Die Stimmen südkoreanischer Migranten, die in politischen Debatten und öffentlichen Diskursen oft übergangen werden, spiegeln das Spannungsfeld zwischen Inklusion und Ausgrenzung im Deutschland der Gegenwart wider.
Der Ausschluss – von Integrationsgipfeln bis hin zu Gedenkforen – formt das Bild dieser Gemeinschaft und sendet auch eine leise, jedoch eindeutige Botschaft gesellschaftlicher Nichtzugehörigkeit an viele kleinere Minderheiten.
Zwischen kulturellen Barrieren der Scham und verdrängten Traumata wie im sogenannten „Hohmanneum-Fall“ - in welchem es um ein Ausbildungszentrum in der südkoreanischen Stadt Naju geht, wo der deutsche Entwicklungshelfer Fritz Hohmann schwere Verbrechen beging - öffnet sich ein Raum für tiefere Reflexion: Wer wird erinnert, wer bleibt unsichtbar – und was sagt dies über das Selbstverständnis einer pluralistischen Gesellschaft?
Martin Hyun ist Politikwissenschaftler und studierte International Business sowie Internationale Beziehungen in den USA, Brüssel und Bonn. Als erster koreanischstämmiger Spieler in der Deutschen Eishockey Liga (DEL) und Junioren-Nationalspieler Deutschlands schrieb er Sportgeschichte. Er setzt sich für Diversität und Inklusion im Sport ein und gründete den gemeinnützigen Verein Hockey is Diversity e.V. Als Autor reflektiert er Identität und Integration mit besonderem Blick auf das deutsch-koreanische Spannungsfeld. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Lautlos – Ja Sprachlos – Nein: Grenzgänger zwischen Deutschland und Korea (2008), Ohne Fleiß kein Reis – wie ich ein guter Deutscher wurde (2012) und die Gebrauchsanweisung für Südkorea (2018). Sein aktuelles Buch, Gebrauchsanweisung für Nachbarn (2024), das er gemeinsam mit seinem Freund Wladimir Kaminer schrieb, war auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Als ich am 31. Oktober 2024 im nordrhein-westfälischen Landtag in Düsseldorf zu einer Feierstunde eingeladen war, um die erste Generation von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern zu ehren, durfte ich als Sohn südkoreanischer Gastarbeiter der zweiten Generation über unsere Geschichte sprechen. Nach der Veranstaltung trat Rainer Schmeltzer von der SPD und Vizepräsident des Landtags auf mich zu und gestand, dass weder er noch die Ministerin für Integration, Josefine Paul von den Grünen, die Geschichte der südkoreanischen Gastarbeiter kannten. Aber gerade in Nordrhein-Westfalen und Düsseldorf nahm die Geschichte des südkoreanischen Anwerbeabkommens, das am 16. Dezember 1963 zwischen der Bundesrepublik und Südkorea besiegelt wurde, ihren Lauf. Diese Aussage hat mich tief berührt, denn sie war ehrlich und repräsentativ zugleich. Im vergangenen Jahr jährte sich das deutsch‑südkoreanische Anwerbeabkommen zum 60. Mal – ein Jubiläum, das weitgehend unbeachtet, lautlos und unsichtbar blieb. Während wir anderen historischen Ereignissen viel Raum in der Öffentlichkeit und in der Erinnerungskultur einräumen, verblasst die Geschichte der südkoreanischen Gastarbeiter im kollektiven Gedächtnis.
Die Parkuhr, die im Jahr 2024 ihren 70. Geburtstag feierte, erhielt weit mehr mediale Aufmerksamkeit als das Erbe der koreanischen Gastarbeitergeneration in Deutschland.
Dieses Schweigen, das die Geschichte der koreanischen Gastarbeiter umgibt, steht in einem paradoxen Kontrast zu ihrer gesellschaftlichen Relevanz. Es wirft drängende Fragen auf: Welche Geschichten finden in einem Einwanderungsland wie Deutschland Gehör? Welche finden statt? Wessen Lebenswege werden erinnert, anerkannt und sichtbar gemacht? Wie entscheidet Deutschland, welche Geschichten erzählt werden und welche nicht? Und vor allem: Was sagt die selektive Erinnerungskultur über das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland aus?
