu teuer war, aber zugleich der einzig richtige Mantel! Und deswegen hab ich ihn doch gekauft. Den hatte ich jetzt zum ersten Mal an, auf dieser Reise, hab ihn dahin gehängt, den Schal auch, dann schon die Reisetasche aufgemacht, wo ich Weihnachtsplätzchen von meiner Schwester drin hatte, und einen Walkman von meiner Tochter, und dachte: 'Wie gut es mir noch geht, dass all diese Gegenstände, die ich jetzt da um mich aufbaue, damit ich sie dann während der Fahrt habe, dass all die von Menschen sind, die mir nah sind.'"
In diesem gemütlichen Kokon gedenkt Peter Kurzeck die Nachtfahrt zu überstehen, doch einem fatalen Impuls folgend, tritt er noch einmal hinaus auf den Perron – genau in jener unkalkulierbaren Zeitspanne zwischen Abfahrtssignal und Anrollen der Waggons. Prompt lässt der Zug nach Avignon die übliche französische Startverzögerung missen und setzt sich in Bewegung. Draußen Peter Kurzeck, drinnen das gesamte Gepäck, der neue Kaschmirmantel, ein Manuskript, Notizen ... die komplette schriftstellerische Existenz. Da hilft nur ein beherzter Satz zum Zug hin.
"Ich bin aufgesprungen, hab aber dann gemerkt, dass die Tür schon diesen Schließimpuls hatte, dachte aber, es gelingt mir, sie noch mal aufzudrücken, diese Tür. Das heißt, ich hab meinen Arm und die Schulter reingeschoben, die passten rein, aber ich konnte nicht mehr einsteigen. So fuhr der Zug mit mir, und ich hab versucht, die Tür aufzudrücken und gemerkt, das geht absolut nicht! Und dann erst fiel mir ein, dass ich hundert Mal gesehen habe, wie diese Türen bei den anfahrenden Zügen erst anrucken, so weit zugehen, wie sie jetzt war, wo noch meine Schulter und der Arm drin waren, und dann erst, wenn er noch ein bisschen schneller ist und dabei ist, aus dem Bahnhof rauszufahren, dass die Türen dann erst mechanisch zugehen."
... mit dem eingeklemmten Erzähler zwischen den Zähnen! Das Hörbuch ist an dieser Stelle etwa eine halbe Stunde alt, und nun weiß man, warum man ohne echte Zielvorstellung einer bis dato pittoresken, aber uneindeutigen Reisegeschichte gebannt gelauscht hat: Alles lief auf diesen entsetzlichen Moment zu, den sich jeder Zugfahrende mit Grausen vorstellen kann. Peter Kurzeck zerdehnt diesen nur wenige Sekunden andauernden Entscheidungsvorgang auf etliche dramatische Erzählminuten und malt sich aus, welche Alternativen er noch hat? Vom sich rasch beschleunigenden Zug abspringen, sich die Beine brechen und das Gepäck in die Dunkelheit entschwinden lassen? Oder bis zum nächsten Halt eingeklemmt mitfahren? Dem Zuhörer läuft es kalt den Rücken herunter, es ist Dezember; schon im Herbst wäre der Fahrtwind unerträglich. Doch er weiß, indem er der Stimme Kurzecks lauscht, der Erzähler muss überlebt haben, der Moment klingt dramatischer, als die Geschichte enden wird. Kurzeck springt ab, bricht sich nicht die Beine und kann zur Rettung seines Gepäcks schreiten. So kurz vor Mitternacht hat nur noch ein Bahnhofsschalter offen, und der dortige Beamte ist alles andere als freundlich:
"Und in dem Moment fing dieser Mensch – vielleicht weil er entweder früher immer Ärger mit seinen Eltern hatte oder jetzt selbst Ärger mit seinen Kindern hat –, fing er an mich zu behandeln, als sei ich sein Sohn. Er sagte: "Da steigt man doch nicht aus! Da bleibt man drin sitzen, wenn man schon ... und bleibt man drin sitzen! Das macht doch kein Mensch, macht so etwas!" Da hab ich gesagt: "Ich fahr auch seit 50 Jahren mit Eisenbahnzügen, und es ist mir zum ersten Mal passiert." Und er sagte wieder: "In so einem Zug bleibt man doch drin!" Und: "Warum machen Sie denn so was?" Dann hab ich gesagt: "Können Sie mir nicht sagen, wo der Zug zuerst hält?"
In Sélestat, 40 Kilometer südlich von Straßburg, also in gerade noch erreichbarer Nähe.
