Benedikt Schulz: Ein Verbrechen erschüttert ein ganzes Land. Zwei Mädchen, 17 und 19 Jahre alt, werden von drei Jugendlichen in ein Ferienhaus gelockt, vergewaltigt, gefoltert. Die Täter besuchen ein katholisches Gymnasium in Rom. Wie hängt das zusammen? Hängt das zusammen? Das ist eine große, gewichtige Frage, die sich nicht mal eben so beantworten lässt - sie ist zum Ausgangspunkt eines Romans geworden, der dann auch rund 1.300 Seiten schwer ist. Der Italiener Eduardo Albinati hat ihn geschrieben - und er gilt in Italien als Roman des Jahres. Inzwischen ist er auf Deutsch erschienen, der Titel: Die katholische Schule. Meine Kollegin Christiane Florin hat ihn gelesen. Frau Florin, Tag für Tag ist keine Literatursendung, Romane kommen hier also eher nicht vor. Warum dieser?
Christiane Florin: Wir haben in dieser Woche einen Schwerpunkt, eine kleine Reihe zu Sünde, Schuld und Vergebung in den Religionen. Dieser gewaltige Roman handelt genau davon: von Sünde, von Schuld, von einem schweren Verbrechen. Und er fragt: Wie kann das sein? Was hat das mit Religion zu tun. Es geht um das Verbrechen von Circeo, der Autor kürzt das immer mit VvC ab. Es war ein Verbrechen, das Italien 1975 erschüttert hat. Der Autor Albinati ist 1956 gegangen, er ist an diese titelgebende katholische Schule in Rom gagangen und er fragt sich: Was habe ich mit diesem Verbrechen zu tun, was Italien, die Bürgerlichkeit, die Familie? Der Roman handelt davon, wie es zu diesem Verbrechen kam. Die Tat selbst wird nur auf wenigen Seiten eher knapp, sprachlich neutral geschildert. Alles andere ist Nachdenken darüber, wie es möglich war.
Benedikt Schulz: Bleiben wir beim Katholizismus, er kommt ja auch im Titel vor: Was hat es mit dem Katholizismus zu tun?
Florin: Dazu hören wir am besten in den Roman hinein.
"Nach allem, was man hört, ist der Katholizismus die toleranteste, flexibelste und langmütigste Konfession überhaupt, da sie jede Sünde und jede Schandtat verzeiht, sie geradezu zu rechtfertigen scheint, und in ihren höchsten und edelsten Momenten fast an Amoralität grenzt. Ihre Arme sind so weit, dass es nahezu unmöglich ist, ihrer versöhnlichen Umarmung zu entgehen; diese Arme sind Tentakel."
Florin: Katholizismus wird hier eher als plural, liberal, nachsichtig geschildert. Es gibt nur ein Gebiet, das auch in den 1970er Jahren noch besonders vermint ist - das Geschlechterverhältnis. Die Schule versteht sich als liberal, aber Männer stehen unter Druck: So dürfen weder weiblich wirken, schon gar nicht homosexuell sein. Sie sollen Frauen begehren, aber bitte nicht zu viel.
Schulz: Schuld und Sünde ist unser Thema diese Woche. Ist es also so: Trägt für Albinati die Religion, der Katholizismus eine Mitschuld? Zumindest indirekt?
Florin: Eine Mitschuld in dem Sinne, dass der Katholizismus Frauen mit Misstrauen begegnet, dass das Verhältnis zu Frauen neurotisch ist. Frauen werden entweder abgewertet oder aufgewertet wie die Jungfrau Maria. Aber es gibt kein Normalmaß. Zugleich ist der Katholizismus für Albinati ein Faszinosum, das Glaubenkönnen fasziniert ihn. Schuldige gibt es darüber hinaus noch viele: Albinati entwirft ein Gesellschaftspanorama, vordergründig der 70er Jahre, doch auch der Gegenwart. Das faschistische Erbe, der wirtschaftliche Wohlstand, die Ideologie der Familie, der Einfluss von 1968, die Rolle von Gewalt, die Pubertät. In dieser Schule prallt alles aufeinander, es gibt einen richtigen Kampf. Ein Austragungsort dieses Kampfes ist das Geschlechterverhältnis und dieser Kampf ist noch lange nicht vorbei.
