Süssmuth: Es war von Anfang an im Auftrag klar, dass zu dem Gesamtkonzept eben eindeutig der Auftrag gehört: Wie gestalten wir neben temporären Aufenthaltsmöglichkeiten dauerhafte Zuwanderung. Und die mündet ein in Einwanderung.
Müller: Haben Sie denn den Streit, der davor über Jahre gelaufen ist zwischen 'Einwanderungsland', 'Zuwanderungsland' - haben Sie den nachvollziehen können?
Süssmuth: Den habe ich sehr wohl nachvollziehen können. Vielleicht erinnere ich hier nochmal in diesem Zusammenhang daran, dass ich ja 94 selbst ein Buch zu Zeitfragen im Interviewstil veröffentlicht habe, und darin war dieser Frage - 'wir brauchen ein Einwanderungsgesetz' - ein ganzes Kapitel gewidmet. Und ich habe das auch begründet, warum. Nur damals fand das in meiner Fraktion keinerlei Akzeptanz. Die klare Aussage lautete: 'Wir sind kein Einwanderungsland', und einige fügten sehr dezidiert hinzu 'und werden es auch nicht werden'.
Müller: Warum hat sich die Union damit so schwer getan?
Süssmuth: Ich muss zum einen immer den Kontext mit sehen, in dem all diese Aussagen gefallen sind, da nämlich zwei maßgebliche Faktoren: Abwehr hat immer einen Zusammenhang mit eigenen Problemen - hohe Arbeitslosigkeit - und andererseits, denken Sie an den Beginn der 90er Jahre - eine hohe Zuwanderungsquote, die bei hoher Arbeitslosigkeit erhebliche Integrationsprobleme stellt. Das sind zwei ganz maßgebliche Gründe, und es ist dann immer gesagt worden: Wenn wir ein Einwanderungsland werden, dann müssen wir ja sagen, wer von den Flüchtlingen wegbleiben soll und wer statt dessen kommen soll - eine Thematik, die sich auch heute noch genau so stellt.
Müller: Ist denn im internationalen Vergleich, Frau Süssmuth, das für die Deutschen eine besondere Hürde, sich dazu zu bekennen, ein Einwanderungsland zu sein?
Süssmuth: Wir haben immer Zuwanderung auch im Sinne der Einwanderung gehabt, ob Sie hier an das brandenburgische Gebiet denken, ob Sie an das Ruhrgebiet denken mit der hohen Zahl der polnischen Zuwanderung und Einwanderer, die ja ebenfalls geblieben sind. Wir könnten in das ganze Geflecht der Fragen jetzt auch noch einmal hineingehen, das nämlich bedeutet, wie verändert sich ein Einwanderungsland im Verhältnis zu seiner Tradition? Was hat das eigentlich für Auswirkungen auf Integration, auf das Selbstverständnis eines Landes? Das heißt nicht Aufgabe der eigenen Kultur, aber Deutschland war immer ein Land, in dem sich das eigene Verständnis nicht aufgelöst, aber auch erweitert hat, denn alle zukunftsbezogenen Völker waren zugleich geöffnet für Austausch mit Menschen aus anderen Kulturen - europäischen und nicht europäischen. Was sich verändert hat, ist eine weltweite Wanderung, gerade bedingt durch Krieg und Armut und Zerstörung der Ressourcen im Umweltbereich, der Lebensressourcen, die ein Ausmaß hat mit den heutigen Transportmöglichkeiten, wie sie sie früher nicht gehabt hat.
Müller: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann hat es eine Leitkultur in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik gar nicht gegeben?
Süssmuth: Also, ich lebe in diesem Land und habe nicht den Begriff 'Leitkultur' benutzt. Trotzdem hat jedes Land auch ein Verständnis, von dem meistens ungefragt und ohne, dass es thematisiert wird, was es mit seinem eigenen Land verbindet. Und dazu möchte ich doch schon sagen, dass für mich in meinem Land die Verfassung, verbunden mit ihren Grundwerten und auch Anforderungen an jeden von uns, ihrer Freiheitlichkeit und Verantwortlichkeit, Gesichtspunkten von jeden Menschen achten und respektieren, unabhängig von Religion, Rasse und Nationalität - oder dieser ganz schwierige aber komplexe Satz am Anfang der Menschenwürde, die hat in meinem Verständnis immer gegolten für alle im Lande Lebenden, und sie ist unteilbar. Also, ich wäre nie in die Politik gegangen, wenn es dahinter nicht den Impetus, also den Ansporn gegeben hätte: Also, tu was für Deine Demokratie. Bestimmte Dinge sollen und dürfen sich nicht wiederholen, bei aller Skepsis, die da auch angezeigt ist. Das gehörte für mich stets dazu. Ich weiß, dass mein Land immer vielgestaltig war - von Nord nach Süd. Also ich war zum Beispiel in der bayerischen Politik weniger beliebt als in der schleswig-holsteinischen. Auch das prägt uns, dass wir aus unterschiedlichen landsmannschaftlichen Bindungen kommen, unterschiedlich uns ausdrücken und leben. Es ist vielgestaltig, und trotzdem bindend an eine Verfassung. Das gilt dann auch für die Hinzukommenden. Ich will das genau so ausdrücken, bei aller Achtung der anderen Kultur. Ich kann nicht dulden, dass Menschen verfolgt werden, dass Folter angewandt wird. Ich kann genitale Verstümmlung nicht einfach unbeachtet hinnehmen, und da lebe ich ganz stark aus der eigenen Verfassung heraus.
Müller: Frau Süssmuth, die Punkte, die Sie gerade ansprechen, spielen ja auch in der aktuellen Zuwanderungsdebatte eine Rolle. Von außen betrachtet: Würden Sie der These zustimmen: Es hat eine Zeit gegeben vor der Greencard- und eine Zeit nach der Greencardinitiative des Bundeskanzlers?