"Und dann hat er irgendwann angerufen dort, und gesagt, also da kommt jetzt in dem Zug das Gepäck angefahren, mich noch mal alles genau gefragt, was es ist. Wahrscheinlich auch, um zu prüfen, ob es wirklich stimmt oder so. Und dann sagte er: "Also wahrscheinlich werden die keine Zeit haben für solche Dummheiten. Aber wenn, dann rufen sie mich zurück. Und im Übrigen", sagte er dann gehässig, "wenn bei uns in Frankreich herrenloses Gepäck gefunden wird, wird der Zug angehalten, und das Gepäck wird gesprengt."
Es gibt ein Happyend, aber das ist gar nicht entscheidend für den Genuss dieses erneut exzeptionellen Erzählprojekts aus dem Supposé-Programm. Peter Kurzeck zuzuhören, wenn er kleinste Beobachtungen des Alltags mit der Leuchtkraft von Symbolen in seinen Erzählstrom einbindet – schon ein Nasenbluten wird da zum Menetekel sozialer Ausgrenzung – macht einfach süchtig. Nach einer Stunde nächtlichen Schreckens möchte man nur zu gerne mehr – ach, das ganze Leben! – von ihm erzählt bekommen. Und selbst der hartnäckigste Buchstabenfreund, dem Gedrucktes über alles geht, weiß nun wieder: Literatur braucht zuerst eine Stimme – dann kommt die Schrift!
Peter Kurzeck: "Da fährt mein Zug". Peter Kurzeck erzählt 1 CD, Supposé, 62 Minuten
"Damals war es so, dass es einen Nachtzug gab, von Straßburg nach Avignon, der kurz nach elf abfuhr. Also in der Stunde vor Mitternacht, ich glaube um 23 Uhr 12 oder 18 ..."
... und mit diesem Zug beginnt eine unerhörte Geschichte. Man weiß nicht, was in der kalten, unwirtlichen Dezembernacht in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschehen wird, aber man weiß, dass man vom ersten Satz an nicht mehr weghören kann.
"Und in Frankreich ist es nicht so, dass sie die Züge ansagen, und der Zug unmittelbar danach fährt, sondern sie sagen die Abfahrt an, und dann steht der Zug manchmal noch sechs, sieben, acht Minuten. Und dann rollt er ganz sacht an."
Peter Kurzeck ist, was es eigentlich nicht mehr gibt, ein geborener Erzähler, dem Geschichten nicht erst unter den Händen zu gefertigter Literatur werden. Wenn er – als Schreibender würde er selbst sagen: ins Unreine – spricht, entstehen aus kleinen Begebenheiten große Ereignisse voller Spannung und Angst, Verzweiflung und Erlösung. Unscheinbare Details brauen eine Atmosphäre aufziehenden Unglücks zusammen. Was etwa führt der Reisende zur Nacht alles mit sich? Gepäck, na klar:
"Eine Reisetasche. Eine Tasche aus Ballonseide, die man ganz klein zusammenlegen kann, aber auch sehr gut vollpacken. Weil ich auf der Rückfahrt immer mehr Gepäck hatte, als auf der Hinfahrt eigentlich, deswegen hatte ich diese Tasche mit. Noch eine kleine Tasche. Dann meinen Mantel dahin gehängt, einen neuen Mantel, den ich auf der Reise zum ersten Mal anhatte. Einen schwarzen Kaschmirmantel – das darf man eigentlich gar nicht sagen! –, den ich mir in Berlin gekauft habe, der im Grunde nach meiner eigenen Vorstellung viel zu teuer war, aber zugleich der einzig richtige Mantel! Und deswegen hab ich ihn doch gekauft. Den hatte ich jetzt zum ersten Mal an, auf dieser Reise, hab ihn dahin gehängt, den Schal auch, dann schon die Reisetasche aufgemacht, wo ich Weihnachtsplätzchen von meiner Schwester drin hatte, und einen Walkman von meiner Tochter, und dachte: 'Wie gut es mir noch geht, dass all diese Gegenstände, die ich jetzt da um mich aufbaue, damit ich sie dann während der Fahrt habe, dass all die von Menschen sind, die mir nah sind.'"
In diesem gemütlichen Kokon gedenkt Peter Kurzeck die Nachtfahrt zu überstehen, doch einem fatalen Impuls folgend, tritt er noch einmal hinaus auf den Perron – genau in jener unkalkulierbaren Zeitspanne zwischen Abfahrtssignal und Anrollen der Waggons. Prompt lässt der Zug nach Avignon die übliche französische Startverzögerung missen und setzt sich in Bewegung. Draußen Peter Kurzeck, drinnen das gesamte Gepäck, der neue Kaschmirmantel, ein Manuskript, Notizen ... die komplette schriftstellerische Existenz. Da hilft nur ein beherzter Satz zum Zug hin.
