Statistisches Bundesamt
Suizidzahlen steigen weiter

Rund 10.300 Menschen haben sich vergangenes Jahr das Leben genommen. Das sind etwa 1,8 Prozent mehr als im Vorjahr, wie das Statistische Bundesamt zum morgigen Präventionstag gegen Suizid mitteilte. Experten halten viele Fälle für vermeidbar.

    Ein Mann steht allein an einem Fenster und schaut nach draußen
    Vor allem bei älteren Menschen nahm die Zahl der Suizide zu. (Archivbild) (picture alliance / dpa / Thomas Eisenhuth)
    Der niedrigste Stand wurde 2019 mit 9.000 Fällen verzeichnet, der höchste 1981 mit 19.000. Deutlich höher ist die Zahl der Suiziversuche. An jedem Tag vollziehen in Deutschland knapp 28 Menschen eine solche Tat und schätzungsweise 500 Personen begehen einen Versuch. Über alle Altersgruppen hinweg töten sich deutlich mehr Männer als Frauen selbst. Bei den 10- bis unter 25-Jährigen war es die häufigste Todesursache vor Verkehrsunfällen und Krebs.
    Zugenommen aber hat die Zahl der Suizid in den vergangenen 20 Jahren vor allem unter älteren Menschen. Am stärksten bei Menschen über 85 Jahre. Diese Entwicklung ist teilweise auch auf demografische Effekte zurückzuführen. Die Zahl der Menschen in der Altersgruppe 85-plus hat sich seit den Nullerjahren mehr als verdoppelt, was in etwa auch dem Anstieg der Suizide in dieser Altersgruppe entspricht.

    Viele Todesfälle wären vermeidbar

    Experten betonen, viele Fälle wären vermeidbar. Nötig sei ein gesellschaftliches Klima, in dem die Problematik ernst genommen werde. Es gehe darum, von einer Kultur des Schweigens und des mangelnden Verständnisses wegzukommen, sagte der Leiter des Nationalen Suizidpräventionsprogramms, Lindner, in Kassel.
    Betroffenen fällt es den Angaben zufolge zumeist schwer, über ihre Suizidgedanken zu sprechen. Häufig bestehe die Angst dann darin, nicht ernst genommen, als psychisch krank bezeichnet zu werden oder die Selbstbestimmung durch Zwangseinweisung zu verlieren.

    "Soziale Kontakte von jungen Menschen beschränkten sich heutzutage oft auf den Schulunterricht"

    Die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, Lewitzka, verwies auf den Aspekt der Einsamkeit - auch unter Jugendlichen. Deren soziale Kontakte etwa beschränkten sich heutzutage oft auf den Schulunterricht, sagte Lewitzka dem Evangelischen Pressedienst. Im Kampf gegen Einsamkeit gibt es inzwischen auch in der Politik Bemühungen, um Abhilfe zu schaffen.
    Zur Suizidprävention drängen viele Experten aber auch auf neue Bauvorschriften für Eisenbahn- und Auto-Brücken. Das Vorbild Schweiz zeige, dass Suizide an Brücken abnähmen, wenn sie entsprechende Hindernisse hätten, erklärte Lewitzka unter Verweis auf eine Studie. Eine Mehrheit von Menschen, die sich selbst töten wollten, wichen von ihrem Vorhaben ab, wenn es ihnen erschwert werde. Wenn es um eine akute suizidale Krise gehe, sei das Gewinnen von Zeit der wichtigste Faktor: "Die Menschen sind wie im Tunnel. Oftmals sind es zehn Minuten, die zwischen dem Entschluss und der Selbsttötung liegen."

    Vielfältige Gründe für Selbsttötungen

    Die Fachleute fordern zudem, Hilfsangebote und Fortbildungen zur Früherkennung zu stärken. In Deutschland gebe es zwar viele Angebote, doch es mangele immer noch an Aufklärung und Wissen darüber, wo sie zu finden seien, heißt es.
    Für Selbsttötungen sind nach Einschätzung der Experten immer vielfältige Gründe verantwortlich. Weder ein einzelnes Ereignis noch das Vorliegen einer psychischen Erkrankung erklärten alleine einen Suizid. Der Verlust des Arbeitsplatzes, wirtschaftliche Bedrohung und Armut, traumatische Erlebnisse, der Verlust nahe stehender Personen, Rückzug und soziale Isolation gelten als Risikofaktoren.

    Viele Verwandte und Freunde von einem Suizid betroffen

    Forscher gingen lange Zeit davon aus, dass von jedem Suizid durchschnittlich etwa sechs nahe Verwandte und Freunde in Mitleidenschaft gezogen werden. Vermutlich aber liegt die Zahl noch höher.
    Zugleich wird davon ausgegangen, dass weitere Menschen aus dem näheren Umfeld von einem Suizid betroffen sein können, darunter Arbeitskollegen, Mitschüler, Ärzte und Therapeuten, aber auch Polizisten, Feuerwehrangehörige sowie Zeugen suizidaler Handlungen.

    Stiftung Depressionshilfe: Äußerungen wie: "Es hat alles gar keinen Sinn mehr..." ernst nehmen

    Ankündigungen sollte man immer ernst nehmen, betont die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention. Äußerungen wie: "Es hat alles gar keinen Sinn mehr..." seien bei depressiven Menschen Hinweise auf eine ernste Gefährdung. Freunde oder Familienangehörige sollten keine Scheu haben, genauer nachzufragen, raten die Experten.
    Lebensmüde Gedanken kämen im Rahmen von Lebenskrisen bei allen Menschen vor. Suizide erfolgten hingegen fast immer vor dem Hintergrund einer nicht optimal behandelten psychischen Erkrankung, am häufigsten einer Depression, aber auch bei Schizophrenie, Suchterkrankungen oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen.

    Erster Ansprechpartner ist der Hausarzt

    Der erste Ansprechpartner ist der Hausarzt, der Betroffene überweisen kann. Wer unsicher ist, kann sich an das Info-Telefon Depression wenden (0800-3344533) oder an die Telefonseelsorge (0800-1110111, 0800-1110222 oder 116123, auch per Chat oder Mail).
    Besteht eine akute Lebensgefahr, sollten Betroffene umgehend die nächste psychiatrische Klinik aufsuchen oder den Notarzt unter 112 rufen.

    Die Rolle der Politik und des Bundesverfassungsgerichts

    2020 hat das Bundesverfassungsgericht zwar entschieden, dass das Recht auf selbstbestimmtes Sterben die Freiheit einschließt, sich das Leben zu nehmen. Im Umkehrschluss ermunterten die Richter aber dazu, einen Rahmen zu setzen, damit Suizide nicht durch äußeren Druck oder aufgrund von Depressionen erfolgten.
    Im Sommer 2023 forderte der Bundestag Bundesgesundheitsminister Lauterbach (SPD) mit überwältigender Mehrheit auf, einen Gesetzentwurf zur Suizidprävention vorzulegen; das ist bislang nicht geschehen. Eine vom Parlament ebenfalls geforderte Nationale Suizidpräventionsstrategie, zu der auch etwa das Bau- und andere Bundesministerien und die Länder gefragt waren, hat das Gesundheitsministerium im Mai veröffentlicht.

    Haben Sie Selbstmordgedanken?

    Wenn Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, oder jemanden kennen, der suizidgefährdet ist, suchen Sie Hilfe. Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0800/1110111 und 0800/1110222. Auch ein Kontakt per Chat und E-Mail ist möglich: www.telefonseelsorge.de
    Diese Nachricht wurde am 09.09.2024 im Programm Deutschlandfunk gesendet.