Süssmuth: Ja, weil - wie immer man sie bewertet, ob zu schnell, nicht zu Ende durchdacht, nur Zwischenlösung - sie hat immens viel in Bewegung gesetzt. Den Stand der Diskussion, den wir heute zur Neuordnung der Zuwanderung haben, hatten wir vor einem Jahr nicht. Es hat Bewegung auf dem Arbeitsmarkt ausgelöst in der Vermittlung, es hat Bewegung in der jungen Generation in ihrer Studienwahl ausgelöst. Es hat den Menschen deutlich gemacht: Trotz 4 Millionen Arbeitslosen haben wir in bestimmten Bereichen einen Bedarf, den wir unmittelbar decken müssen, damit wir nicht noch mehr Arbeitsplätze verlieren, dass wir in Bereichen auch der Hightech konkurrenzfähig bleiben. Und wir lassen uns auf das ein, was andere Länder - wie USA, Kanada, Australien, Neuseeland, aber auch unsere europäischen Nachbarländer - längst praktizieren: Wie holen wir die besten Menschen auch in unser Land, sind dafür attraktiv - und machen nicht Regelungen, wo es sowohl für Wissenschaftler wie für Studierende schwierig ist, reinzukommen, und wo andere Länder attraktiver sind. In einer dynamischen Gesellschaft brauchen Sie Austausch, brauchen Sie Kooperation, wie das in Wissenschaft und Kunst eigentlich immer schon war, und nicht Abwehr. Es sind viele junge Menschen von uns weggegangen, auch Deutsche, weil sie das Studieren in England und in den USA attraktiver finden. Oder ein Drittel aller, die zunächst nach Deutschland zuwandern, wandern weiter und sind in Kanada; fragen Sie mal in kanadischen Administrationen nach. Und so muss ich sagen: Ich freue mich darüber, dass im Land was in Bewegung gekommen ist. Es ist auch mächtig was in Bewegung gekommen. In der Auseinandersetzung mit Zuwanderung spüren Sie, wo unser Reformbedarf liegt: In der Bildungspolitik, in der Ausbildungs- und Weiterbildungspolitik, in der Familienpolitik. Bisher wurde immer angenommen, je höher der Anteil an nicht erwerbstätigen Frauen, desto höher die Kinderzahl, die pro Ehepaar geboren wird. Es ist nicht wahr. Heute liegen die höchsten Geburtenzahlen pro Paar in den skandinavischen Ländern - mit hoher Vereinbarkeit von Familie und Beruf und in Frankreich, und die niedrigsten in den sogenannten familien- und kinderfreundlichen Ländern wie Italien, Spanien, Portugal, Griechenland. Das heißt, hier kommen wirklich Umkehrungen in Gang, die wir sehen müssen. Und wer an der eigenen Innenpolitik nicht arbeitet - also anzunehmen, wir könnten nur mit Zuwanderung all diese Probleme lösen, das führt in die Irre. Damit können wir sie abmildern, aber nicht lösen.
Müller: Das bedeutet, Frau Süssmuth, die Zuwanderung als Katalysator für innenpolitische Reform?
Süssmuth: Auch, ja, denn wer nicht sieht, was im Bereich anderer Länder geschehen ist, dann ist das ein Katalysator. Der Ruf nach ausländischen Arbeitskräften zeigt Engpässe im wirtschaftlichen Bereich an, zeigt Engpässe an, dass offenbar unser System zu wenig ausgerichtet war auf das, was wir in diesem Arbeitsbereiche brauchen an allgemeinen und spezifischen Qualifikationen, zeigt auch an, welche Langzeitwirkungen wir von der Anwerbung nicht gelernter Arbeitskräfte hatten, denn - lassen Sie mich noch ein Beispiel erwähnen: Die Integrationsprobleme, die wir zum Teil heute mit zugewanderten der 70er Jahr und ihrer Kinder haben, sind Folge der Tatsache, dass damals Ungelernte ins Land geholt worden sind. Ein Teil hat sich hochgearbeitet und ist in qualifizierteren Berufen. Es haben sich auch ungelernte Generationen wiederholt und Sozialhilfeverläufe und Berufslebensläufe wiederholt, wie in Deutschland auch.
Müller: Am 4. Juli - wir haben es kurz angesprochen -, ist der Stichtag, da kommt der Bericht Ihrer Kommission. Einige Tage später werden sich auch die Regierungsfraktionen konkret äußern, sowie auch die Bundesregierung. Vor einigen Wochen hat die Union bereits ihr Konzept vorgelegt. Die Stimmung war zunächst einmal optimistisch mit Blick auf einen parteiübergreifenden Konsens. In den letzten Tagen sah das ja aus Kreisen der Union - der CSU - wieder etwas anders aus. Wie groß schätzen Sie denn die Chancen ein, dass sich die Parteien einigen werden?
Süssmuth: Also, wenn ich zunächst mal von den vorgelegten Papieren - sprich Konzepten - und politischen Lösungen rede, dann sehe ich keine unüberwindlichen Gegensätze. Im Gegenteil. Da sich in dieser Arbeit etwas durchgesetzt hat wie Ausrichtung auf die Sachprobleme, die menschlichen Erfordernisse oder das, was andere nennen 'eine rationale Beschäftigung mit dem Problem', gibt es weit mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Das werden Sie auch sehen, wenn Sie den Bericht der unabhängigen Expertenkommission mit den andern vorgelegten, gerade auch mit dem CDU-Papier, vergleichen. Es gibt sehr viel Gemeinsamkeiten. Und daraus ziehe ich den Schluss, bei allen Erklärungen, die gegenwärtig gemacht werden - auch zu recht, dass jeder sein Profil deutlich macht: Ich denke, wir täten sehr gut daran und es ist auch ein Erfordernis verantwortlicher Politik, die Gemeinsamkeiten aufzulisten und zu gucken: Wo haben wir denn Unterschiede und wie gehen wir mit diesen Unterschieden um - Stichwort: Unterschiedliche Auffassung von Familiennachzug, 16 Jahre, Rechtswegegarantie, zwei Instanzen oder drei wie bisher - einfach mal um ein paar zu nennen . . .
Müller: . . . geschlechtsspezifische Verfolgung . . .