Zwischen 1957 und 1965 kamen insgesamt 436 japanische Bergleute als Arbeitskräfte in das Ruhrgebiet, die über ein deutsch-japanisches Regierungsprogramm ausgesucht wurden. Als im April 1963 der südkoreanische Botschaftsattaché nach Gesprächen mit seinem japanischen Kollegen die Victor‑Ickern AG in Castrop-Rauxel schriftlich kontaktierte, wurde Interesse bekundet, Koreaner nach dem Vorbild der Japaner in deutschen Bergwerken einzusetzen. Doch während sich das politische Deutschland zunächst sträubte – nicht zuletzt wegen der kulturellen Distanz und der hohen Kosten –, drängte die Bergbauindustrie auf eine Lösung. Arbeitskräftemangel im Kohlebergbau machte eine Abkehr von der ursprünglichen Anwerbepolitik, die südeuropäische Gastarbeiter favorisierte, unausweichlich. Das „Programm zur vorübergehenden Beschäftigung von koreanischen Bergarbeitern im westdeutschen Steinkohlebergbau“ vom 16. Dezember 1963 wurde offiziell mit dem Ziel formuliert, „die beruflichen Kenntnisse der koreanischen Bergarbeiter zu erweitern und zu vervollkommnen.“ Doch in der Realität diente das Abkommen vor allem der Deckung des akuten Arbeitskräftebedarfs im Ruhrgebiet und der Maximierung der wirtschaftlichen Produktivität. Bis 1973, dem Jahr der Ölkrise und des allgemeinen Anwerbestopps, waren die koreanischen Bergarbeiter eine unverzichtbare Ressource geworden. Ihre Tätigkeiten galten als technisch notwendig und unersetzlich, speziell in den engen, steilen Kohleflözen des Ruhrgebiets.
Doch wie gestaltete sich die Realität? Viele südkoreanische Bergarbeiter hatten vor ihrer Ankunft keinerlei Erfahrung im Bergbau, obwohl die männlichen Bewerber zwischen 20 und 35 Jahre über mindestens ein Jahr Erfahrung und Sprachkenntnisse verfügen mussten. Es gab jedoch fast niemanden, der zuvor Erfahrungen im Bergbau gemacht und auch die nötigen Sprachkenntnisse vorweisen konnte. Tatsächlich erfüllte kaum jemand diese Voraussetzungen. Mein Vater auch nicht.
Im Dezember 1970 kam er mit 142 Landsleuten in die Bundesrepublik und wurde der Zeche Oberhausen-Osterfeld zugewiesen. Mein Vater war kein ausgebildeter Bergarbeiter. Er träumte davon zu studieren, eine Karriere im Bankwesen zu verfolgen. Doch die Schrecken der japanischen Kolonialzeit, der Korea-Krieg von 1950 bis 1953 und der Verlust seines Vaters in jungen Jahren zwangen ihn, diesen Traum aufzugeben. Die Arbeit unter Tage bot ihm eine Chance, der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit in Südkorea zu entkommen.
Trotz des offiziellen Anwerbestopps von 1973 kamen bis 1977 weiterhin koreanische Arbeitskräfte nach Deutschland. Die Bundesregierung führte die Anwerbung fort, getarnt als „technische Entwicklungshilfe“. Insgesamt fanden etwa 8.000 südkoreanische Männer ihren Weg in die Zechen des Ruhrgebiets, begleitet von rund 12.000 Krankenschwestern, die ab 1966 in Sammelverfahren angeworben wurden. Diese Frauen, oft romantisierend als „Lotusblüten“ oder „gelbe Engel“ bezeichnet, fanden schnell ihren Platz in einer Gesellschaft, die zunehmend auf Pflegekräfte angewiesen war. Die Bergarbeiter hingegen arbeiteten unter extremen Bedingungen – und oft mit begrenzten Perspektiven. Ein Beispiel für die Herausforderungen der koreanischen Bergarbeiter war Chung Kyung-sup, der 1973 grubenuntauglich wurde. Seine fristlose Kündigung warf Fragen über die rechtliche und soziale Absicherung der Arbeiter auf. Erst durch den Einsatz des SPD-Politikers Hermann Dürr wurde erreicht, dass grubenuntaugliche koreanische Arbeiter Tätigkeiten „übertage“ aufnehmen durften.
