Archiv

Südost-Türkei
"EU muss Menschenrechts- verletzungen anprangern"

In der Südost-Türkei sei aufgrund des Konflikts mit der PKK die öffentliche Ordnung gefährdet, sagte Yasar Aydin, Türkei-Experte und Dozent an der HafenCity Universität Hamburg, im DLF. Die Europäische Union müsse hinter der Türkei stehen, wenn es um Sicherheit, territoriale Integrität und öffentliche Ordnung gehe. Doch müsse sie auch aufgrund der Menschenrechtsverletzungen Kritik üben.

Yasar Aydin im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Kurdische Kämpfer an der Grenze von Syrien zur Türkei
    Kurdische Kämpfer an der Grenze von Syrien zur Türkei (AFP / Bülent Kilic)
    Dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ginge es, so der Sozialwissenschaftler Aydin, darum das kurdische Problem zu lösen, ohne die unitäre Struktur des Staates anzutasten. "Offenbar ist er gegen jede Lösung, die über kulturelle Rechte und die Stärkung von Lokalverwaltungen hinausgeht." Der eigentliche Grund des Vorgehens von Erdogan gegenüber der PKK sei "das Fortbestehen der Türkei in ihrer aktuellen Struktur und Grenzen" und, dass sich die "kurdischen Autonomie- und Sezessionsbewegungen in Syrien nicht auf die Türkei ausweiten".
    Die Türkei und Erdogan erfahre durch die Flüchtlingsproblematik derzeit eine internationale Aufwertung, weil das Land bei der Steuerung und Begrenzung irregulärer Migration und Flucht eine Schlüsselposition einnehme. Im Zuge dessen könne die Europäische Union auch keinen Druck auf die Türkei ausüben, so der Sozialwissenschaftler.
    Nachdem der Chef der prokurdischen Partei HDP eine kurdische Selbstverwaltung gefordert hatte, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Ton verschärft. Die oppositioneller Partei HDP habe sich damit hinter die PKK-Sympathisanten gestellt, sagte Aydin. Das dürfe man von einer legalen Partei nicht erwarten. "Sie hätte vielleicht anders reagieren müssen." Aber es sei auch falsch, den ganzen Druck auf diese Partei auszuüben, so Aydin. Nach seiner Ansicht sei die Türkei bei der Lösung des Konflikts auf die Oppositionspartei angewiesen. "Ohne HDP wird es schwierig sein, eine Lösung zu finden."

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Wie kann die weitere Ausbreitung des sogenannten Islamischen Staats verhindert, wie kann er womöglich zurückgedrängt oder sogar geschlagen werden? Die irakische Regierung entwickelte ja in den vergangenen Tagen lange vermisste Aktivitäten. In Syrien hingegen ist die Terrororganisation weiter in der Offensive, und, so jedenfalls bewerten es Experten, der IS wird indirekt sogar gestärkt, zum Beispiel durch die Politik des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, der seit Monaten massiv gegen die kurdische PKK vorgeht. Nach türkischen Angaben sind über 200 Kämpfer getötet worden. Die Kurden aber sind ja bekanntlich diejenigen, die dem IS am meisten Widerstand entgegensetzen. Erdogan hat jetzt auch noch mal den Ton gegenüber der gemäßigten kurdischen Partei HDP verschärft. Gestern drohte er, man werde HDP-Chef Demirtas "eine Lektion erteilen", weil der nämlich eine Autonomie der Kurdengebiete gefordert hatte. Die Justiz, die ermittelt bereits gegen Demirtas. Am Telefon begrüße ich Yasar Aydin. Er ist Türkeiexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik*. Guten Morgen, Herr Aydin!
    Yasar Aydin: Guten Morgen!
    Heckmann: Nutzt Erdogan die Gelegenheit, sich im Windschatten sozusagen der Krise um den IS das Kurdenproblem vom Hals zu schaffen?
