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Sünde, Schuld und Vergebung im Islam
Nur Mord ist unverzeihlich

Ist, wer nur selten betet, ein schlechter Muslim? Oder ist es schlecht, andere derart zu beurteilen? Was im Islam als Sünde wahrgenommen wird, verändert sich gerade. Familie und Freunde gut zu behandeln ist mittlerweile genauso wichtig wie der Respekt vor Gott.

Von Mechthild Klein | 17.12.2018
    Viele Betende senken den Kopf auf den Boden. Vor ihnen sieht man von hinten den Imam vor einer Wand mit blauen Ornamenten.
    Muslime beim Gebet in einer Moschee in Stuttgart (dpa / picture-alliance / Daniel Naupold)
    Bei der Frage nach Schuld und Sünde denkt man im Islam zuerst oft an einen strafenden Gott. Weil die Strafen im Koran und in der prophetischen Tradition häufig thematisiert wurden.
    "Aber wenigstens so viel, wenn nicht noch mehr wird auch die Thematik der Reue bzw der göttlichen Barmherzigkeit thematisiert", sagt der Islamwissenschaftler Esnaf Begic. "Und eine der wesentlichen Eigenschaften Gottes im islamischen Gottesverständnis ist, dass er allbarmherzig ist … und sich selbst die Barmherzigkeit auferlegt hat."
    Esnaf Begic hat in Bosnien eine Ausbildung zum Imam gemacht und dort auch als Imam gearbeitet. Gerade wurde er an der Universität Osnabrück promoviert. Er betont, dass es im Islam kein Lehramt wie in der katholischen Kirche gibt oder eine Autorität, die von allen islamischen Traditionen anerkannt wird. Es existiert daher eine Vielfalt an Auslegungen nebeneinander. Die Frage nach Sünde, sagt Begic, sei in der islamischen Theologie stets mit der Frage des jenseitigen Glücks verbunden gewesen. Der Mensch ist vor Gott für das eigene Handeln verantwortlich. Als besonders schwere Vergehen gelten Sünden gegen Gott wie zum Beispiel:
    "Die Verneinung der göttlichen Existenz. Oder die Beigesellung weiterer Gottheiten sozusagen zu dem einen und einzigen Gott."
    "Man quält sich damit"
    Als sich die Gemeinde um den Propheten Mohammed vor rund 1400 Jahren in Arabien bildete, waren das wichtige Fragen für das Weiterbestehen der noch jungen Religion. Heute rücken Sünden, die sich gegen die Mitmenschen richten mehr in den Fokus. Es entwickelt sich eine islamische Sozialethik, in der der Mensch Verantwortung übernehmen soll. Esnaf Begic benennt diese Alltagssünden:
    "Ich war meinen Eltern gegenüber nicht gerecht, ich hab sie schlecht behandelt. Ich hab meine Kinder schlecht behandelt. Ich hab von mir aus Ehebruch begangen. Oder ich hab jemanden bedroht, zusammengeschlagen oder ähnliche Sachen. Man quält sich damit. Man lädt eine gewisse Schuld auf sich und kommt damit nicht klar und kommt natürlich zu einem Iman und spricht darüber."
    Vergebung kann es nur von Gott geben. Da betont der Islam wie die anderen abrahamitischen Religionen auch – die Reue, die Umkehr. Reue ist wichtig, um die Beziehung zu Gott aufrecht zu erhalten. Bei den zwischenmenschlichen Verfehlungen ist der Sünder selbst gefordert, die Sache in Ordnung zu bringen. Keine leichte Aufgabe. Es heißt:
    "Wenn es um die zwischenmenschlichen Verfehlungen geht, ist der Grundsatz der, dass sich selbst Gott sich da nicht einmischt. Solange diese zwei Menschen eine gewisse Thematik, eine gewisse Problematik, Schuld usw. unter sich nicht geklärt haben. Ansonsten wäre das ein ungerechter Gott. Das würde widersprechen dem Verständnis des göttlichen Handelns", sagt Begic.
    Mord kann nicht gesühnt werden
    Als größte Sünde der Menschen untereinander gilt im Islam der Mord. Diese Tat kann nicht gesühnt werden. Einen neuen Umgang mit der wohl extremsten Form, dem religiös motivierten Mord, leiteten britische Imame im letzten Jahr ein. Sie verweigerten Dschihadisten und Terrorattentätern aus dem Umfeld des IS das Totengebet, als Zeichen dafür, dass sie nicht verzeihen.
    In muslimischen Gemeinschaften beobachten Wissenschaftler einen Wandel im islamischen Sünden-Verständnis. Heute wiegen Sünden gegen die Allgemeinheit, die anderen Menschen schaden, schwerer, sagt der islamische Theologe Serdar Kurnaz von der Universität Hamburg. Während Sünden gegenüber Gott mehr als Privatsache gelten.
    "Wenn jemand zum Beispiel das Gebet nicht verrichtet, dann denkt man nicht unbedingt, dass das ein schlechter Muslim ist, dann denkt man einfach, er oder sie verrichtet einfach nicht das Gebet."
