"Auch vor dir entsandten wir nur (sterbliche) Männer, denen wir uns offenbarten. Fragt nur das Volk der Ermahnung, falls ihr es nicht wisst."
Dass der Koran an vielen Stellen kein Buch ist, das sich durch einfache Lektüre erschließt, ist bekannt. Es gibt aber einige viel diskutierte Passagen, deren genaue Aussage nicht nur umstritten, sondern unklar ist. Oder anders gesagt: Mann kann nicht genau bestimmen, auf welches Ereignis sich ein bestimmter Vers tatsächlich bezieht.
Dieser Vers findet sich im gleichen Wortlaut und im gleichen Kontext zweimal im Koran. Einmal in der Sure al-Nahl (16: 43) und einmal in der Sure al-Anbiyâʾ (21: 7). Beide wurden in der mekkanischen Periode der Prophetie Mohammeds hinabgesandt.
Für die Auslegung und das richtige Verständnis dieser Passage ist der arabische Begriff "ahl al-dhikr" von entscheidender Bedeutung, welcher in der Regel als "das Volk der Ermahnung" oder als "die Leute der Ermahnung" übersetzt wird.
Daher ergeben sich folgende Fragen: Welches Volk ist mit dieser Bezeichnung konkret gemeint? Gibt es noch andere Auslegungsmöglichkeiten für diesen Begriff? Wenn ja, wie kann man diesen Vers unter Berücksichtigung der Koranwissenschaften anders verstehen und interpretieren?
Als Anlass für die Offenbarung dieses Verses wird in den Quellen der Koranexegese angeführt, dass die Polytheisten von Mekka Einspruch gegen die Prophetie Mohammeds erhoben hätten. Ein Prophet könne nicht aus den Reihen der Menschen kommen, Speisen essen und auf Märkten umhergehen, sondern müsse aus den Reihen der Engel stammen.
Als Antwort auf diesen Einwand der Mekkaner sei der genannte Vers offenbart worden, der den Polytheisten Unwissenheit in dieser Frage vorwirft. Denn Gott habe auch schon davor "sterbliche Männer" als Propheten gesandt. Die Polytheisten werden deshalb dazu aufgefordert, das "Volk der Ermahnung" zu befragen, um die Wahrheit bezüglich dieser Streitfrage zu erfahren.
Ausgehend von einer literarischen und kontextuellen Betrachtungsweise wird in den meisten Koranauslegungen erklärt, dass es sich bei diesem Volk um das "Volk des Buches", arabisch: "ahl al-kitâb", handele - also um Juden und Christen. Deren Propheten stammten ihren Büchern zufolge ebenfalls aus den Reihen der Menschen. Indem der Koran die Mekkaner auf die Erklärungen der Juden und Christen verweist, bezweckt er vermutlich, deren Einspruch und unhaltbaren Argumente gegen die Prophetie Mohammeds aus der Welt zu schaffen.
Unter Berufung auf Gelehrte wird in den Koranauslegungen aber auch berichtet, dass mit der Bezeichnung "Leute der Ermahnung" die "Leute des Korans" gemeint seien, sprich die gläubigen Gelehrten, die den Koran kennen und mit seinen Bedeutungen vertraut sind. Das Wort "Ermahnung" wird nämlich im Koran auch mehrere Male als ein Eigenname des Korans verwendet.
Die islamischen Mystiker indes verstehen unter dem Begriff "ahl al-dhikr" vielmehr die Leute, die die höchste Stufe der Gotteserkenntnis ("maʿrifat Allâh") erlangt haben und auf verschiedenen spirituellen Stationen durch göttliche Inspirationen von Gott berichten können.
Eine weitere Auslegung will unter der Bezeichnung die islamischen Rechtsgelehrten verstanden wissen. Demnach weist der Vers darauf hin, dass Rechtsauskünfte bei fachkundigen Gelehrten einzuholen seien. Der Vers gestatte Juristen die Ausübung des so genannten Idschtihâds, heißt es - also das Verfahren zur eigenständigen Meinungsbildung in einer juristischen Frage.
Im heutigen Sprachgebrauch der Muslime ist der Bedeutungsgehalt des Ausdrucks noch weiter ausgedehnt worden, sodass darunter allgemein die Fachkundigen und Experten eines beliebigen Wissenschaftszweigs beziehungsweise einer beliebigen Sache verstanden werden. Demnach hat man sich bei Angelegenheiten, mit denen man nicht vertraut ist, jeweils an diejenigen zu wenden, die sich damit auskennen. Also: "Wenn ihr nicht wisst, so fragt die Wissenden."