Bei diesem Buch fängt man am besten mit dem Ende an. Denn erst im Nachwort stehen Hintergrundinformationen, die wesentlich sind für ein Buch über die Generation nach der Apartheid. So erfährt man, dass die Autorin Melanie Verwoerd von Buren abstammt. Das sind jene europäischen Siedler, mit denen die Apartheid in Südafrika begann. 1994 war die Autorin Teil des Parlaments von Nelson Mandela und schrieb an Südafrikas Verfassung mit. Co-Autor Sonwabiso Ngcowa ist in den 1980er Jahren als Schwarzer in einem Township aufgewachsen - einer jener Wohnsiedlungen, die unter der Apartheid nach Rassen getrennt wurden. Hierdurch erst versteht sich, was die Autoren im Vorwort nur anmerken.
"Wir wollten wissen, wie anders man lebt, wenn man nach 1994 geboren, nicht in der offiziellen Apartheid aufgewachsen ist. Auf ganz persönlicher Ebene haben wir uns gefragt, ob diese Generation andere Träume und Erwartungen hat als wir damals, in ihrem Alter."
Sie widmen sechzehn Kapitel jeweils einer Person oder einem Geschwisterpaar. Geradeheraus erzählen die jungen Erwachsenen darin von ihrem Leben. Und das tun sie ohne Punkt und Komma, ohne Zusammenhang und Gewichtung von bedeutenden oder weniger bedeutenden Ereignissen – so wie junge Erwachsene eben sprechen. Das macht den Reiz dieser Erfahrungsberichte aus, die den Leser mitten in das Leben der Protagonisten ziehen. Wie in das eines Schwarzen, der sich an seine Kindheit in einem Dorf erinnert.
"Mein Schulweg war kurz und führte über den harten, trockenen Boden des Ostkaps. Die anderen Kinder waren so laut, dass ich meine Gedanken kaum verstehen konnte. Doch sobald die Lehrerin auftauchte, wurde es schlagartig still. Wir standen da, und alle Augen richteten sich auf sie. Sie war riesig. Und hatte eine laute Stimme. 'Ist gut, jetzt könnt ihr reingehen', rief sie. Und all die vielen kleinen Füße flitzten zur Tür – in vollem Tempo, denn für uns 30 Kinder gab es nur neun Stühle."
Auffällig sind die kruden Lebenserfahrungen vieler Protagonisten. Sie sind in Armut aufgewachsen, wurden früh vom Vater oder von der Mutter verlassen, einige haben ungeplant ein Kind bekommen. Die meisten haben einen nahen Angehörigen verloren. Eine unter ihnen saß wegen Mordes im Gefängnis.
Die Situation der "freien Generation"
Angesichts dieser drastischen Berichte drängt sich die Frage auf: Sieht so das Leben eines 21-Jährigen in Südafrika heute aus? Hierzu schreiben die Autoren:
"Während des Auswahlprozesses war uns klar, dass wir Gefahr laufen könnten, Stereotypen aufzugreifen, wollten aber keineswegs ein Buch schreiben, das vorgefertigten Meinungen über junge Menschen in unserem Land das Wort redet. Entsprechend haben wir Geschichten ausgesucht, die sich auf ihre ganz eigene Weise von bereits allgemein Bekanntem unterscheiden."
Vielleicht sind die härteren Biographien die besseren Beispiele dafür, wie es um die Demokratie in einem Land steht. Für die üblichen Jugendlichen sieht die Realität in Südafrika nicht sehr viel besser aus. Von den rund 50 Millionen Einwohnern ist die Hälfte unter 24 Jahre alt, von denen ist wiederum die Hälfte dauerhaft arbeitslos. Hauptursache ist die dürftige staatliche Schulbildung vielerorts im Land. Dort fehlt nicht nur Personal, es fehlen auch weitere Unterrichtssprachen neben Englisch, die das kulturelle Leben im Land abbilden, denn in Südafrika gibt es elf offizielle Sprachen. Solche Missstände gleicht auch eine Quotenregelung für die Aufnahme an Universitäten später nicht aus. Der Meinung ist eine weiße privilegierte Studentin.