    Aydin: Ich sehe da keinen direkten Zusammenhang zwischen der Bekämpfung der PKK durch die türkischen Streitkräfte und einer möglichen Erstarkung des IS. Man muss natürlich dazu sagen, dass für das Erstarken des IS unter anderem die falsche Politik im Irak verantwortlich ist. Der Zusammenbruch gesellschaftlicher Strukturen und die Ausgrenzung sunnitischer Stämme und Schichten von der politischen Machtausübung. Erdogan geht es darum, in erster Linie darum, das kurdische Problem so zu lösen, ohne die unitäre Struktur des Staates anzutasten, und offenbar ist er gegen jede Lösung, die über kulturelle Rechte und die Stärkung von Lokalverwaltungen hinausgeht. Man kann sagen, dass es ihm in erster Linie darum geht, das Fortbestehen der Türkei in ihrer aktuellen Struktur und Grenzen zu halten, dass sich die kurdischen Autonomie- und Sezessionsbewegungen in Syrien nicht auf die Türkei ausweiten. Das ist der eigentliche Grund des Vorgehens von Erdogan gegenüber der PKK.
    "PKK-Führung hat auch ihre Stärke massiv überschätzt"
    Heckmann: Aber viele Beobachter haben ja doch den Eindruck, dass Erdogan gerade jetzt auch so massiv vorgeht, weil er genau weiß, dass auf internationaler Ebene wenig Widerstand, wenig Protest zu erwarten ist, weil man die Türkei ja bei den verschiedenen Themen, Stichwort Bekämpfung des sogenannten Islamischen Staats, Stichwort auch Flüchtlingskrise, braucht.
    Aydin: Die Flüchtlingsproblematik ist nicht die eigentliche Ursache. Es ist richtig, dass durch die Flüchtlingsproblematik die Türkei und Erdogan eine internationale Aufwertung erfahren haben. Aufgrund der Schlüsselposition des Landes bei der Steuerung und Begrenzung irregulärer Migration und Flucht ist die EU und der Westen nicht in der Lage, Druck auf die Türkei auszuüben. Das ist richtig, das gibt Erdogan freie Hand. Aber die PKK-Führung hat auch ihre Stärke massiv überschätzt. Es war naiv von der PKK-Führung, anzunehmen, dass sich die EU gegen die Türkei stellt und den bewaffneten Kampf der PKK unterstützt. PKK-Kämpfer und -Sympathisanten haben in der Südosttürkei sich aufgerüstet, haben Schützengräben aufgebaut und erproben da den Aufstand, also es bleibt auch nichts anderes übrig, gegen diese Kräfte vorzugehen. Wichtig ist jetzt, dass das verhältnismäßig passiert.
    Heckmann: Es bleibt nichts weiter übrig, dagegen vorzugehen, aber die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist wichtig, sagen Sie. Jetzt, wenn man sich das anguckt, die Fakten – die Türkei setzt 10.000 Soldaten ein, mehrere kurdische Städte werden seit Wochen belagert und sogar auch mit Raketen beschossen. 1,5 Millionen Menschen sind von einer Ausgangssperre betroffen. Wir würden Sie denn das Vorgehen gegen die PKK einordnen? Sind da die Verhältnismäßigkeiten der Mittel noch gewahrt?
    Aydin: Nein, es ist nicht gewahrt. Es kommt zu Menschenrechtsverletzungen. Da muss man natürlich die Türkei kritisieren. Aber man sollte hinter dem Bündnispartner Türkei stehen, wenn es um die Sicherheit, um die territoriale Integrität des Landes und um die öffentliche Ordnung geht. Da ist die öffentliche Ordnung in der Südosttürkei in Gefahr. Die PKK hat sich massiv aufgerüstet, hat sich vorbereitet auf einen Kampf, auf einen quasi Aufstand. Da muss man natürlich als EU, als Partner, hinter der Türkei stehen, aber zu Freundschaft und Partnerschaft gehört auch immer Kritik. Deswegen muss die EU gegenüber Ankara deutlich machen, dass das unverhältnismäßige Vorgehen der Sicherheitskräfte und die ganzen Menschenrechtsverletzungen gegen rechtsstaatliche Grundprinzipien verstoßen.
