Es gibt den biblischen Spruch "Auge um Auge, Zahn um Zahn." Vergessen Sie alles, was Sie über dieses Bibelzitat gehört haben. Im Judentum wir es anders interpretiert als im Christentum. "'Auge um Auge, Zahn um Zahn' kommt drei Mal vor in der hebräischen Bibel, im Tenach. Wenn Sie wirklich denken, das bedeutet, was viele Christen denken, dann sollen sie einen Zahnarzt besuchen und einen Optiker", sagt Walter Rothschild, liberaler Rabbiner aus Berlin und ergänzt:
"Wirklich, es ist dumm, sie haben es nicht gelesen, sie haben den Kontext nicht gelesen, von Zank und jemand wird verletzt und was es kosten soll und so weiter."
Es gibt viele Strömungen im Judentum, von orthodox bis liberal. Aber alle kennen die jüdische Rechtsprechung der Opferentschädigung. Es gehört zum Kontext von "Auge um Auge", dass jemand der geschädigt oder bestohlen wurde, nicht nur das Diebesgut zurückerhält oder wenn er verletzt wurde, das Hospital bezahlt wird, sondern auch noch bis 20 Prozent des Verlustes oben drauf. Darum geht es bei dieser Aufzählung. Nicht darum, wie es die christliche Lesart ist, dem Täter das gleiche heimzuzahlen.
Über das WIE der Entschädigung haben jüdische Gelehrte viele Jahrhunderte gestritten, in immer neuen Kommentaren über Gerechtigkeit. Im Judentum unterscheidet man Sünden gegen den Nächsten und gegen Gott.
Walter Rothschild: "Wenn es um andere Menschen geht, dann muss ich versuchen, das wieder gut zu machen, das was ich irgendwie beschädigt habe, verloren habe, gebrochen habe - wie auch immer. (…) Wenn es um etwas gegenüber Gott geht, dann ist es zwischen mir und Gott. Keiner soll sich einmischen. Wir haben kein persönliches Beichtkonzept, wir haben gemeinsames Beichten."
Im Judentum gibt es keine priesterliche Instanz, die zwischen Gott und Mensch vermittelt. Jeder kann sich direkt an Gott wenden. Aber es gibt auch eine Art kollektives Bußritual: Und zwar ein Beichtgebet im Abendgottesdienst des jüdischen Versöhnungsfestes Jom Kippur.
"Dort stehen wir auf und sagen gemeinsam: Wir haben gesündigt", erzählt Walter Rothschild. "Wir haben versagt. Aber keiner muss sich schämen. Keiner muss sich sagen, ich bin der einzige, der aufsteht. Es ist nicht meine Aufgabe zu sagen: Alle, die jetzt Ehebruch begangen haben, stehen jetzt auf. Oder die ermordet haben. Wir stehen gemeinsam auf als Gemeinde. Gemeinsam gegenüber Gott beichten."
Ideal des Verzeihens
Die Zehn Gebote sind eine Richtschnur für das soziale Miteinander. Zwischenmenschliche Verfehlungen können auch tiefe Spuren hinterlassen. Falsche Beschuldigungen etwa oder Betrug. Es ist ein hohes Ideal, dass man dann bei seinem Schuldiger vorbei geht und ihn persönlich um Verzeihung bittet.
Walter Rothschild: "Das Ideal kommt selten vor. Ich muss auch zugeben, es gibt ein paar Leute auf dieser Erde, denen ich nie wieder begegnen möchte. Einige Sachen sind relativ einfach - Geburtstaggeschenk vergessen. Andere Sachen nicht so einfach: 'Oh dear, es tut mir leid wegen dieses Seitensprungs.' Gibt’s eine Riesenpalette, ein Riesenspektrum. Die Idee ist das wichtigste. Am Ende kann man nicht sagen: Alles ist perfekt. Aber man kann sagen, ich habe mein Bestes getan. Um so weit wie möglich wieder tabula rasa, sauber zu machen. Und ich hoffe, das ist genug."
Im jüdischen Glauben gehört zum Verzeihen auch die Idee der Umkehr und der Reue dazu. Dass die Tat, die Sünde, einem Leid tut. Der mittelalterliche Gelehrte Maimonides hat darüber nachgedacht, woran man erkennen kann, dass ein Sünder aufrichtig bereut.
"Nicht in die gleiche Sünde fallen wie vorher. Bester Beweis, dass man gelernt hat: Wenn man es nicht wiederholt, obwohl es möglich wäre."
Es gibt Sünden, die sind nicht wieder gut zu machen. Mord zum Beispiel. Aber auch ein Vertrauensbruch kann einschneidend sein. Man kann das Geschehene ja nicht rückgängig machen. Im Judentum solle man sich trotzdem darin üben, zu verzeihen und umzukehren.