Süssmuth: . . . unterschiedliche Auffassungen über nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung, wobei alle die Schutzbedürftigkeit anerkennen - das ist doch auch ein großer Fortschritt - und dann zu gucken: Was machen wir mit den Punkten, wo wir unterschiedlicher Auffassung sind, und sich mal zunächst auf das einigen, was wir gemeinsam haben. Da ist im Bereich humanitär Handeln, arbeitsmarktbedingte Zuwanderung und Integration - die drei gehören ja zusammen - so viel an Gemeinsamkeit. Wenn man das zunächst mal in Form von Artikelgesetzen umsetzen, dann kann man immer noch sagen: Da mögen Punkte bleiben, die wir dann im zweiten Schritt lösen. Aber es wäre immens viel gewonnen für unser Miteinander, für die Lösung unserer Probleme. Und deswegen rede ich jetzt mal mehr von diesem Erfordernis. Dass darüber auch Kontroversen entstehen - solange die nicht auf dem Rücken von Ausländern und Ausländerinnen ausgetragen werden, bin ich auch für Erörterung der Kontroversen, weil das auch was klärt. Was meinen Sie, was wir in der Kommission uns anstrengen mussten, diese institutionelle Regelung statt 16 a, und immer wieder sagen: Nehmt sie ganz ernst, prüft sie nach allen Richtungen hin, damit wir auch in der Argumentation standhalten können. Diese Art von Diskussionen braucht man, wenn man etwas klären will - aber immer fragen: Wozu will ich denn auch die kontroverse Diskussion?
Müller: Sie hören ja, Frau Süssmuth, auch in die eigene Partei hinein. Sehen Sie genügend Bereitschaft in München, eine gemeinsame Lösung auf den Weg zu bringen?
Süssmuth: Also erstmal - finde ich - kann man gar nicht genug hervorheben, dass es auch eine große Leistung war - sicherlich des Kommissionsvorsitzenden, aber niemand macht etwas allein, alle, die daran beteiligt waren -, aber auch der Zustimmung - es hing ja ab von der Zustimmung der CSU. Und ich denke, da sind aus meiner Sicht ganz entscheidend qualitative Schritte gemacht worden, denn es kommt ja nicht auf Quote und Zahlen in erster Linie an, sondern auf die Konzeption. Und diesen Schritt kann ich gar nicht hoch genug bewerten. Da haben wir etwas hinzu gelernt, auch Anstrengungen unternommen, den Erfordernissen der Realität, so wie sie seit Jahrzehnten ist, Rechnung zu tragen und uns neuen Aufgaben, wie der arbeitsmarktbedingten Zuwanderung zu stellen. Darf ich noch einen Satz hinzufügen, der ist mir ganz wichtig: Ich sehe niemand in unserem Parlament, der sagt: 'Nein, wir haben keine humanitäre Schutzverpflichtung'. Man ist gegen Missbrauch, Dauer der Verfahren - all dem haben wir uns gestellt, will Integration, teilt auch gemeinsam die Sorge: Wir können unsere Probleme nicht einfach über Zuwanderung lösen und demnächst nur noch ausländische Arbeitskräfte holen und uns nicht anstrengen, die eigenen auszubilden. Aber das ist so viel an Gemeinsamkeit, das hätte ich vor einem Jahr nicht erwartet.
Müller: Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber sagt ein klares 'nein' zu mehr quantitativer Zuwanderung; er will also die Zahl nicht erhöhen. Was sagen Sie für die nächsten Jahre?
Süssmuth: Also, wir haben ja bisher in diesem Bereich jährlich - über die Jahre verteilt - immer um die 600.000 bis 800.000 Zuwanderungen gehabt und 600.000 bis 700.000, mal weniger, Abwanderungen, so dass wir im Schnitt immer einen Saldo hatten von 200.000. Es gibt Jahre - 97/98 -, da sind weit mehr weggegangen als gekommen sind, also ein Negativsaldo. Aber das gilt nicht, wenn Sie über die lange Zeit das vergleichen. Es geht jetzt nicht darum, eine Öffnung vorzunehmen - auch in unserer Kommission nicht -, die also einen ungesteuerten Zustrom nimmt. Also, wir reden zur Zeit im Bereich der dauerhaft Zuwandernden, der befristeten Zuwandernden und der frühsten Vorsorge für Nachwuchs im Bereich der Ausbildung von 50.000. Diese Größenordnung schauen Sie sich an. Selbst wenn ich in der ersten Gruppe noch der Familiennachzug hinzukommt, gehen wir sehr verantwortlich damit um. Aber es geht jetzt wirklich darum, dass wir auch sagen - der Bevölkerung die Angst zu nehmen -, da kämen Hunderttausende nun plötzlich, aber ihr auch klar zu sagen: Wir müssen jetzt mit der Zuwanderung beginnen und alle Kommenden nicht nur als Belastung zu sehen, sondern - und das sage ich auch gerade in den Südwesten mit ihren hervorragenden Erfolgen in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit: Ihr braucht sie doch.
Müller: Auch wegen der Alterssicherung?
Süssmuth: Also, hier geht es jetzt primär im Augenblick um wirtschaftliche Gründe. Es fehlen uns Fachkräfte, nicht nur im IT-Bereich - Engpässe auf dem Arbeitsmarkt -; meinen Sie, es wäre sonst zur Lösung gekommen, dass bosnische und auch Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Kosovo, die fünf Jahre hier sind und seit zwei Jahren Arbeit haben, hier verlängert bleiben können? Wir brauchen sie, damit Arbeitsplätze im mittelständischen Unternehmen - ob das nun Bauingenieure, Elektrofachleute oder andere sind - nicht verloren gehen. Und deswegen nochmal: Wir brauchen sie jetzt - in kleiner Zahl -, aus demographischen, aus Altersgründen später mehr. Aber wir haben auch gelernt, dass wir es uns nicht länger leisten können, 40-, 45- 50jähige nach Hause zu schicken. In der Schweiz ist der Anteil derjenigen, die bis zum 60. und 65. Lebensjahr arbeiten, fast doppelt so hoch wie bei uns.
