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Sunniten und Schiiten
Analyse eines religiösen Konflikts

Oft ist die Rede von einem Konkurrenzkampf zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Und meist wird im gleichen Atemzug davon gesprochen, dass es eigentlich um einen religiösen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten gehe. Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur hat untersucht, welche Rolle Religion in diesem Kampf um Vorherrschaft im Nahen Osten wirklich spielt.

Von Stephanie Rohde |
    Ein aufgeschlagener Koran
    Ein Streitpunkt zwischen Sunniten und Schiiten betrifft die Frage über den Ursprung des Koran. (picture alliance / dpa / Bilawal Arbab)
    Geht es beim Konflikt der Schiiten und Sunniten im Nahen Osten noch um Religion? So könnte der Untertitel dieses Buchs lauten. Und um das zu beantworten, muss man mehr als 1300 Jahre zurückspringen.
    "Entstanden ist die Schia durch einen Konflikt, dessen Ursprung eher politisch denn religiös ist."
    Und zwar in den Jahren 656–661 n. Chr., als Muslime darüber stritten, wer der rechtmäßige Nachfolger des Propheten Mohammed ist und darüber der erste islamische Bürgerkrieg ausbrach, die sogenannte Fitna.
    "Sie hatte rein politische, keine religiösen Ursachen. In erster Linie handelte es sich um einen Konflikt zwischen zwei rivalisierenden Clans."
    Die Sunniten wollten lediglich, dass der Nachfolger aus Mohammeds Stamm kommt, während eine kleine Gruppe der Anhänger Alis, des Cousins von Mohammed, nur einen Blutsverwandten als Anführer sahen. Sie nannten sich schi'at Ali, also die "Partei Alis". Doch sie scheiterten mit dem Vorhaben, ihren dritten Imam als Oberhaupt der islamischen Gemeinde einzusetzen: In der Schlacht von Kerbela im Jahre 680, als der Prophetenenkel Husain getötet wurde.
    "Vor 680 hat es eine schiitische Religiosität gar nicht gegeben, und zu einer Konfession entwickelte sich die Schia erst nach der Katastrophe von Kerbela, nach ihrem politischen Scheitern also."
    Seitdem werfen sich Sunniten und Schiiten gegenseitig vor, den unrechtmäßigen Nachfolgern Mohammeds anzuhängen und den Koran falsch zu deuten. Das scheint zwar lange her zu sein, ist aber heute in den Köpfen von Sunniten und Schiiten noch sehr präsent – und taucht als Vorwurf im Konflikt im Nahen Osten immer wieder auf. So erklärt sich, dass Katajun Amirpur so viele Seiten ihres Buches "Der schiitische Islam" damit verbringt, diesen Urkonflikt nicht nur politisch aufzuarbeiten.
    Streit um die Frage des Ursprungs des Koran
    "Es geht ganz stark um die theologischen Grundlagen dieses Konflikts, also das ist etwas, was in der breiteren wissenschaftlichen Literatur im deutschen Raum noch nicht vorhanden ist."
    In dieser detaillierten Darstellung zeigt Amirpur, warum die zentralen Streitpunkte zwischen Sunniten und Schiiten auch heute noch zu unterschiedlichen Rechtsauffassungen führen. Da ist beispielsweise die Frage, ob der Koran von Gott erschaffen wurde, wie es in einer prägenden schiitischen Tradition beschrieben ist, oder schon immer existierte, wovon bedeutende sunnitische Theologen ab dem 9. Jahrhundert überzeugt waren. Und das hat laut Amirpur sichtbare Folgen:
    "Denn ein erschaffener Koran lässt viel mehr Raum für Interpretation, eine Interpretation, die beispielsweise Menschenrechte und Frauenrechte anerkennt. Diese Sicht auf den Koran trennt Schiiten und Sunniten bis heute und macht einen sehr gewichtigen Unterschied aus."
    Dieser Teil liest sich mitunter etwas kompliziert, da viele arabische Begriffe und theologische Konzepte auf einen einprasseln, ist aber lohnenswert.