Bis 1977 hatten 3.920 koreanische Bergarbeiter Deutschland wieder verlassen. Von ihnen arbeiteten nur noch 260 im heimischen Bergbau in Südkorea, während die Mehrheit sich mit ihren Ersparnissen in Korea selbstständig machte. Damit scheiterte das im Anwerbeabkommen pro forma festgelegte Regierungsziel der „technischen Entwicklungshilfe“. Für viele koreanische Bergarbeiter war die Rückkehr in die Heimat keine Option – sie suchten ihr Glück stattdessen in Ländern wie Kanada, USA oder blieben in Deutschland und gründeten Familien.
Deutschland begreift sich als Einwanderungsland, doch dieser Begriff ist keineswegs selbstverständlich. Dieses politische Bekenntnis war hart umkämpft. Noch immer ist die gesellschaftliche Haltung vielfach geprägt von der Vorstellung, Deutschland sei kein klassisches Einwanderungsland wie etwa die USA. Während dort Migration seit Jahrhunderten als fundamentaler Bestandteil nationaler Identität gilt, bleibt sie hier oft ein Thema der Kontingenz, des Pragmatismus – und nicht der Selbstverständlichkeit. In meiner Zeit in den USA – von 1998 bis 2003 in Minnesota, New York und Vermont – wurde mir klar, dass die Diskussion über Herkunft dort viel weiterentwickelter ist. Die oft gestellte „Woher kommst Du?“-Frage vermutete nicht nur einen anderen amerikanischen Bundesstaat, sondern öffnete den Blick auf eine Gesellschaft, die Migration als gelebte Realität anerkennt.
Die selektive Erinnerungskultur zeigt, wie schwierig es ist, das Ideal einer pluralistischen Erzählung zu etablieren. Und das Beispiel der südkoreanischen Gastarbeiter, deren 60. Jubiläum im vergangenen Jahr nahezu unbemerkt verstrich, ist mehr als ein symbolischer Auslass: Es ist ein Spiegel gesellschaftlicher Schieflagen. Ist es nicht ein Verrat an der Idee des Einwanderungslandes, Geschichten hierarchisch zu ordnen?
Die Würdigung des 60. Jubiläums des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens im Jahr 2021 war ein eindrucksvolles Beispiel für die Kraft einer konzertierten Aktion zwischen Politik, Medien und Öffentlichkeit. Dieses Jubiläum wurde nicht nur begangen – es wurde gefeiert, zelebriert, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Republik gerückt. Jeder wusste davon. Festakte mit hochrangigen politischen Vertretern, Ausstellungen, die die Geschichten der ersten Generation türkischer Gastarbeiter erzählten, und Dankesreden, die ihren Beitrag zur Gesellschaft würdigten, waren omnipräsent. Die Medien berichteten umfassend, das Narrativ fand Eingang in Talkshows, Dokumentationen und Schulmaterialien. Es war eine nationale Anstrengung, die Bedeutung dieser Migrationserfahrung in das kollektive Bewusstsein zu rücken und ihr einen verdienten Platz in der Erinnerungskultur zu verschaffen.
