Amy Zayed: Brett Anderson und Mat Osman: Als ich das Album zum ersten Mal gehört habe, hatte ich drei Assoziationen im Kopf: Nostalgie, Suizid und England. War das Absicht?
Brett Anderson: Das war definitiv unsere Absicht. Es geht in dem Album um Geburt und Jugend, um das Altern und den Tod und um alles, was dazwischen liegt. Alle die großen wichtigen Themen. Vor allem aber geht es auch um Familie.
Zayed: Normalerweise schreiben die Leute ja eher über Beziehungen oder verlorene Liebe. Warum wollten Sie es diesmal anders machen?
Anderson: Ich habe schon so viele Songs über romantische Beziehungen geschrieben. Ich wollte mal über andere Beziehungen schreiben, vor allem familiäre. Ich glaube, das hat viel damit zu tun, dass ich selbst Vater geworden bin. Daher geht es auf der Platte viel darum, was Eltern fühlen. Als Eltern denkt man anders über Familie. Ich denke seitdem auch über meine eigenen Eltern anders. Das Klischee, dass sich alles ändert, wenn man Vater oder Mutter wird, ist absolut richtig. Ich persönlich denke seither anders über mein Leben – und auch darüber, wie ich als Songwriter fühle. Es hat mir eine neue Inspirationsquelle für Songs gegeben.
Zayed: Einiges auf dem Album ist ganz schön düster. Vor allem textlich. Da geht es um Kindstod, und wie man sich fühlt, wenn man ein Kind verliert. Ich fand es ganz schön gruselig.
Anderson: Der Film ist noch düsterer als das Album. Das Album sollte auch nicht ganz so düster sein. Doch der Film musste so sein. Er musste einfach gestrickt sein, damit man ihn versteht. Es macht keinen Sinn in einem Film, der keine Dialoge hat, zweideutig zu sein. Deshalb musste der Tod des Kindes so klar dargestellt werden. Das war auch für mich befremdlich. Aber es war notwendig, damit der Film funktioniert und damit der Zuschauer versteht, warum das Leben des Protagonisten auseinanderbricht.
Zayed: Woher kam die Idee überhaupt, einen Film zum Album zu machen? Das ist ja schon relativ ungewöhnlich, oder?
Mat Osman: Es lag einfach daran, dass wir keine Lust hatten Musikvideos zu machen. Es gibt nichts Schwierigeres als Videos. Wir haben dieses Album als ein langes Werk geschrieben, das man am besten auch als Ganzes hören sollte. Und plötzlich mussten wir dann wieder über Musikvideos und Singles und all diesen Quatsch reden, und da dachten wir: Ach Du liebe Zeit, jetzt müssen wir wieder zu diesem blöden Format zurückkehren und das schöne Album auseinandernehmen. Und dann haben wir mit den Verantwortlichen gesprochen, die uns dann gefragt haben, wie wir diese Videos denn machen wollen, und wir haben gefragt: Können wir denn nicht ein ganz langes Video machen, was sich über das ganze Album ausdehnt, sodass der Hörer sich irgendwie ein Gesamtkunstwerk anhören und anschauen kann? Und man hat uns geantwortet: Das nennt man einen Film. Also gut haben wir gesagt: Dann machen wir eben einen Film! Es war nicht besonders schwierig und es war nichts, was wir schon lange im Kopf hatten. Es war nur unsere Art zu zeigen, dass dieses Album als Ganzes wahrgenommen werden soll. Es ist einfach nur die Interpretation eines anderen Menschen, eine andere Sichtweise auf das Album als unsere eigene. Sie ist auch nicht mehr oder weniger wert, als die Interpretation, die wir im Kopf haben. Es ist nur spannend, zwei verschiedene Interpretationen des Albums zur gleichen Zeit zu haben. Das Album selbst, und den Film.
Zayed: Was ist so schwierig an der Bühnenshow für dieses Album?
Osman: Dass der Film zur gleichen Zeit läuft. Und dass das Album eins zu eins gespielt werden muss. Wir sind nicht gerade Organisationstalente was das angeht. Wir müssen während der Show auf kleinen Podesten stehen, sonst würden nur unsere Köpfe im Sichtfeld sein. Das ist wahrscheinlich das Schwierigste an all dem.
Zayed: Wie machen Sie das denn, dass sich das Ende des Films direkt mit Ihrem Live-Set deckt? Oder nehmen Sie immer nur kleine Schnipsel aus dem Film während Sie das Album spielen?
Osman: Nein, wir spielen das ganze Album und es läuft der ganze Film.
Zayed: Und was passiert, wenn Sie etwas schneller spielen als der Film?
Osman: Dann haben wir einen netten Herrn, der den Film einfach schneller abspielt. Der arme Mann wurde ganz grau, als ihm bei der ersten Aufführung klar wurde, wie sehr und wie oft wir manchmal vom Album abweichen.
Zayed: Das Album weist einige Elemente auf, die an Ihre früheren Platten erinnern. Es hat alles ein bisschen 90er-Jahre-Stil. Es erinnert zum Beispiel an Ihr Album "Dog Man Star".
Osman: Es war garantiert nicht beabsichtigt, so zu klingen. Aber irgendwie ist es in unserer DNA. Ich glaube, das hat einfach etwas mit der Chemie der Band zu tun. Das ist der Sound, den wir machen, wenn wir fünf zusammen in einem Raum sind. Klar war auch ein bisschen Nostalgie mit im Spiel. Eine Erinnerung an das Goldene Zeitalter von Musikalben, die einen besonderen Ehrgeiz und eine Trangweite hatten, wie etwa Kate Bushs "Hounds of Love". Es geht um eine allgemeine Nostalgie, um die Erinnerung an eine Zeit, wo es nicht allein nur darum ging, wie man sich am schnellsten in die Charts katapultiert.