    Ihrer schlüssigen Gliederung folgend untersucht Amirpur dann die aktuellen Konflikte im Nahen Osten. Zuerst beackert sie ihr Spezialgebiet, die schiitischen Diskurse im Iran, wobei man viel über demokratische Vordenker und revolutionären Schiismus erfährt. Am spannendsten liest sich aber das letzte Kapitel mit dem Titel: "Revolution überall", in dem die Journalistin die sunnitisch-schiitischen Konflikte unter anderem in Syrien, im Irak und im Libanon diskutiert. Dieses thesenreiche Kapitel hätte ruhig etwas ausführlicher sein können. Darin versucht Amirpur aufzuzeigen, inwiefern der Konflikt zwischen Saudi Arabien und Iran von Machtstreben und nicht von Konfession geprägt ist. Und das gelte auch für die Stellvertreterkriege:
    "Und auch am Beispiel Syrien zeigt sich wieder, dass mehr die Politik als die Religion eine Rolle spielt. Die iranische Allianz mit Assad ist keine religiöse, auch wenn sie oft als eine solche dargestellt wird."
    Aber Amirpur verkennt nicht, dass Religion in diesem politischen Machtkampf zwischen Saudi-Arabien und Iran ein wichtiger Faktor ist: Sie wird gezielt instrumentalisiert, meint Amirpur - und zwar mit Verweis auf den Grundkonflikt zwischen der Schia und der Staatsreligion in Saudi-Arabien, dem Wahhabismus:
    "Tatsache ist, dass der Wahhabismus eine ganz stark antischiitische Ausrichtung hat, was sehr natürlich ist: Die Wahhabiten sagen, die einzig wirklich goldene islamische Zeit war die unter den drei ersten Kalifen, aber diese drei ersten Kalifen werden von den Schiiten keineswegs als rechtgeleitete Kalifen angesehen, weil sie Ali die Macht weggenommen haben. Und insofern hat die Shia einfach in ihrer dogmatischen Grundlage eine Idee, die den Wahhabismus nicht akzeptieren kann."
    Interessant daran ist, dass Iran anders als Saudi Arabien diese theologischen Unterschiede bewusst nicht betont.
    "Da Iran ja die Vorherrschaft will, sind sie gut beraten, diese ganzen Unterschiede kleinzureden. Denn sonst können sie ja als schiitische Macht, die gerade mal zehn Prozent aller Muslime repräsentiert, schlecht hingehen und sagen, wir sind der eigentliche Repräsentant der Muslime. Also da muss man sehr "ökumenisch" vorgehen und Unterschiede negieren, und dann kann man sich als so eine Art Papst versuchen zu etablieren, wie Khomeini das ja versucht hat."
    Obwohl Amirpur anfangs herausgearbeitet hat, dass der sunnitisch-schiitische Konflikt vor 1300 Jahren im Ursprung ein politischer war und auch heute noch von profanem Machtstreben getrieben ist, kommt sie dennoch zu diesem Schluss:
    "So klar es ist, dass die aktuellen politischen Konflikte mit dem uralten religiösen Schisma zwischen Sunniten und Schiiten verbunden sind, so schwer ist dennoch zu sagen und auseinanderzuhalten, was wen beeinflusst und ausmacht bzw. was das Ausschlaggebende ist: Politik oder Religion."
    Damit hat Amirpur ihre anfangs aufgestellte These, dass dieser Konflikt im Kern ein politischer ist, stark aufgeweicht. Dass die Wissenschaftlerin ihre These nach einer Prüfung wiederlegt, ist hoch anzuerkennen und nur konsequent, schließlich zeigt sie auf rund 250 Seiten, dass Religion und Politik im Falle Irans und Saudi-Arabiens analytisch kaum voneinander zu trennen sind.
    Wer sich jemals die Fragen gestellt hat: "Warum eigentlich bekämpfen sich Sunniten und Schiiten so ausdauernd?", findet in diesem Buch zahlreiche präzise Antworten - bei denen die Schiiten an einigen Stellen moderner wirken als die Sunniten. Anders als in ihrem letzten Buch "Den Islam neu denken" finden sich hier deutlich weniger überraschende Sichtweisen. Aber als kleine Bonbons funkeln in dieser historisch-theologischen Darstellung immer mal wieder Anekdoten, etwa darüber, warum Iraner den Frauennamen Aischa ablehnen. Wer mitdiskutieren will über den Machtkampf zwischen Sunniten und Schiiten im Nahen Osten, dem wird dieses Grundlagenbuch als verlässliches geistiges Geländer dienen.
    Katajun Amirpur: "Der schiitische Islam – Katajun Amirpur"
    Reclam Sachbuch, 7,60 Euro, 253 Seiten