"In jeder Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau, zwischen jedem Mann und jeder Frau, ist die Vergewaltigung gegenwärtig. Selbst dort, wo keinerlei Nötigung am Werk war, wo Liebe und Zärtlichkeit regieren, ist Vergewaltigung. Die Vergewaltigung ist das vereinfachte Paradigma der Geschlechterbeziehungen, ihr Sparmodus, ihr Basisdiagramm, das jeder Beziehung und jedem nicht unbedingt brutalen Liebesakt zugrunde liegt."
Schulz: Das klingt nicht nach einem Roman, eher wie eine sehr zugespitzte These in einem Essay. Ist das ein 1.300-Seiten-Essay? Oder gar eine psychosoziale Studie?
Florin: Es ist von allem etwas. Es gibt erzählerische Passagen, Porträts der Mitschüler, der Lehrer, zum Teil sehr komisch, immer sehr scharf beobachtet, stilistisch glänzend. Aber ein großer Teil des Buches sind diese essayistischen Betrachtungen. Es ist eine Nabelschau, auch der Bereich unterhalb des Nabels wird sehr genau betrachtet. Es ist eine Reflexion über Männlichkeit. An einer Stelle heißt es, männlich geboren zu sein, sei eine unheilbare Krankheit. Und es ist ein stetiges Nachdenken darüber, wie war es möglich, dass dieses Verbrechen von Circeo, so nah, in meinem Umfeld, in meiner vertrauten Welt passieren konnte.
Schulz: Wenn sich ein Roman so viel vornimmt, so viel theoretischen Ballast mit sich herumschleppt, funktioniert er als das, was er eigentlich sein will, also als Erzählung, oder ist er als Roman an seinen eigenen, vielleicht zu hohen Ansprüchen gescheitert?
Florin: Ich bin da so widersprüchlich wie der Roman selbst. Für mich ist es das Buch des Jahres, ich konnte es jedoch nicht am Stück lesen trotz einer gewissen Leseerfahrung mit dicken Büchern. Ich habe es im Sommer angefangen und erst vor kurzem beendet. Weil es diese Wucht hat, auch weil ich es im Lichte der Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche gelesen habe.
Um zu verstehen, was ich mit dieser Wucht meine, sollten wir ein eine andere Passage hineinhören. Hier erklärt Albinati, warum reiche Jungs Frauen aus armen Familien quälen und töten:
"Mehr noch als arm und weiblich sind die Mädchen des VvC schwach, und das natürlich deshalb, weil sie weiblich und von bescheidener Herkunft sind. Sie zu misshandeln bedeutet, die eigene Schwäche zu verstecken, sie an ein Kreuz zu nageln, das man anderen auflädt. Niemand ist präpotenter als der Impotente, wenn er Menschen vor sich hat, die noch schwächer sind als er und die er sich gerade wegen ihrer Benachteiligung aussucht: arglose Jungfrauen aus kleinen Verhältnissen, vielleicht die einzigen Kreaturen, die noch schwächer sind als die Mörder, die die Presse lange Zeit geflissentlich als übermächtige Blaubärte dargestellt hat, als nahezu unbesiegbar und teuflisch genial, obwohl es neurotische Schwachsinnige waren, die es auf einer anderen Schule als dem SLM nie geschafft hätten. Nun denn, aber was hielten die Priester des SLM von diesen sonderbaren Individuen? Was hielten unsere modernen, liberalen Priester von ihrem zur Schau gestellten Faschismus, und was hielten die jungen Faschos von den Priestern? Vergessen wir’s. Für einen Faschisten ist ein Priester wie dafür gemacht, ihn zu verachten und zu trietzen, er ist nicht einmal ein Mensch, sondern ein Untermensch, eine Schwuchtel in Soutane, ein rocktragender Irrer, der das Bild des berühmten gekreuzigten Akrobaten um den Hals trägt, dieses armseligen Wüstenpredigers, der so heuchlerisch gut oder – schlimmer noch – tatsächlich gut war."
Florin: "Jesus, der tatsächlich gut war". In dieser Passage spürt man die Schärfe des Nachdenkens, der Auseinandersetzung. Es ist eigentlich eine passende Weihnachtslektüre. Oder eine Weihnachtswahnsinnslektüre.
Eduardo Albinati: Die katholische Schule. Aus dem Italienischen von Verena von Koskul. Berlin Verlag 2018. 1294 Seiten, 38 Euro.