Zayed: War dieses Album einfacher zu produzieren als "Bloodsports"? Ich erinnere mich, kurz vor Erscheinen der Platte "Bloodsports" mit Ihnen gesprochen zu haben und da haben Sie mir erzählt, dass sie ein bisschen Bammel davor hatten, nach all den Jahren wieder mit einem neuen Album auf der Bildfläche zu erscheinen, wenn man nicht weiß, wie die Fans reagieren würden.
Anderson: Ja, ein bisschen. Aber nur ein ganz kleines bisschen. Jedes Album ist schwierig, besonders in diesem Abschnitt unseres Lebens. Wenn man 20 ist, kommen einem die Ideen irgendwie schneller. Wenn man älter ist, hat man zu viele Erfahrungen gemacht. Man weiß, wie man gute Resultate erzielt, man weiß, was gut und was nicht gut klingt. Wenn man jung ist, schreibt man einfach drauflos und es sprudelt aus einem heraus. Man packt das einfach auf eine Platte und damit hat es sich. Heutzutage ist man da etwas vorsichtiger. Was natürlich nicht immer schlecht sein muss.
Osman: Viele Dinge, die man mit 20 macht, macht man zum ersten Mal. Die erste Ballade schreiben zum Beispiel oder den ersten längeren Song. Aber wenn man älter wird, dann will man natürlich die Dinge tun, von denen man weiß, dass man sie gut kann. Aber man will nicht das gleiche machen, was man schon mal gemacht hat. Es wird dadurch natürlich immer schwieriger, Nischen für uns zu finden. Es ist schwer, heutzutage noch einen interessanten Platz für Suede zu finden. Es gibt nicht mehr nur The Suede von vor 20 Jahren. Und das ist schwierig.
Zayed: Hat die Tatsache, dass sie, Brett Anderson, Vater geworden sind, ihre Perspektive auf das Leben verändert? Sie sind viel unterwegs, sehen ihr Kind nicht oft, und da draußen ist eine sehr gefährliche Welt, wie wir nach den Anschlägen in Paris gesehen haben.
Anderson: Man wird sich bewusst, was es bedeutet, für jemand anderen Verantwortung zu übernehmen, als nur für sich selbst. Man erkennt, dass das Leben ganz schnell zu Ende sein kann. Das ist auch eine der Hauptaussagen des Albums.
Zayed: Wenn Sie unterwegs sind, verpassen Sie ja auch einen kleinen Abschnitt im Leben oder der Entwicklung ihres Kindes.
Anderson: Dessen bin ich mir sehr bewusst, und deshalb mache ich auch keine langen Touren mehr. Als wir auf unserer vergangenen Europatour waren, habe ich sichergestellt, dass wir zwischendrin fünf Tage Pause hatten, damit ich nach Hause zu meinem Sohn konnte. Das hätte ich früher niemals gemacht. Manchmal stehe ich auch einfach um vier Uhr morgens auf und fliege für ein paar Stunden nach Hause, wenn wir keinen längeren Aufenthalt haben können. Ich will einfach nicht, dass mein Kind aufwächst und mich irgendwann nicht mehr erkennt. Aber keiner von uns will je wieder diese 18-monatelangen Touren machen. Wir machen kurze Touren, oder fahren auf Festivals oder für ein paar Wochen nach Asien. Das hat aber nicht nur damit zu tun, dass ich jetzt Vater bin.
Osman: Nachdem klar war, dass wir wieder Alben aufnehmen und touren wollen, haben wir relativ früh beschlossen, dass wir nicht wieder in dieser Tretmühle landen wollen. Es ist zugegebenermaßen eine sehr angenehme Tretmühle, und darin liegt ja die Gefahr! Man kriegt jeden Tag tolles Frühstück im Hotel, wird hin und her kutschiert. Aber es ist auch total schwer, jedes Konzert zu etwas Besonderem zu machen. Genau das Problem hatten wir bei "A New Morning". Und manchmal musste man sich zwingen, es zu etwas Besonderem zu machen.
Zayed: Ich hatte mir beim Album "A New Morning" 2002 wirklich Sorgen um Sie gemacht. Als ich Sie damals interviewt habe, klangen Sie wie ein Roboter, der seine Fragen auswendig gelernt hat. Oder eine Schallplatte, die sich wiederholt.
Anderson: Ja, ich habe damals krampfhaft versucht, mich selbst zu überzeugen, dass das Album gut ist. Es war für uns alle eine schwierige Zeit. Es war bei weitem unsere schlechteste Platte und wir hätten sie nie veröffentlichen dürfen. Aber um eine Platte rauszubringen, muss man an sie glauben. Ich kann schlecht im Interview sitzen und sagen: Das Album ist richtig schlecht!
Zayed: Spüren Sie denn immer noch das Gefühl, diese Energie, die Rock'n'Roll ausmacht? Sonst kann man doch so einen Song wie das neue Stück "Outsiders" nicht schreiben, oder?
Anderson: Ich glaube sogar noch mehr als früher! Live zu spielen ist nach wie vor aufregend und vital! Wir sind jetzt einfach besser als in den 90ern. Und wir können das auf der Bühne immer wieder beweisen. Die Energie des Rock'n'Roll ist unglaublich. Es klingt wie ein langweiliges Klischee, es wurde schon Millionen Mal gesagt und beschrieben – aber sie ist wirklich unglaublich!
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