Der Bundespräsident empfing damals Nachfahren türkischer Gastarbeiter im Schloss Bellevue und erklärte:
„Die Geschichten der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter verdienen einen angemessenen Raum in unseren Schulbüchern und in unserer Erinnerungskultur; eine Randnotiz wird ihrem Beitrag für unser Land nicht gerecht. Erst wenn ihre Geschichten verbreitet sind, wenn wir ihre Geschichten kennen, wenn wir ihre Geschichten als integralen Teil der Geschichte dieser Republik behandeln, erst dann verstehen wir unser aller Geschichte. Sie haben Deutschland mit aufgebaut – Sie haben unser Land bereichert, wirtschaftlich, aber vor allem menschlich!“
Doch diese Worte blieben den südkoreanischen Gastarbeitern und ihren Nachfahren im vergangenen Jahr, als ihr 60. Jubiläum anstand, verwehrt. Kein Festakt, keine Rede, kein öffentlicher Dank. Stattdessen erteilte das Bundespräsidialamt den Lebensleistungen der südkoreanischen Gastarbeiter eine Absage, jegliche Würdigung für das Jubiläum zu unternehmen.
Warum blieb diese konzertierte Aktion aus, als es 2023 um das Jubiläum der südkoreanischen Gastarbeiter ging? Wo war die breite gesellschaftliche Anerkennung? Wo waren die Ausstellungen, die medialen Narrative, die politischen Bekenntnisse?
Haben die südkoreanischen Gastarbeiter keinen angemessenen Raum in unseren Schulbüchern und in der Erinnerungskultur verdient?
Und auch das vom Sozialdemokraten Hubertus Heil geführte Bundesarbeitsministerium, das mit Reisen nach Brasilien, Indien, Kenia und Vietnam intensiv um Fachkräfte wirbt, zeigte für das 60-jährige Anwerbeabkommen mit Südkorea keinerlei Anerkennung. Nicht einmal eine Videogrußbotschaft des Ministers, nach der ich schriftlich anfragte, war diesem bedeutenden Jubiläum gewidmet – eine Absage. Insgesamt dauerte es fünf Monate, bis das Bundesarbeitsministerium mir mitteilte, dass „das BMAS keine Aktivitäten zum 60. Jubiläum der beiden Deutsch-Koreanischen Anwerbeabkommen plant.“ Die Anwerbung der neuen Pflegefachkräfte könnten gerade die Erfahrungen aus der Vergangenheit bei der aktuellen Anwerbung südkoreanischer Pflegekräfte als wertvolle Lehre dienen.
Im April 2024 nahm Bundespräsident Steinmeier während eines Staatsbesuchs in der Türkei einen Dönerspieß und türkischstämmige Deutsche mit, um die Lebensleistung der türkischen Gastarbeitergeneration zu würdigen. Er erklärte:
„dass die Millionen Geschichten türkisch-deutscher Einwanderer Teil unserer Geschichte sind. Sie sind nicht Menschen mit Migrationshintergrund – Deutschland ist ein Land mit Migrationshintergrund.“
Diese Geste und Worte haben eine starke Symbolkraft. Doch sie werfen zugleich eine zentrale Frage auf: Wenn wir die Geschichten der einen feiern, welche Botschaft senden wir dann an die, deren Vermächtnis übersehen wird?
Während in Deutschland die südkoreanischen Gastarbeiter als unsichtbare Akteure der Migrationsgeschichte verbleiben, erfahren sie in ihrer längst fremd gewordenen Heimat Anerkennung. Zum 60. Jahrestag des deutsch-koreanischen Anwerbeabkommens lud Präsident Yoon Suk-yeol 240 ehemalige südkoreanische Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter zu einem Luncheon in Seoul ein, um ihre Verdienste zu würdigen. Dort verneigte sich Präsident Yoon vor ihren Lebensleistungen und versprach:
„Wir werden ihren Schweiß und ihre Opfer im Namen der Nation ehren und für immer in Erinnerung behalten."
Währenddessen organisierten die Betroffenen in Deutschland eben ihre eigene Feier, initiiert vom Bundesverband der Koreaner in Deutschland. Etwa 400 ehemalige Bergarbeiter und Krankenschwestern kamen in Essen zusammen, um ein Jubiläum zu begehen, das kaum über die Grenzen ihrer eigenen Gemeinschaft hinaus wahrgenommen wurde. Kein hochrangiger deutscher Politiker nahm teil, kein Bundespräsident war anwesend, und auch die deutschen Medien schenkten diesem Ereignis keine Aufmerksamkeit.