Müller: Kostet Zuwanderung etwas?
Süssmuth: Also, man kann Zuwanderung nicht zum Nulltarif haben, und schon gar nicht die Integration. Also, eine Vorstellung, keine Zuwanderung und Integration möglichst zum Nulltarif - das ist nicht miteinander verbindbar. Aber ich kann nur sagen: Alle Investitionen in Integration sind viel sinnvoller angelegt als die Kosten, die Sie haben bei Nichtintegration - Sozialhilfe, Kriminalitätsbekämpfung, Drogenbekämpfung. Und Parallelgesellschaften entstehen dort, wo Integration nicht maßgeblich betrieben wird. Die Niederländer, die ein vorzügliches Konzept haben, von dem wir auch ebenfalls gelernt haben wie von den Kanadiern und andere sagen: 'Hätten wir bloß früher systematischer Integration betrieben, wir hätten manches Problem weniger.'
Müller: Frau Süssmuth, wir sollten die Gelegenheit nutzen, auch zum Zustand der CDU etwas zu sagen. In der CDU wächst die Kritik an der Führung - ist in diesen Tagen zu lesen in den Zeitungen. Welche Kritik haben Sie?
Süssmuth: Also ich denke, dass entscheidend ist, dass diejenigen, die an den Entscheidungsprozessen auch im Berliner Fall nicht teilgenommen haben, genauer erfahren, wie es denn wirklich gelaufen ist. Denn von außen betrachtet - so ging es auch mir, da habe ich gedacht: Wie kann so etwas passieren, dass Menschen beschädigt werden und dass nicht besser gehändelt wird.
Müller: Wissen Sie dass denn inzwischen konkret?
Süssmuth: Ich weiß es inzwischen konkreter, und ich finde, je offener und offensiver man mit einem solchen Problem umgeht, desto besser auch für die Gesamtpartei und für die Klärung der Führungsfragen. Ich wünschte mir sehr, dass alle die Karten offen auf den Tisch legten und nicht einer oder eine verantwortlich gemacht wird, die für das, was da passiert ist - dass es immer sehr stark an der verantwortlichen Führungsperson hängen bleibt. Aber wenn wir in diesen Vorgang Licht bringen wollen, dann wäre es das beste, es würde genau so geschildert, wie es abgelaufen ist.
Müller: Helfen Sie uns doch weiter; wie ist es denn verlaufen?
Süssmuth: Ja, das werde ich nicht tun, das sollten diejenigen tun. Ich habe an diesem Entscheidungsprozess nicht das Geringste an Mitwirkung gehabt. Ich habe es verfolgt wie alle, und wenn man es verfolgt - muss ich Ihnen sagen -, ist es mir so ergangen, wie vielen: Das kann doch nicht möglich sein, dass der Schäuble so beschädigt wird. Ich weiß, die Beschädigung unserer Parteivorsitzenden ist groß, und deswegen möchte ich einfach nur sagen: Ich bitte um Fairness und klare Offenlegung. Je mehr Transparenz da rein kommt, desto besser ist es für Parteimitglieder und Öffentlichkeit, Führungsaufgaben, Führungsprobleme - und was daran an Schwierigkeiten war - wirklich auch zu durchschauen.
Müller: Es gibt Anlass zu Spekulationen darüber; da haben Sie sich ja auch gerade beklagt. Warum geht die Parteiführung denn nach außen nicht damit offener um - die Frage um den Verlauf zur Klärung . . .
Süssmuth: . . . also, das müssen Sie die Parteiführung fragen, das kann ich Ihnen nicht beantworten. Es geht dann immer darum, dass man Sprachregelungen hat, und bei den Sprachregelungen soll dann möglichst wenig an Schaden entstehen und die Dinge beendet werden. Wir haben in dieser Woche erlebt, es ist nicht beendet worden, sondern die Diskussion geht bis zum heutigen Tag weiter. Ich wünsche mir, dass sie beendet wird, aber nicht einfach, indem nun alle schweigen. Denn dann gehen die Spekulationen weiter.
Müller: Ist die Parteiführung professionell?
Süssmuth: Also ich denke schon, dass die Parteiführung nicht besser und nicht schlechter ist als sie auch früher war; also wir haben diese Diskussionen auch früher gehabt. Also, entweder hieß es: Wo bleibt endlich das Machtwort des Kanzlers. Und dann möchte ich ja auch nochmal sagen: Es ist eine Parteiführung, eine junge, die inmitten einer großen Krise die Führung übernommen hat. Da die Krise nicht überwunden ist, denke ich auch, dass wir sehen müssen: Es ist etwas anderes, in sogenannten 'Normalzeiten' - oder in Umbruch- oder Krisenzeiten zu führen. Auch da bitte ich nochmal um Fairness. Und das, was wir früher gegen uns gelten lassen mussten - führt nur einer, oder führt Ihr mit, die Ihr da im Führungsgremium seid -, dann komme ich nochmal zu dem Ergebnis: Es sind alle an der Führung beteiligt, und das kann man nicht auf eine abwälzen.
Müller: Freuen Sie sich auf Helmut Kohl im Berliner Wahlkampf?
Süssmuth: Also, ich habe keine Schwierigkeiten damit, dass er dabei ist. Warum soll ich mich freuen oder nicht freuen? Wenn er auftreten möchte - und Berlin ist ein Ort, wo er viele symbolträchtige Erinnerungen hat - und wo er auftreten will: Also, in der Demokratie ist niemand daran gehindert, und dann lass er es tun.
Müller: Ist es gut für die Partei?
Süssmuth: Also, das weiß ich nicht, ob es gut oder schlecht ist. Jedenfalls in meiner Partei wird die Mehrzahl sagen: Es ist gut, dass er das macht. Und es gibt Minderheiten, die sagen: Es ist nicht gut, dass er es macht. Und wenn Sie mich fragen, soll er das tun; ja - lass er es tun. Nur so können die Menschen Erfahrungen mit ihm, und er mit den Menschen Erfahrungen machen.
