"Siehe, Gott gebietet Gerechtigkeit und dass man Gutes tut und dem Verwandten spendet. Und er verbietet Laster, Verwerfliches und Freveltat. Er ermahnt euch. Vielleicht lasst ihr euch mahnen!"
Dieser Vers wie auch die nachfolgenden Verse fassen die Grundlagen der koranischen Auffassung von Moral und Gerechtigkeit zusammen. In den historischen Quellen wird die Begeisterung der ersten Hörer über die ethische Botschaft dieses Verses wiedergegeben. Seine positive Wirkung bewegte demnach sogar einige Hörer dazu, den Islam anzunehmen.
Den Muslimen war der Stellenwert dieses Verses und seines Inhaltes stets bewusst. Der Umayyaden-Kalif Umar Ibn Abd al-‘Azîz beauftragte die Imame seiner Zeit damit, jede Freitagspredigt mit diesem Vers zu beenden. Seitdem ist diese Tradition in der ganzen islamischen Welt bis heute lebendig.
Inhaltlich thematisiert der Vers drei positive und drei negative moralische Werte. Zu den positiven gehört zunächst die Gerechtigkeit - arabisch: ‘adl. Der koranische Gebrauch dieses Wortes beschreibt einen idealen Zustand des sozialen Zusammenlebens. Dieser zeichnet sich durch die Ausgewogenheit der Gesetze, der Rechtsprechung und des Strafvollzugs aus.
Spätere muslimische Gelehrte haben dieses Verständnis noch erweitert. Bei ihnen umfasst der Begriff "Gerechtigkeit" auch den Bereich des Glaubens an den einen Gott. Monotheismus ist demzufolge eine Art "Gerechtigkeit", weil er"die Rechte Gottes - zum Beispiel angebetet zu werden - anerkennt und ihre Einhaltung fordert. Sogar muslimische Gelehrte, für die "Gerechtigkeit" ein rationales Prinzip ist, betrachteten den Vers als zentrales Argument für ihre Auffassungen.
Der zweite positive Wert in diesem Vers besagt: dass man uneigennützig Gutes tun beziehungsweise wohlwollend sein soll - arabisch: ihsân. Viele muslimische Gelehrte haben "das Gute" hier als eine Art Verzicht auf das eigene Recht oder den eigenen Anspruch auf etwas verstanden. Zur Verdeutlichung wird auch ein Zitat von Jesus herangezogen: "Tut denen wohl, die euch hassen". (Lukas 6:27)
Jenseits dieses sozialen Aspekts des "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" verstehen muslimische Gelehrte den Wert des "ihsân" auch theologisch, und zwar dahingehend, dass man Gott anbeten solle, als würde man ihn sehen.
Der dritte positive Wert, der im Vers angesprochen wird, ist die Spende an Verwandte. Dies schließt Nächstenliebe aus eigenem Antrieb heraus ein, also noch bevor man um etwas gebeten wird, sowie das Aufrechterhalten guter Beziehungen zur Familie im Allgemeinen.
Der erläuterte Verse thematisiert auch drei negative Werte: Laster, Verwerfliches und Freveltaten. Ein Laster (arabisch: fahschâ‘) kann sich auf jede Handlung beziehen, die die von Gott gesetzten Grenzen überschreitet.
Im Koran bezeichnen Worte, die mit dem arabischen Begriff für Laster verwandt sind, oft Verstöße gegen die Sexualmoral. Einige Gelehrte verstehen unter "Laster" aber auch alle nicht sichtbaren Sünden wie Lügen, Verleumdung, falsche Anschuldigungen oder Habsucht.
Im Gegensatz zum nicht sichtbaren Laster steht die verwerfliche Tat. Muslimische Philosophen sind zudem der Meinung, dass damit jene Sünden gemeint sind, die aus Jähzorn begangen werden, im Drang nach Macht verwurzelt sind und sich durch Gewalt ausdrücken.
Unter Freveltat schließlich ist die Verletzung der eingangs betonten Gerechtigkeit zu verstehen. Darunter zählt man den Verstoß gegen das göttliche Gesetz und die Rechte anderer Menschen sowie die Rebellion gegen die eigene Gemeinde.
Der Vers vermittelt somit indirekt, dass Gott nicht nur gerecht ist, sondern den Menschen auch hohe moralische Werte auferlegt. Erst dadurch haben sie die Gelegenheit, ebenfalls gerecht zu sein. Die Gerechtigkeit zu verteidigen und dafür einzustehen wird mithin selbst zu einem moralischen Wert.
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