"Eine Quote ist toll, aber wie soll sich eine vielfältige Kultur leben lassen, solange es bloß eine Unterrichtssprache gibt? Quoten sind wirklich wichtig, aber Quoten allein sind kein wirksames Mittel zur Diversität. Zur Verbesserung der Beziehungen über die Grenzen von 'Rasse' und Geschlecht hinaus muss noch sehr viel mehr unternommen werden."
21 Jahre nach der Apartheid erzählen indirekt viel von 40 Jahren Apartheid, die Berichte der sogenannten "freien Generation" danach erzählen auch viel von ihren Eltern und den Bedingungen, unter denen sie ihre Kinder großzogen.
Das Thema Rasse ist immer noch präsent
Die größte und schwerwiegende Erkenntnis dieses Buchs ist, wie selbstverständlich jeder - die Autoren und die Protagonisten - über das Thema Rasse spricht, als hätte Südafrikas Rassenpolitik 1994 zwar das Parlament verlassen, nie aber den Alltag der Menschen. Vielleicht erklärt das den Überdruss dieser jungen Erwachsenen, von denen einer sagt:
"Wir erwarten, dass uns die Dinge in den Schoß fallen. Oder dass die Leute von der Regierung zu uns nach Hause kommen und nachschauen, ob wir Arbeit brauchen und so weiter. Und die Leute von außerhalb, die kommen hierher, wissen, was sie wollen, und legen sich dafür ins Zeug. Und sie kriegen es. Deshalb bekommen sie auch die Jobs. Den Südafrikanern ist eine Menge versprochen worden. Und sie warten immer noch darauf. Darum lehnen sie sich zurück."
Eingängig sind Sichtweisen wie diese, weil sie von denen kommen, die sie erfahren, von jenen, deren Stimme oft ungehört bleibt.
Die Schwierigkeiten der jungen Demokratie
Dem Buch hätte aber mehr Kontext durch Zahlen und Fakten gutgetan, um die Stimmen nicht im leeren Raum verhallen zu lassen. Dass die beschriebenen Lebenswelten sich mit wesentlichen Gesetzen der jungen Demokratie nicht decken, liest man nur nebenbei. Der Vorteil der deutschen Ausgabe ist deshalb das sehr knappe, aber dafür informative Nachwort, das ein Jahr später von einem anderen Autor geschrieben wurde. Es berichtet etwa von einem plötzlichen Protest gegen hohe Studiengebühren, den Studierende kurz nach Bucherscheinung erfolgreich geführt haben. Ein konkretes Beispiel dafür, wie und an welcher Stelle Demokratie in Südafrika gelingen kann.
Und dies steht in gewisser Weise im Kontrast zum Rest des Buches. Denn auch wenn die Autoren sich mit Interpretationen zurückhalten, durch die Themensetzung wird deutlich, welche Botschaft sie vermitteln wollen: Damit in Südafrika Demokratie gelingen kann, müssten Aspekte der Identität, vor allem Herkunft und Geschlecht, geschützt werden. Eine These, die schon einer der Protagonisten in Frage stellt - ein junger Mann, der wegen seines islamischen Vornamens und englischen Nachnamens ständig mit Identitätsfragen konfrontiert wird.
"Im Prinzip habe ich noch nie richtig das Gefühl gehabt, irgendwo dazuzugehören. langsam arrangiere ich mich damit. Selbst hier. Ich habe einen anderen Akzent, der verrät mich, aber es stört mich nicht besonders. Wenn mir das Leben hier gefällt und ich tun kann, was ich will, wozu ist es dann überhaupt wichtig, dazuzugehören?"
Melanie Verwoerd, Sonwabiso Ngcowa: "Südafrika mit 21. Die erste freie Generation erzählt"
Peter Hammer Verlag, 202 Seiten, 19,90 Euro.
Peter Hammer Verlag, 202 Seiten, 19,90 Euro.