Müller: Frau Süssmuth, vielen Dank, dass Sie für uns Zeit gefunden haben.
Müller: Haben Sie denn den Streit, der davor über Jahre gelaufen ist zwischen 'Einwanderungsland', 'Zuwanderungsland' - haben Sie den nachvollziehen können?
Süssmuth: Den habe ich sehr wohl nachvollziehen können. Vielleicht erinnere ich hier nochmal in diesem Zusammenhang daran, dass ich ja 94 selbst ein Buch zu Zeitfragen im Interviewstil veröffentlicht habe, und darin war dieser Frage - 'wir brauchen ein Einwanderungsgesetz' - ein ganzes Kapitel gewidmet. Und ich habe das auch begründet, warum. Nur damals fand das in meiner Fraktion keinerlei Akzeptanz. Die klare Aussage lautete: 'Wir sind kein Einwanderungsland', und einige fügten sehr dezidiert hinzu 'und werden es auch nicht werden'.
Müller: Warum hat sich die Union damit so schwer getan?
Süssmuth: Ich muss zum einen immer den Kontext mit sehen, in dem all diese Aussagen gefallen sind, da nämlich zwei maßgebliche Faktoren: Abwehr hat immer einen Zusammenhang mit eigenen Problemen - hohe Arbeitslosigkeit - und andererseits, denken Sie an den Beginn der 90er Jahre - eine hohe Zuwanderungsquote, die bei hoher Arbeitslosigkeit erhebliche Integrationsprobleme stellt. Das sind zwei ganz maßgebliche Gründe, und es ist dann immer gesagt worden: Wenn wir ein Einwanderungsland werden, dann müssen wir ja sagen, wer von den Flüchtlingen wegbleiben soll und wer statt dessen kommen soll - eine Thematik, die sich auch heute noch genau so stellt.
Müller: Ist denn im internationalen Vergleich, Frau Süssmuth, das für die Deutschen eine besondere Hürde, sich dazu zu bekennen, ein Einwanderungsland zu sein?
Süssmuth: Wir haben immer Zuwanderung auch im Sinne der Einwanderung gehabt, ob Sie hier an das brandenburgische Gebiet denken, ob Sie an das Ruhrgebiet denken mit der hohen Zahl der polnischen Zuwanderung und Einwanderer, die ja ebenfalls geblieben sind. Wir könnten in das ganze Geflecht der Fragen jetzt auch noch einmal hineingehen, das nämlich bedeutet, wie verändert sich ein Einwanderungsland im Verhältnis zu seiner Tradition? Was hat das eigentlich für Auswirkungen auf Integration, auf das Selbstverständnis eines Landes? Das heißt nicht Aufgabe der eigenen Kultur, aber Deutschland war immer ein Land, in dem sich das eigene Verständnis nicht aufgelöst, aber auch erweitert hat, denn alle zukunftsbezogenen Völker waren zugleich geöffnet für Austausch mit Menschen aus anderen Kulturen - europäischen und nicht europäischen. Was sich verändert hat, ist eine weltweite Wanderung, gerade bedingt durch Krieg und Armut und Zerstörung der Ressourcen im Umweltbereich, der Lebensressourcen, die ein Ausmaß hat mit den heutigen Transportmöglichkeiten, wie sie sie früher nicht gehabt hat.
Müller: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann hat es eine Leitkultur in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik gar nicht gegeben?
Süssmuth: Also, ich lebe in diesem Land und habe nicht den Begriff 'Leitkultur' benutzt. Trotzdem hat jedes Land auch ein Verständnis, von dem meistens ungefragt und ohne, dass es thematisiert wird, was es mit seinem eigenen Land verbindet. Und dazu möchte ich doch schon sagen, dass für mich in meinem Land die Verfassung, verbunden mit ihren Grundwerten und auch Anforderungen an jeden von uns, ihrer Freiheitlichkeit und Verantwortlichkeit, Gesichtspunkten von jeden Menschen achten und respektieren, unabhängig von Religion, Rasse und Nationalität - oder dieser ganz schwierige aber komplexe Satz am Anfang der Menschenwürde, die hat in meinem Verständnis immer gegolten für alle im Lande Lebenden, und sie ist unteilbar. Also, ich wäre nie in die Politik gegangen, wenn es dahinter nicht den Impetus, also den Ansporn gegeben hätte: Also, tu was für Deine Demokratie. Bestimmte Dinge sollen und dürfen sich nicht wiederholen, bei aller Skepsis, die da auch angezeigt ist. Das gehörte für mich stets dazu. Ich weiß, dass mein Land immer vielgestaltig war - von Nord nach Süd. Also ich war zum Beispiel in der bayerischen Politik weniger beliebt als in der schleswig-holsteinischen. Auch das prägt uns, dass wir aus unterschiedlichen landsmannschaftlichen Bindungen kommen, unterschiedlich uns ausdrücken und leben. Es ist vielgestaltig, und trotzdem bindend an eine Verfassung. Das gilt dann auch für die Hinzukommenden. Ich will das genau so ausdrücken, bei aller Achtung der anderen Kultur. Ich kann nicht dulden, dass Menschen verfolgt werden, dass Folter angewandt wird. Ich kann genitale Verstümmlung nicht einfach unbeachtet hinnehmen, und da lebe ich ganz stark aus der eigenen Verfassung heraus.
Müller: Frau Süssmuth, die Punkte, die Sie gerade ansprechen, spielen ja auch in der aktuellen Zuwanderungsdebatte eine Rolle. Von außen betrachtet: Würden Sie der These zustimmen: Es hat eine Zeit gegeben vor der Greencard- und eine Zeit nach der Greencardinitiative des Bundeskanzlers?
