"Und als [die Ehefrau von 'Imran] es geboren hatte, sprach sie: ‚Mein Herr, ich habe es als Mädchen geboren!' - Gott wusste sehr genau, was sie geboren hatte; denn ein Knabe ist nicht wie ein Mädchen! ‚Sieh, ich nannte sie Maria, und sie und ihre Kindeskinder, die stelle ich unter deinen Schutz vor dem verfluchten Satan.'"
Die dritte Sure mit Namen "Die Sippe des 'Imran", aus der dieser Vers stammt, gibt Ereignisse aus der Abstammungslinie von Maria wieder - mithin auch von ihrem Sohn Jesus. In dem zitierten Vers weiht eine nicht näher benannte Frau das Kind, das sie in ihrem Mutterleib trägt, dem Dienste Gottes. Als ein Mädchen geboren wird, gibt sie ihm einen Namen und bittet Gott um Schutz für das Kind und seine Nachkommen.
Der Koran-Kommentar Tafsîr al-Dschalâlain aus dem 15. Jahrhundert besteht auf der Auslegung, dass Marias Mutter lieber einen Jungen gehabt hätte, weil ein Junge für den Dienst an Gott geeignet sei. Ein Mädchen indes sei ungeeignet, heißt es weiter, aufgrund seiner Schwachheit, seiner zu bedeckenden Scham - arabisch: 'awra - und aufgrund von Begleiterscheinungen der Menstruation.
Andere Koran-Kommentatoren, darunter der berühmte al-Tabarî (9. Jahrhundert), bilden Meinungen ab, die die männliche Stärke als Hauptunterschied zur Frau betonen, oder die auf die weibliche Unreinheit abheben - vor allem während der Menstruation.
Diese Hervorhebung weiblicher Defizite, ausgehend von einer männlichen Norm, ist merkwürdig. Der Vers selbst gibt keinerlei Hinweise auf Mängel oder Fehler einer Frau. Stattdessen erhebt er eher das Weibliche zur Norm, an der das Männliche verglichen wird - verglichen und vermutlich für mangelhaft befunden, denn wenn ein Mann für die vorgesehene Aufgabe des Dienstes an Gott besser geeignet gewesen wäre, wäre Gott sicherlich in der Lage gewesen, die Geburt eines Jungen sicherzustellen - schließlich formt Gott die Menschen im Mutterleib.
Grammatikalisch wird in vielen Koran-Passagen die männliche Form benutzt, wenn es neutral um alle Menschen geht. Frauen sind dann entweder indirekt mit eingeschlossen (4:1) oder werden als zweite Geschlechtskategorie direkt erwähnt (33:35). Im hier vorliegenden Vers liegt der Fokus jedoch allein auf einer Frau, wenn auch auf einer besonderen.
Man könnte daraus schließen, dass gerade der Menstruationszyklus, den die klassischen Koran-Kommentatoren als Mangel abtun, entscheidend für Marias Rolle ist: Schließlich folgen in ihrem Leben die Empfängnis, die Schwangerschaft und die Entbindung Jesu. Und das sind nun einmal Aufgaben, die gemäß Gottes üblicher Bestimmung eine Frau erfordern.
Maria ist die einzige Frau, die im Koran explizit mit Namen genannt wird. Auf die anderen Frauen wird lediglich Bezug genommen als Ehefrauen oder Verwandte von Männern - zum Beispiel die Frauen des Propheten oder die Mutter und die Schwester von Mose. Wieder andere werden bei ihrem Titel genannt wie die Königin von Saba. Marias Name indes ist so signifikant, dass Jesus im Koran mit einem Matronymikon bezeichnet wird - also: Jesus, Sohn der Maria.
Zudem wird Maria - obwohl sie eine Frau ist - explizit aufgefordert, sich zum Gebet niederzuwerfen - und zwar im gleichen Atemzug mit der üblichen Aufforderung an die Gruppe der Männer (3:43).
Selbst wenn also die Weiblichkeit in manchen Belangen entscheidend für die Rolle einer Frau ist, und selbst wenn "ein Knabe nicht wie ein Mädchen" ist, so ist die Frau dem Mann in anderen Belangen sehr wohl gleichgestellt - in jedem Fall ist es diese besondere Frau namens Maria.