"Das ist so wichtig", sagt Rothschild. "Weil sonst, in der menschlichen Psychologie, wir halten sehr gerne an unserer Wut und unserer Enttäuschung fest, an dem Hass. Und das merkt man. Ich auch. Ich bin auch kein perfektes Vorbild. Das ist sehr schwer, zu ihnen zu gehen und sagen: Können wir das wieder gut machen. Ich soll, aber ich find es einfach schwierig."
Das Judentum kennt 613 Gebote, die Mizwot. Viele Gebote und Verbote beziehen sich auf längst vergangene Zeiten. Als es noch Tieropfer und den Tempel gab. Doch beide existieren schon lange nicht mehr. Insofern beziehen sich Teile der Gebote auf eine Zeit, die lange vorbei ist, die Gebote sind nicht mehr relevant, werden aber noch tradiert.
Religion und Gesellschaft - wer verändert wen?
Ein Feld, auf dem in Religionen stets Sündengefahr besteht, ist die Sexualität. Sexualität wird zwar im Judentum hochgeschätzt, allerdings nur innerhalb der Ehe. Scheidung oder Abtreibung - die Aufreger im Katholizismus - waren im Judentum nie ein Problem.
Religionsübergreifend ist dagegen die Verachtung von Homosexualität. Hier wird jedoch heute der Kontext heute mehr in den Blick genommen. Bei der Erzählung über Lot in Sodom beispielsweise wird Homosexualität als Gewalttat geschildert und daher abgelehnt. Ende des 20. Jahrhunderts hat sich der Blick auf homosexuelle Juden geändert. Denn gleichgeschlechtliche Paare können die Glaubensgemeinschaft stützen und bereichern. Im liberalen Judentum werden heute Homosexuelle akzeptiert und sogar getraut. Rabbiner Rothschild sieht hier durchaus eine Veränderung im Umgang:
"Wer entscheidet, welche Definition gültig ist? Jetzt ist es so: zwei Männer können zum Priester oder Rabbiner kommen und sagen, wir wollen eine Hochzeit haben. Das war undenkbar ein paar Jahrzehnte vorher. Okay? Was wird die nächsten 20 Jahre normal werden oder nicht. Es kommen auch Leute, die sagen, ich möchte eine Hochzeit haben mit jemanden, der nicht jüdisch ist und ich verlange, dass der Rabbiner das macht. Oder der Priester, jemand der Christ ist, das war auch undenkbar vor ein paar Jahrzehnten. Was ich meine: Es wurde früher als Sünde gesehen, wenn man eine nicht-jüdische Freundin oder Freund hatte."
Ja, das war so. Der Blick auf das, was einst als Sünde und Schuld gilt, verändert sich. In pluralen Demokratien werden Religionen mehr durch die Gesellschaft verändert, als dass sie diese Gesellschaft selbst prägen. Das weltliche Gesetz steht über den religiösen Geboten. In den USA entstanden ab 1972 erste Reform-Synagogen, die gleichgeschlechtliche Paare trauten, schreibt die Judaistin Tanja Kröni. Und 1990 beschloss die Reform-Rabbiner-Konferenz die Ordination homosexueller Rabbiner, aber man betonte dabei die heterosexuellen Familien als Grundlage der Gemeinden. Doch was Gläubige als Sünde oder Schuld wahrnehmen sollen, muss sich wohl jede Generation immer wieder neu erschließen.
Rothschild: "Wir sind alle Geschöpfe Gottes. Darf ich ein Tier töten, um es zu essen? Ja. - Darf ich ein Tier töten aus Spaß? Nein. - Es geht um die Definition von Schlachten. Es gibt hübsche andere Zeitgenossen von dem anderen Geschlecht. Darf ich ihn ansprechen? Ja. - Darf ich ihn belästigen? Nein. - Die Grenze ist manchmal eine Frage von Definition. Es gibt viele Dinge, wo sich die Frage stellt: es ist schön, darf ich das vernichten? Also jedes Mal, wenn ich einen Blumenstrauß kaufe, hat jemand diese Blume getötet. Ermordet. Abgeschnitten. Es sieht schön aus. Es riecht gut für ein paar Tage. Aber eigentlich hat jemand eine schöne Blume zerstört. Damit ich Freude geben kann, wenn ich diese Blumen verschenke. Wo sind die Grenzen hier?"
Auch heute streiten sich Juden über viele Definitionen und Auslegungen der Schriften. Wer das bessere Argument hat, mag überzeugen.
"Wenn Leute sagen, ich habe keine Lust mehr, ich will mein eigenes Leben leben, ist das eine Sünde."
Das ist das ungeschriebene Gebot: Du sollst einer Gemeinschaft angehören.