Süssmuth: Ja, weil - wie immer man sie bewertet, ob zu schnell, nicht zu Ende durchdacht, nur Zwischenlösung - sie hat immens viel in Bewegung gesetzt. Den Stand der Diskussion, den wir heute zur Neuordnung der Zuwanderung haben, hatten wir vor einem Jahr nicht. Es hat Bewegung auf dem Arbeitsmarkt ausgelöst in der Vermittlung, es hat Bewegung in der jungen Generation in ihrer Studienwahl ausgelöst. Es hat den Menschen deutlich gemacht: Trotz 4 Millionen Arbeitslosen haben wir in bestimmten Bereichen einen Bedarf, den wir unmittelbar decken müssen, damit wir nicht noch mehr Arbeitsplätze verlieren, dass wir in Bereichen auch der Hightech konkurrenzfähig bleiben. Und wir lassen uns auf das ein, was andere Länder - wie USA, Kanada, Australien, Neuseeland, aber auch unsere europäischen Nachbarländer - längst praktizieren: Wie holen wir die besten Menschen auch in unser Land, sind dafür attraktiv - und machen nicht Regelungen, wo es sowohl für Wissenschaftler wie für Studierende schwierig ist, reinzukommen, und wo andere Länder attraktiver sind. In einer dynamischen Gesellschaft brauchen Sie Austausch, brauchen Sie Kooperation, wie das in Wissenschaft und Kunst eigentlich immer schon war, und nicht Abwehr. Es sind viele junge Menschen von uns weggegangen, auch Deutsche, weil sie das Studieren in England und in den USA attraktiver finden. Oder ein Drittel aller, die zunächst nach Deutschland zuwandern, wandern weiter und sind in Kanada; fragen Sie mal in kanadischen Administrationen nach. Und so muss ich sagen: Ich freue mich darüber, dass im Land was in Bewegung gekommen ist. Es ist auch mächtig was in Bewegung gekommen. In der Auseinandersetzung mit Zuwanderung spüren Sie, wo unser Reformbedarf liegt: In der Bildungspolitik, in der Ausbildungs- und Weiterbildungspolitik, in der Familienpolitik. Bisher wurde immer angenommen, je höher der Anteil an nicht erwerbstätigen Frauen, desto höher die Kinderzahl, die pro Ehepaar geboren wird. Es ist nicht wahr. Heute liegen die höchsten Geburtenzahlen pro Paar in den skandinavischen Ländern - mit hoher Vereinbarkeit von Familie und Beruf und in Frankreich, und die niedrigsten in den sogenannten familien- und kinderfreundlichen Ländern wie Italien, Spanien, Portugal, Griechenland. Das heißt, hier kommen wirklich Umkehrungen in Gang, die wir sehen müssen. Und wer an der eigenen Innenpolitik nicht arbeitet - also anzunehmen, wir könnten nur mit Zuwanderung all diese Probleme lösen, das führt in die Irre. Damit können wir sie abmildern, aber nicht lösen.
Müller: Das bedeutet, Frau Süssmuth, die Zuwanderung als Katalysator für innenpolitische Reform?
Süssmuth: Auch, ja, denn wer nicht sieht, was im Bereich anderer Länder geschehen ist, dann ist das ein Katalysator. Der Ruf nach ausländischen Arbeitskräften zeigt Engpässe im wirtschaftlichen Bereich an, zeigt Engpässe an, dass offenbar unser System zu wenig ausgerichtet war auf das, was wir in diesem Arbeitsbereiche brauchen an allgemeinen und spezifischen Qualifikationen, zeigt auch an, welche Langzeitwirkungen wir von der Anwerbung nicht gelernter Arbeitskräfte hatten, denn - lassen Sie mich noch ein Beispiel erwähnen: Die Integrationsprobleme, die wir zum Teil heute mit zugewanderten der 70er Jahr und ihrer Kinder haben, sind Folge der Tatsache, dass damals Ungelernte ins Land geholt worden sind. Ein Teil hat sich hochgearbeitet und ist in qualifizierteren Berufen. Es haben sich auch ungelernte Generationen wiederholt und Sozialhilfeverläufe und Berufslebensläufe wiederholt, wie in Deutschland auch.
Müller: Am 4. Juli - wir haben es kurz angesprochen -, ist der Stichtag, da kommt der Bericht Ihrer Kommission. Einige Tage später werden sich auch die Regierungsfraktionen konkret äußern, sowie auch die Bundesregierung. Vor einigen Wochen hat die Union bereits ihr Konzept vorgelegt. Die Stimmung war zunächst einmal optimistisch mit Blick auf einen parteiübergreifenden Konsens. In den letzten Tagen sah das ja aus Kreisen der Union - der CSU - wieder etwas anders aus. Wie groß schätzen Sie denn die Chancen ein, dass sich die Parteien einigen werden?
Süssmuth: Also, wenn ich zunächst mal von den vorgelegten Papieren - sprich Konzepten - und politischen Lösungen rede, dann sehe ich keine unüberwindlichen Gegensätze. Im Gegenteil. Da sich in dieser Arbeit etwas durchgesetzt hat wie Ausrichtung auf die Sachprobleme, die menschlichen Erfordernisse oder das, was andere nennen 'eine rationale Beschäftigung mit dem Problem', gibt es weit mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Das werden Sie auch sehen, wenn Sie den Bericht der unabhängigen Expertenkommission mit den andern vorgelegten, gerade auch mit dem CDU-Papier, vergleichen. Es gibt sehr viel Gemeinsamkeiten. Und daraus ziehe ich den Schluss, bei allen Erklärungen, die gegenwärtig gemacht werden - auch zu recht, dass jeder sein Profil deutlich macht: Ich denke, wir täten sehr gut daran und es ist auch ein Erfordernis verantwortlicher Politik, die Gemeinsamkeiten aufzulisten und zu gucken: Wo haben wir denn Unterschiede und wie gehen wir mit diesen Unterschieden um - Stichwort: Unterschiedliche Auffassung von Familiennachzug, 16 Jahre, Rechtswegegarantie, zwei Instanzen oder drei wie bisher - einfach mal um ein paar zu nennen . . .
Müller: . . . geschlechtsspezifische Verfolgung . . .