Doch ein weiterer Blick nach Südkorea zeigt, wie anders Erinnerungspolitik gestaltet werden kann. Auch die institutionelle Erinnerungspolitik trägt dort entscheidend zur Sichtbarkeit dieser Geschichte bei: Das National Museum of Contemporary Art in Seoul beherbergt eine permanente Ausstellung, die das Leben und die Erfahrungen der südkoreanischen Gastarbeiter dokumentiert. Hier wird ihre Geschichte nicht nur bewahrt, sondern als Teil der nationalen Identität verankert. Sie bleibt präsent im kollektiven Gedächtnis. Diese Anerkennung auf nationaler Ebene zeigt aktive Wertschätzung, die sowohl die Vergangenheit würdigt als auch mit der Zukunft verbindet.
Die Geschichten der Vertrags- und Gastarbeitergenerationen sind kein Wettbewerb um Anerkennung. Vielmehr sind sie ein kollektiver Aufruf, die Erinnerungskultur gleichberechtigt zu gestalten und sie als festen Bestandteil der DNA des Landes zu verankern.
Die Geschichte eines Landes ist nicht nur das, woran es sich erinnert. Sie ist auch das, was es vergisst. Die damalige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, etablierte eine Praxis, die viele als diskriminierend empfinden: Koreanische Verbände wurden von den ersten beiden Integrationsgipfeln in den Jahren 2006 und 2007 ausgeschlossen. Ihre Begründung: „Die Gruppe der Deutsch‑Koreaner in Deutschland ist nicht sehr groß und ihre Integration weitgehend gelungen.“ Dabei verwies sie auf zahlenmäßig größere Gruppen wie die Deutsch‑Vietnamesen und Deutsch-Chinesen, die aufgrund ihrer „bedeutend größeren Zahl“ vertreten waren.
Diese Einschätzung einer „gelungenen Integration“ fußte jedoch auf keiner belastbaren empirischen Grundlage, sondern entsprang allein subjektiven Eindrücken. Die Zugänge zu gleichberechtigter Teilhabe, Sichtbarkeit und politischer Repräsentation werden in Deutschland offenbar bedarfsorientiert und selektiv verwaltet. Ist das wirklich das Selbstverständnis einer modernen Einwanderungsgesellschaft?
Erst nach erheblichem politischem Druck wurde ein koreanischer Verband im Jahr 2008 zum dritten Integrationsgipfel eingeladen – ein symbolischer Akt, da der Nationale Aktionsplan für Integration zu diesem Zeitpunkt bereits verabschiedet war.
Die von Böhmer eingeführte strukturelle Diskriminierung koreanischer Verbände und der Ausschluss von politischer Partizipation setzen sich bis heute fort – auch unter ihren Nachfolgerinnen. Dies wirft grundlegende Fragen auf: Welche Rolle spielt die Größe einer Minderheit in der Frage ihrer Repräsentation? Und wie glaubwürdig ist eine Einwanderungsgesellschaft, die Partizipation und Teilhabe so selektiv gestaltet?
Das Beispiel zeigt, wie die symbolische Einladung koreanischer Verbände nicht nur verspätet, sondern auch wirkungslos blieb. Es verdeutlicht die Notwendigkeit einer konsequent inklusiven Integrationspolitik, die nicht von Zahlen oder subjektiven Einschätzungen abhängt, sondern allen Gruppen die gleiche Teilhabe ermöglicht – unabhängig von ihrer Größe.