    "Die Türkei braucht eine HDP, aber die HDP muss auch zur Besonnenheit zurückfinden"
    Heckmann: Und das Problem ist ja, dass Erdogan, die türkische Regierung nicht nur die PKK bekämpft, die ja auch in Europa als Terrororganisation gelistet ist, sondern auch bekämpft die Kurdenpartei HDP.
    Aydin: Das ist fatal. Das ist nicht klug von Erdogan, aber auf der anderen Seite muss man auch sagen, dass die HDP und der HDP-Chef Selahattin Demirtas sich hinter diesen bewaffneten Auseinandersetzungen gestellt haben, sich hinter der Praxis der kurdischen Jugendlichen oder PKK-Sympathisanten gestellt, in der Türkei Schützengräben zu bauen. Und das ist etwas, was man von einer legalen Partei nicht erwarten darf. Die HDP hat sich hier auch nicht in einer Weise verhalten, die man von einer legalen Partei erwartet, die bei Parlamentswahlen 13 Prozent und dann später elf Prozent erhalten hat. Sie hätte vielleicht anders reagieren müssen. Aber es ist natürlich falsch, jetzt den ganzen Druck auf die HDP auszuüben. Die Türkei braucht eine HDP, aber die HDP muss auch zur Besonnenheit zurückfinden.
    Heckmann: Der HDP-Chef Demirtas, der hatte, ich habe es gerade eben schon erwähnt, eine Autonomie des Kurdengebiets eingefordert. Daraufhin sagt Erdogan, Volk und Justiz werde der HDP "eine Lektion erteilen". Muss sich die HDP also darauf einstellen, jetzt endgültig an die Wand gedrückt zu werden?
    Aydin: Das kann man befürchten. Das kann man befürchten, dass jetzt Erdogan versuchen wird, entweder gegen die HDP einen Schließungsantrag, ein Betätigungsverbot in die Wege zu leiten. Oder es ist auch möglich, dass die AKP jetzt eine vorgezogene Wahl verordnet, um die HDP unter die Zehnprozenthürde zu drücken. Das wird den Konflikt noch weiter verschärfen. Es kommt jetzt darauf an, dass beide Seiten zur Besonnenheit zurückkehren, dass die HDP sich nicht mehr hinter die PKK stellt, also auch wagt, Kritik an der PKK zu üben. Und auf der anderen Seite muss die AKP-Führung wissen, dass sie die legalen kurdischen Vertreter braucht, um eine Lösung des Problems herbeizuführen. Ohne HDP wird es noch mal schwieriger sein, eine Lösung des Problems zu finden.
    Heckmann: Sie haben gerade eben gesagt, Herr Aydin, zur Partnerschaft gehört auch Kritik. Die Europäische Union verhält sich allerdings relativ still im Bezug auf die Entwicklung dort in der Türkei, vielleicht auch zurückzuführen auf die Angewiesenheit in der Flüchtlingskrise beispielsweise. Aber kann sich die EU als Gemeinschaft, die Werte hochhält, ein solches Verhalten leisten?
    Aydin: Ein solches Verhalten nicht. Sie muss, wie gesagt, die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei anprangern. Dazu ist sie verpflichtet als Partner. Aber auf der anderen Seite muss man auch der PKK gegenüber deutlich machen, dass Terrorismus und bewaffneter Aufstand keine Lösung sind, dass das Bauen von Schützengräben nicht zu den Menschenrechten gehört. Politiker, die für die Eskalation der Gewalt nur die Türkei verantwortlich erklären, ohne ein Wort über die Gewaltpraxis und über die Revolutionsromantik der PKK zu verlieren, gießen Öl ins Feuer. Auf der anderen Seite muss man auch gegenüber der Türkei klarmachen, dass man Menschenrechtsverletzungen nicht duldet.
    Heckmann: Yasar Aydin war das, Türkeiexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Aydin, danke Ihnen herzlich für Ihre Einschätzungen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    *Anmerkung der Redaktion: Yasar Aydin ist nicht mehr für die Stiftung Wissenschaft und Politik tätig. Er lehrt zurzeit an der HafenCity Universität Hamburg (HCU).