Süssmuth: . . . unterschiedliche Auffassungen über nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung, wobei alle die Schutzbedürftigkeit anerkennen - das ist doch auch ein großer Fortschritt - und dann zu gucken: Was machen wir mit den Punkten, wo wir unterschiedlicher Auffassung sind, und sich mal zunächst auf das einigen, was wir gemeinsam haben. Da ist im Bereich humanitär Handeln, arbeitsmarktbedingte Zuwanderung und Integration - die drei gehören ja zusammen - so viel an Gemeinsamkeit. Wenn man das zunächst mal in Form von Artikelgesetzen umsetzen, dann kann man immer noch sagen: Da mögen Punkte bleiben, die wir dann im zweiten Schritt lösen. Aber es wäre immens viel gewonnen für unser Miteinander, für die Lösung unserer Probleme. Und deswegen rede ich jetzt mal mehr von diesem Erfordernis. Dass darüber auch Kontroversen entstehen - solange die nicht auf dem Rücken von Ausländern und Ausländerinnen ausgetragen werden, bin ich auch für Erörterung der Kontroversen, weil das auch was klärt. Was meinen Sie, was wir in der Kommission uns anstrengen mussten, diese institutionelle Regelung statt 16 a, und immer wieder sagen: Nehmt sie ganz ernst, prüft sie nach allen Richtungen hin, damit wir auch in der Argumentation standhalten können. Diese Art von Diskussionen braucht man, wenn man etwas klären will - aber immer fragen: Wozu will ich denn auch die kontroverse Diskussion?
Müller: Sie hören ja, Frau Süssmuth, auch in die eigene Partei hinein. Sehen Sie genügend Bereitschaft in München, eine gemeinsame Lösung auf den Weg zu bringen?
Süssmuth: Also erstmal - finde ich - kann man gar nicht genug hervorheben, dass es auch eine große Leistung war - sicherlich des Kommissionsvorsitzenden, aber niemand macht etwas allein, alle, die daran beteiligt waren -, aber auch der Zustimmung - es hing ja ab von der Zustimmung der CSU. Und ich denke, da sind aus meiner Sicht ganz entscheidend qualitative Schritte gemacht worden, denn es kommt ja nicht auf Quote und Zahlen in erster Linie an, sondern auf die Konzeption. Und diesen Schritt kann ich gar nicht hoch genug bewerten. Da haben wir etwas hinzu gelernt, auch Anstrengungen unternommen, den Erfordernissen der Realität, so wie sie seit Jahrzehnten ist, Rechnung zu tragen und uns neuen Aufgaben, wie der arbeitsmarktbedingten Zuwanderung zu stellen. Darf ich noch einen Satz hinzufügen, der ist mir ganz wichtig: Ich sehe niemand in unserem Parlament, der sagt: 'Nein, wir haben keine humanitäre Schutzverpflichtung'. Man ist gegen Missbrauch, Dauer der Verfahren - all dem haben wir uns gestellt, will Integration, teilt auch gemeinsam die Sorge: Wir können unsere Probleme nicht einfach über Zuwanderung lösen und demnächst nur noch ausländische Arbeitskräfte holen und uns nicht anstrengen, die eigenen auszubilden. Aber das ist so viel an Gemeinsamkeit, das hätte ich vor einem Jahr nicht erwartet.
Müller: Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber sagt ein klares 'nein' zu mehr quantitativer Zuwanderung; er will also die Zahl nicht erhöhen. Was sagen Sie für die nächsten Jahre?
Süssmuth: Also, wir haben ja bisher in diesem Bereich jährlich - über die Jahre verteilt - immer um die 600.000 bis 800.000 Zuwanderungen gehabt und 600.000 bis 700.000, mal weniger, Abwanderungen, so dass wir im Schnitt immer einen Saldo hatten von 200.000. Es gibt Jahre - 97/98 -, da sind weit mehr weggegangen als gekommen sind, also ein Negativsaldo. Aber das gilt nicht, wenn Sie über die lange Zeit das vergleichen. Es geht jetzt nicht darum, eine Öffnung vorzunehmen - auch in unserer Kommission nicht -, die also einen ungesteuerten Zustrom nimmt. Also, wir reden zur Zeit im Bereich der dauerhaft Zuwandernden, der befristeten Zuwandernden und der frühsten Vorsorge für Nachwuchs im Bereich der Ausbildung von 50.000. Diese Größenordnung schauen Sie sich an. Selbst wenn ich in der ersten Gruppe noch der Familiennachzug hinzukommt, gehen wir sehr verantwortlich damit um. Aber es geht jetzt wirklich darum, dass wir auch sagen - der Bevölkerung die Angst zu nehmen -, da kämen Hunderttausende nun plötzlich, aber ihr auch klar zu sagen: Wir müssen jetzt mit der Zuwanderung beginnen und alle Kommenden nicht nur als Belastung zu sehen, sondern - und das sage ich auch gerade in den Südwesten mit ihren hervorragenden Erfolgen in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit: Ihr braucht sie doch.
Müller: Auch wegen der Alterssicherung?
Süssmuth: Also, hier geht es jetzt primär im Augenblick um wirtschaftliche Gründe. Es fehlen uns Fachkräfte, nicht nur im IT-Bereich - Engpässe auf dem Arbeitsmarkt -; meinen Sie, es wäre sonst zur Lösung gekommen, dass bosnische und auch Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Kosovo, die fünf Jahre hier sind und seit zwei Jahren Arbeit haben, hier verlängert bleiben können? Wir brauchen sie, damit Arbeitsplätze im mittelständischen Unternehmen - ob das nun Bauingenieure, Elektrofachleute oder andere sind - nicht verloren gehen. Und deswegen nochmal: Wir brauchen sie jetzt - in kleiner Zahl -, aus demographischen, aus Altersgründen später mehr. Aber wir haben auch gelernt, dass wir es uns nicht länger leisten können, 40-, 45- 50jähige nach Hause zu schicken. In der Schweiz ist der Anteil derjenigen, die bis zum 60. und 65. Lebensjahr arbeiten, fast doppelt so hoch wie bei uns.
Müller: Kostet Zuwanderung etwas?