Im politischen Diskurs wird die südkoreanische Community in Deutschland selten sichtbar – und wenn doch, dann meist in einer Art und Weise, die ihre Position als sogenannte „Vorzeigeminderheit“ zementiert. So nutzte der Journalist Jan Fleischhauer die Community im August 2023 auf seinem X-Account für eine polarisierende Gegenüberstellung:
„Es heißt, wir hätten ein Integrationsproblem. Dem würde ich widersprechen. Wir haben kein Problem mit Chilenen, die zu uns kommen. Oder Koreanern. Oder Vietnamesen. Wir haben ein Problem mit Zuwanderern aus türkischen, afghanischen und arabischen Familien.“
Fleischhauers Aussage illustriert, wie die südkoreanische Community immer wieder als Vorzeigebeispiel herangezogen wird, um eine Grenze zwischen vermeintlich „guten“ und „schlechten“ Migrantengruppen zu ziehen. Ähnlich wie bei Maria Böhmer basiert Fleischhauers Aussage auf seiner subjektiven Wahrnehmung. Diese rhetorische Strategie betont die Anpassung an die deutsche Mehrheitsgesellschaft als Erfolgsmaßstab und reduziert Migration auf eine Kosten-Nutzen-Logik, die nicht nur spaltet, sondern auch problematische Narrative reproduziert.
Dabei liegt die Leistung der Vorzeigeminderheit weniger in einer angeblich inhärenten Überlegenheit als vielmehr in einer systemischen Ausblendung ihrer Herausforderungen. Diskriminierungserfahrungen, fehlende politische Repräsentation oder strukturelle Barrieren – all dies bleibt im Schatten einer idealisierten Erfolgsstory. Das Narrativ der Vorzeigeminderheit stilisiert asiatische Communities – in diesem Fall die koreanische – pauschal als privilegiert und erfolgreich. Es perpetuiert die schädliche Vorstellung, dass Koreaner keine soziale Unterstützung oder politische Fürsprache benötigen, um gegen systemische Diskriminierungen anzukämpfen. Koreaner werden oft mit positiven Stereotypen wie „dienstbeflissen“, „fleißig“ und „gehorsam“ assoziiert.
Persönlich habe ich als Koreanischstämmiger Rassismus in drei Welten erlebt – im Sport, in der Politik und im privaten Bereich. Im Eishockey, einer weißen Sportart, wurde ich selbst in der höchsten deutschen Spielklasse rassistischen Beleidigungen ausgesetzt wie „Schlitzauge“ oder „Reisfresser“. Im Bundestag wurde ich trotz Hausausweises von einer Sekretärin aufgehalten, weil ich ihrer Meinung nach nichts in den heiligen Hallen der Politik verloren habe. Und mit einer weißen Frau verheiratet zu sein bedeutet, regelmäßig rassistische Bemerkungen zu erdulden wie „Asian Toy Boy“.
Diese „Gute Migranten/Schlechte Migranten“-Muster zeigen sich exemplarisch in der Gegenüberstellung des japanischen Viertels in Düsseldorf mit der Sonnenallee in Berlin-Neukölln. Zwei Parallelwelten – die eine wird als harmonisch und vorbildlich inszeniert, die andere als Sinnbild gescheiterter Integration. Doch was sagt diese Dichotomie eigentlich über die Gesellschaft aus, die an diesen Mustern festhält? Das japanische Viertel, das unsichtbar und lautlos bleibt, wird zur Vorlage für ein Modell gelungener Integration stilisiert. Zugleich wird die Sonnenallee, ein Ort lebendiger Vielfalt und Widersprüche, als Problemzone markiert. Solche Vergleiche lenken jedoch davon ab, wie strukturelle Benachteiligungen und Vorurteile das Leben von Migranten unabhängig von ihrer Herkunft prägen.
Die Schattenseiten des Narrativs von der Vorzeigeminderheit sind dabei vielschichtig. Einerseits bleibt unsichtbar, dass auch innerhalb scheinbar harmonischer Gemeinschaften wie der südkoreanischen marginalisierte Stimmen existieren, die keinen Raum finden. Andererseits wird dieses Narrativ instrumentalisiert, um andere Minderheiten zu delegitimieren – als sei der Weg zur gesellschaftlichen Anerkennung ein Wettbewerb, bei dem nur diejenigen gewinnen, die die Regeln der Mehrheit wortlos akzeptieren.
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Migration in Deutschland erfordert, dass wir aufhören, Communities gegeneinander auszuspielen. Eine Einwanderungsgesellschaft, die Teilhabe verspricht, darf keine Vorbilder schaffen, die als Maßstab für andere dienen.