"Ich bin aufgesprungen, hab aber dann gemerkt, dass die Tür schon diesen Schließimpuls hatte, dachte aber, es gelingt mir, sie noch mal aufzudrücken, diese Tür. Das heißt, ich hab meinen Arm und die Schulter reingeschoben, die passten rein, aber ich konnte nicht mehr einsteigen. So fuhr der Zug mit mir, und ich hab versucht, die Tür aufzudrücken und gemerkt, das geht absolut nicht! Und dann erst fiel mir ein, dass ich hundert Mal gesehen habe, wie diese Türen bei den anfahrenden Zügen erst anrucken, so weit zugehen, wie sie jetzt war, wo noch meine Schulter und der Arm drin waren, und dann erst, wenn er noch ein bisschen schneller ist und dabei ist, aus dem Bahnhof rauszufahren, dass die Türen dann erst mechanisch zugehen."
... mit dem eingeklemmten Erzähler zwischen den Zähnen! Das Hörbuch ist an dieser Stelle etwa eine halbe Stunde alt, und nun weiß man, warum man ohne echte Zielvorstellung einer bis dato pittoresken, aber uneindeutigen Reisegeschichte gebannt gelauscht hat: Alles lief auf diesen entsetzlichen Moment zu, den sich jeder Zugfahrende mit Grausen vorstellen kann. Peter Kurzeck zerdehnt diesen nur wenige Sekunden andauernden Entscheidungsvorgang auf etliche dramatische Erzählminuten und malt sich aus, welche Alternativen er noch hat? Vom sich rasch beschleunigenden Zug abspringen, sich die Beine brechen und das Gepäck in die Dunkelheit entschwinden lassen? Oder bis zum nächsten Halt eingeklemmt mitfahren? Dem Zuhörer läuft es kalt den Rücken herunter, es ist Dezember; schon im Herbst wäre der Fahrtwind unerträglich. Doch er weiß, indem er der Stimme Kurzecks lauscht, der Erzähler muss überlebt haben, der Moment klingt dramatischer, als die Geschichte enden wird. Kurzeck springt ab, bricht sich nicht die Beine und kann zur Rettung seines Gepäcks schreiten. So kurz vor Mitternacht hat nur noch ein Bahnhofsschalter offen, und der dortige Beamte ist alles andere als freundlich:
"Und in dem Moment fing dieser Mensch – vielleicht weil er entweder früher immer Ärger mit seinen Eltern hatte oder jetzt selbst Ärger mit seinen Kindern hat –, fing er an mich zu behandeln, als sei ich sein Sohn. Er sagte: "Da steigt man doch nicht aus! Da bleibt man drin sitzen, wenn man schon ... und bleibt man drin sitzen! Das macht doch kein Mensch, macht so etwas!" Da hab ich gesagt: "Ich fahr auch seit 50 Jahren mit Eisenbahnzügen, und es ist mir zum ersten Mal passiert." Und er sagte wieder: "In so einem Zug bleibt man doch drin!" Und: "Warum machen Sie denn so was?" Dann hab ich gesagt: "Können Sie mir nicht sagen, wo der Zug zuerst hält?"
In Sélestat, 40 Kilometer südlich von Straßburg, also in gerade noch erreichbarer Nähe.
"Und dann hat er irgendwann angerufen dort, und gesagt, also da kommt jetzt in dem Zug das Gepäck angefahren, mich noch mal alles genau gefragt, was es ist. Wahrscheinlich auch, um zu prüfen, ob es wirklich stimmt oder so. Und dann sagte er: "Also wahrscheinlich werden die keine Zeit haben für solche Dummheiten. Aber wenn, dann rufen sie mich zurück. Und im Übrigen", sagte er dann gehässig, "wenn bei uns in Frankreich herrenloses Gepäck gefunden wird, wird der Zug angehalten, und das Gepäck wird gesprengt."
Es gibt ein Happyend, aber das ist gar nicht entscheidend für den Genuss dieses erneut exzeptionellen Erzählprojekts aus dem Supposé-Programm. Peter Kurzeck zuzuhören, wenn er kleinste Beobachtungen des Alltags mit der Leuchtkraft von Symbolen in seinen Erzählstrom einbindet – schon ein Nasenbluten wird da zum Menetekel sozialer Ausgrenzung – macht einfach süchtig. Nach einer Stunde nächtlichen Schreckens möchte man nur zu gerne mehr – ach, das ganze Leben! – von ihm erzählt bekommen. Und selbst der hartnäckigste Buchstabenfreund, dem Gedrucktes über alles geht, weiß nun wieder: Literatur braucht zuerst eine Stimme – dann kommt die Schrift!
Peter Kurzeck: "Da fährt mein Zug". Peter Kurzeck erzählt 1 CD, Supposé, 62 Minuten