Süssmuth: Also, man kann Zuwanderung nicht zum Nulltarif haben, und schon gar nicht die Integration. Also, eine Vorstellung, keine Zuwanderung und Integration möglichst zum Nulltarif - das ist nicht miteinander verbindbar. Aber ich kann nur sagen: Alle Investitionen in Integration sind viel sinnvoller angelegt als die Kosten, die Sie haben bei Nichtintegration - Sozialhilfe, Kriminalitätsbekämpfung, Drogenbekämpfung. Und Parallelgesellschaften entstehen dort, wo Integration nicht maßgeblich betrieben wird. Die Niederländer, die ein vorzügliches Konzept haben, von dem wir auch ebenfalls gelernt haben wie von den Kanadiern und andere sagen: 'Hätten wir bloß früher systematischer Integration betrieben, wir hätten manches Problem weniger.'
Müller: Frau Süssmuth, wir sollten die Gelegenheit nutzen, auch zum Zustand der CDU etwas zu sagen. In der CDU wächst die Kritik an der Führung - ist in diesen Tagen zu lesen in den Zeitungen. Welche Kritik haben Sie?
Süssmuth: Also ich denke, dass entscheidend ist, dass diejenigen, die an den Entscheidungsprozessen auch im Berliner Fall nicht teilgenommen haben, genauer erfahren, wie es denn wirklich gelaufen ist. Denn von außen betrachtet - so ging es auch mir, da habe ich gedacht: Wie kann so etwas passieren, dass Menschen beschädigt werden und dass nicht besser gehändelt wird.
Müller: Wissen Sie dass denn inzwischen konkret?
Süssmuth: Ich weiß es inzwischen konkreter, und ich finde, je offener und offensiver man mit einem solchen Problem umgeht, desto besser auch für die Gesamtpartei und für die Klärung der Führungsfragen. Ich wünschte mir sehr, dass alle die Karten offen auf den Tisch legten und nicht einer oder eine verantwortlich gemacht wird, die für das, was da passiert ist - dass es immer sehr stark an der verantwortlichen Führungsperson hängen bleibt. Aber wenn wir in diesen Vorgang Licht bringen wollen, dann wäre es das beste, es würde genau so geschildert, wie es abgelaufen ist.
Müller: Helfen Sie uns doch weiter; wie ist es denn verlaufen?
Süssmuth: Ja, das werde ich nicht tun, das sollten diejenigen tun. Ich habe an diesem Entscheidungsprozess nicht das Geringste an Mitwirkung gehabt. Ich habe es verfolgt wie alle, und wenn man es verfolgt - muss ich Ihnen sagen -, ist es mir so ergangen, wie vielen: Das kann doch nicht möglich sein, dass der Schäuble so beschädigt wird. Ich weiß, die Beschädigung unserer Parteivorsitzenden ist groß, und deswegen möchte ich einfach nur sagen: Ich bitte um Fairness und klare Offenlegung. Je mehr Transparenz da rein kommt, desto besser ist es für Parteimitglieder und Öffentlichkeit, Führungsaufgaben, Führungsprobleme - und was daran an Schwierigkeiten war - wirklich auch zu durchschauen.
Müller: Es gibt Anlass zu Spekulationen darüber; da haben Sie sich ja auch gerade beklagt. Warum geht die Parteiführung denn nach außen nicht damit offener um - die Frage um den Verlauf zur Klärung . . .
Süssmuth: . . . also, das müssen Sie die Parteiführung fragen, das kann ich Ihnen nicht beantworten. Es geht dann immer darum, dass man Sprachregelungen hat, und bei den Sprachregelungen soll dann möglichst wenig an Schaden entstehen und die Dinge beendet werden. Wir haben in dieser Woche erlebt, es ist nicht beendet worden, sondern die Diskussion geht bis zum heutigen Tag weiter. Ich wünsche mir, dass sie beendet wird, aber nicht einfach, indem nun alle schweigen. Denn dann gehen die Spekulationen weiter.
Müller: Ist die Parteiführung professionell?
Süssmuth: Also ich denke schon, dass die Parteiführung nicht besser und nicht schlechter ist als sie auch früher war; also wir haben diese Diskussionen auch früher gehabt. Also, entweder hieß es: Wo bleibt endlich das Machtwort des Kanzlers. Und dann möchte ich ja auch nochmal sagen: Es ist eine Parteiführung, eine junge, die inmitten einer großen Krise die Führung übernommen hat. Da die Krise nicht überwunden ist, denke ich auch, dass wir sehen müssen: Es ist etwas anderes, in sogenannten 'Normalzeiten' - oder in Umbruch- oder Krisenzeiten zu führen. Auch da bitte ich nochmal um Fairness. Und das, was wir früher gegen uns gelten lassen mussten - führt nur einer, oder führt Ihr mit, die Ihr da im Führungsgremium seid -, dann komme ich nochmal zu dem Ergebnis: Es sind alle an der Führung beteiligt, und das kann man nicht auf eine abwälzen.
Müller: Freuen Sie sich auf Helmut Kohl im Berliner Wahlkampf?
Süssmuth: Also, ich habe keine Schwierigkeiten damit, dass er dabei ist. Warum soll ich mich freuen oder nicht freuen? Wenn er auftreten möchte - und Berlin ist ein Ort, wo er viele symbolträchtige Erinnerungen hat - und wo er auftreten will: Also, in der Demokratie ist niemand daran gehindert, und dann lass er es tun.
Müller: Ist es gut für die Partei?
Süssmuth: Also, das weiß ich nicht, ob es gut oder schlecht ist. Jedenfalls in meiner Partei wird die Mehrzahl sagen: Es ist gut, dass er das macht. Und es gibt Minderheiten, die sagen: Es ist nicht gut, dass er es macht. Und wenn Sie mich fragen, soll er das tun; ja - lass er es tun. Nur so können die Menschen Erfahrungen mit ihm, und er mit den Menschen Erfahrungen machen.
Müller: Frau Süssmuth, vielen Dank, dass Sie für uns Zeit gefunden haben.