Integration ist kein Nullsummenspiel, und solange wir die Kämpfe einer Gruppe gegen die einer anderen abwägen, verlieren wir den Blick für das größere Ganze.
Ein weiteres Beispiel für die blinden Flecken im kollektiven Gedächtnis Deutschlands ist der Fall Hohmann, der nicht nur die Schattenseiten des „Programms zur vorübergehenden Beschäftigung koreanischer Bergarbeiter im westdeutschen Steinkohlebergbau“ offenbart, sondern auch die Verstrickungen von Diplomatie, Macht und Schweigen.
In der südkoreanischen Stadt Naju wurde damals das Hohmanneum errichtet, ein Ausbildungszentrum, das koreanische Jugendliche nach deutschen Standards für den Arbeitsmarkt qualifizieren sollte. Geleitet von Fritz Hohmann, einem deutschen Ingenieur und Entwicklungshelfer, galt das Zentrum als Leuchtturm der deutsch‑koreanischen Kooperation – eine vermeintliche Brücke aus der Armut hin zu einem besseren Leben. Doch hinter der Fassade des Fortschritts verbarg sich ein düsteres Kapitel, das bis heute kaum aufgearbeitet wurde.
Wie Archivdokumente des Auswärtigen Amts belegen, erhoben bereits 1967 ehemalige Mitarbeiterinnen des Hohmanneums schwere Vorwürfe gegen Hohmann: systematische Manipulation, sexualisierte Gewalt, ein Machtgefüge, das Kinder und Jugendliche gefangen hielt. Der deutsche Botschafter in Seoul konfrontierte Hohmann zwar mit den Anschuldigungen, doch die Konsequenzen blieben aus. Diplomatische Interessen überwogen: Die Angst, das Prestige des gemeinsamen Projekts zu gefährden, führte dazu, dass die Vorwürfe als „Schönheitsfehler“ abgetan wurden.
Die Verantwortung der deutschen Seite wird umso deutlicher, wenn man eine Anfrage an das Auswärtige Amt betrachtet, die in diesem Kontext gestellt wurde. Die Antwort lautete sinngemäß: „Wenn die Opfer nicht nach vorne kommen, werden wir nicht handeln.“ Eine bemerkenswerte Haltung, wohlwissend um die konfuzianistisch geprägte Schamkultur in Korea, die viele Betroffene dazu bewegt, das Geschehene mit ins Grab zu nehmen. Diese Aussage zeigt eine tiefgreifende Ignoranz gegenüber kulturellen Realitäten und ein aktives Wegsehen, das im Lichte der historischen Verantwortung Deutschlands besonders schwer wiegt.
Hohmann entzog sich der Aufklärung, versteckte sich, unternahm einen Suizidversuch und gab schließlich seinen deutschen Pass zurück, um die koreanische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Dennoch durfte er weiterhin das Hohmanneum leiten und wurde später sogar mit dem koreanischen Verdienstkreuz ausgezeichnet. Die Stimmen der Betroffenen hingegen verstummten – aus Scham, aus Angst und in der Tradition konfuzianistischer Zurückhaltung.
Es stellt sich die Frage: Wie kann ein Land gleichzeitig solche dunklen Kapitel seiner Geschichte ignorieren und verdrängen?
Bis heute gab es weder eine Entschuldigung noch eine Entschädigung für die Opfer. Stattdessen trägt dieser Fall die Spuren einer verdrängten Schuld, die als symbolisches Fundament in der Geschichte der deutsch-koreanischen Beziehungen liegt.
Die Kulturjournalistin Vivian Perkovic brachte im Gespräch mit dem türkischstämmigen Rapper Brkn eine Metapher ein, die den intergenerationellen Wandel in Migrantenfamilien tiefgreifend beschreibt: Die erste Generation sei die der Soldaten, die ums Überleben kämpfen. Die zweite sei eine von Bauern, die versuchen, etwas aufzubauen. Und die dritte seien Freie, die ihren Weg selbst bestimmen können. Unsere Eltern, die erste Generation südkoreanischer Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, waren Soldaten: dankbar für die Möglichkeit zu arbeiten, selbst wenn diese oft von Ausbeutung und Entbehrung geprägt war. Die zweite Generation jedoch, meine Generation, verlangt mehr. Sie fordert Gleichberechtigung, Partizipation und Sichtbarkeit – nicht als Bittsteller, sondern als gleichwertige Gestalter.