    Die muslimischen Pflichten: Ramadan-Fasten, Almosen geben, Gebete verrichten – kurz: der nach außen zelebrierte Glaube, das sage überhaupt nichts über die Spiritualität eines Menschen aus.
    Vielgötterei ist unverzeihlich
    Serdar Kurnaz: "Ich bin der Meinung, dass Menschen dazu neigen, egal welcher Religion sie angehören, selbst Gott zu spielen. Das ist hauptsächlich unser Problem heutzutage glaube ich, dass man sich dazu befähigt fühlt über andere Menschen zu urteilen, weil sie der Meinung sind, gewisse Handlungen zu beobachten, die falsch seien. Da muss man ganz vorsichtig sein."
    Der islamische Theologe Serdar Kurnaz argumentiert hier aus der Tradition heraus, dass niemand andere Menschen verurteilen dürfe. Weil sie beispielsweise Alkohol trinken oder nicht fasten.
    "Wie Sie ja wissen ist es in der muslimischen Tradition ganz ganz schlimm, wenn man selbst Gott zu spielen versucht. das einzige, was Gott möglicherweise überhaupt nicht vergeben würde, ist der Polytheismus. bzw die Vielgötterei, dass man Gott andere Götter beigesellt. Da muss man sich selbst auch immer fragen. Wenn ich so tue, als würde ich in die Herzen der Menschen schauen können. Da sagt die muslimische Tradition: Nur Gott ist dazu fähig in das Innere der Menschen zu schauen."
    Homosexualität: "Die Bewertung ist Gott überlassen"
    Wenn man so an kontroverse Themen herangeht - könnte das Raum für sachliche Diskussionen geben. Beispielsweise wie man mit Homosexualität unter Muslimen umgeht – denn das gilt nach konservativer Auslegung als Sünde. Und aus der muslimischen Community ist bis auf den Liberal-islamischen Bund wenig Akzeptanz zu hören. Der Imam Esnaf Begic sagt, es sei grundsätzlich falsch Homosexuelle auszugrenzen.
    Begic:
    "Aber es ist wichtig in diesem Zusammenhang zu betonen, dass trotz diesen sexuellen Orientierungen - wie auch immer sie sein sollen der Mensch im Vordergrund steht und dass sehr wichtig ist, dass der Mensch als Ausdruck der göttlichen Schöpfung zu achten ist. Insofern darf man jemanden aus dem heutigen Verständnis nicht be- oder verurteilen, also diese Bewertung ist allein Gott überlassen."
    Weil sich das Leben verändert, kommen auch neue Sünden hinzu, die die göttliche Ordnung stören können – zumindest theoretisch.
    Serdar Kurnaz: "In vielen religiösen Kreisen ist das Bewusstsein dafür noch nicht da, dass wenn man der Umwelt schadet, dass das als eine große Sünde gedeutet werden kann. Man zitiert in muslimischen Kreisen ziemlich viele Koranpassagen oder viele Aussprüche des Propheten Mohammed, die darauf hinweisen, dass man der Schöpfung nicht schaden soll. Aber wenn man das auf den Alltag rückprojeziert und schaut, wie gehandelt wird, dann habe ich nur ganz wenige Personen gesehen, die z.B. heute verzichten mit den Auto zu fahren, weil sie nur alleine unterwegs sind und nicht auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen."
    Tabuthema Gewalt
    Das gilt wohl für Menschen, unabhängig von ihrer Religion. Judentum, Christentum, Islam - alle abrahamitischen Religionen kennen die Idee von moralischem Versagen. Mit Betrug, Bereicherung, Vernachlässigung, auch sexuellem Fehlverhalten entfernen sich Menschen aus der göttlichen Ordnung. Aber nicht nur die Deutung verändert sich. Ob heutige Generationen ähnliche Schuldgefühle im religiösen Sinne entwickeln wie ihre Mütter und Großväter, darf bezweifelt werden. Ob Sünden-Konzepte in ihrer Komplexität heute überhaupt verstanden werden, ist noch einmal eine andere Frage. Es hängt von der Vermittlung und dem Gemeinschaftsleben der Gemeinden ab. Und das liegt häufig ziemlich brach. Manche wirklich brennenden Themen würden in Freitagspredigten kaum angesprochen, kritisiert der Islamwissenschaftler Esnaf Begic. Beispielsweise der Umgang mit Gewalt.
    "Selbst bei mir als Imam kommt es manchmal vor, dass ich mich durch die Themenwahl nicht angesprochen fühle, wenn ich mir die Freitagspredigt so anhöre. Sodass ich ziemlich schnell während der Freitagspredigt abschalte, weil diese Themen meine Lebenswirklichkeit nicht betreffen. Und ich kann es mir durchaus vorstellen, dass es bei den Jugendlichen noch viel und stärker ausgeprägt ist, dass sie sich von solchen Themen nicht angesprochen fühlen."