Während viele der ersten Generation südkoreanischer Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter das 70. Jubiläum ihrer Ankunft in Deutschland im Jahr 2033 aus Altersgründen nicht mehr erleben werden, bleibt es uns, der zweiten Generation „Deutsche koreanischer Herkunft“, überlassen, dieses Erbe sichtbar zu machen.
Schweigen war stets ein Kompromiss, ein Pakt, den unsere Eltern schlossen, um in der Fremde zu überleben.
Mit der großen Flüchtlingswelle, die ab 2015 Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland brachte, erhielten neue Stimmen Einzug in den Diskurs über Migration und Integration. Diese Stimmen sind wichtig. Doch in der Aufmerksamkeit für das Neue besteht die Gefahr, dass die alten Stimmen – die der südkoreanischen Gastarbeitergeneration – weiter in Vergessenheit geraten. Die Geschichten dieser ersten Generationen, drohen von den neuen Narrativen überlagert zu werden.
Ich denke zurück an eine Einladung ins Schloss Bellevue, wo ich im Rahmen des Leadership-Programms der Bertelsmann Stiftung an einem Austausch teilnahm. Es war eine seltene Chance, die Unsichtbarkeit der koreanischen Gastarbeitergeschichte vor politischen Entscheidungsträgern und anderen Menschen anzusprechen, die in ihrem Alltag kaum Berührungspunkte mit solchen Themen hatten. Kaum hatte ich begonnen, meine Gedanken zu teilen, wurde ich von der Moderatorin unterbrochen – einer Frau, die selbst eine Migrationsbiografie hatte. Heute kennt man das unter dem Begriff „Silencing“, das bewusste oder unbewusste Zum-Schweigen-Bringen marginalisierter Stimmen. Es war ein ernüchternder Moment, der die Macht von Hierarchien und Voreingenommenheiten in solchen Räumen deutlich machte. Noch ironischer wurde es, als ich erlebte, wie dieselbe Moderatorin dem Politiker Klaus Kinkel großzügig Raum für einen endlosen Monolog ließ, ohne ihn einmal zu unterbrechen.
Dieser Kontrast war mehr als nur frustrierend – er war aufschlussreich. Er zeigte, wie gesellschaftliche Machtverhältnisse darüber entscheiden, wer sprechen darf und wem das Mikrofon entzogen wird. Solche Momente machen klar: Es reicht nicht, Räume für Austausch zu schaffen, wenn die alten Muster des Schweigens darin fortbestehen.
Es gibt nur einen Weg, Unsichtbarkeit zu durchbrechen: Sichtbarkeit. Sichtbarkeit durchbricht Unsichtbarkeit. Sichtbarkeit bedeutet, Geschichten zu hören, zu erzählen und zu bewahren. Sie beginnt mit Hörbarkeit, führt zur Lesbarkeit und mündet schließlich in das, was uns als Gesellschaft verbindet: das kollektive Gedächtnis.
Die Geschichte der südkoreanischen Gastarbeiter in Deutschland ist in der Erzählung dieses Landes – ein Spiegel, der die Widersprüche und Herausforderungen eines Einwanderungslandes offenlegt. In ihrer Unsichtbarkeit liegt eine historische Mahnung: Ohne die Würdigung aller Stimmen bleibt das Selbstbild eines Einwanderungslandes ein unvollständiges und unaufrichtiges Lippenbekenntnis.
Wenn wir wirklich ein Einwanderungsland sein wollen, müssen wir nicht nur die großen, lauten und neuen Geschichten feiern, sondern auch die leisen. Ein Land, das die leisen Geschichten nicht hört, verliert am Ende den Klang seiner eigenen Identität.