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Sure 4 Vers 135
Aufstehen für Gerechtigkeit

Ein Teil dieses Verses findet sich am UNO-Hauptquartier in New York. Der südafrikanische Islamtheologe Farid Esack erläutert ihn mit einer ganz persönlichen Stellungnahme. Er sieht in den Worten einen flammenden Appell zu Gerechtigkeit im Alltag, im Nahostkonflikt, in Pakistan - selbst wenn einem das große Nachteile einbringen sollte.

Von Prof. Dr. Farid Esack, Universität Johannesburg |
    "O ihr, die ihr glaubt! Steht als Zeugen für Gott ein für die Gerechtigkeit, auch wenn es gegen euch selber ist oder die Eltern und Verwandten! Ob es ein Reicher oder ein Armer ist - Gott ist beiden näher."
    Dieser Vers, von dem ein Teil am Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York eingraviert ist, ist wahrscheinlich mein Lieblingsvers im Koran und spiegelt zugleich wider, was für ein schwieriger Gläubiger ich selbst bin.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Pflanzen und Tiere haben verschiedene Mechanismen entwickelt, um sich gegen Fressfeinde zu verteidigen: Dornen, abscheuliche Gerüche. Für die meisten Geschöpfe ist Selbstverteidigung eine natürliche Angelegenheit. Menschen bilden da keine Ausnahme.
    Aber sich zu erheben, um sich selbst, seinen Stamm oder seine Familie zu verteidigen, ist weder besonders lobenswert noch ein Beweis dafür, dass wir auf die Würde der Menschheit eingeschworen sind. Dass wir moralische Wesen sind, können wir nur aufrichtig unter Beweis stellen, wenn wir uns - sollten sie sich ungerecht verhalten - gegen die eigene Familie, den eigenen Klan, die eigene Nation oder die eigene Religionsgemeinschaft erheben - und sogar "wenn es gegen euch selber ist", wie der Vers betont. Es reicht nicht, zu sagen: "Nie wieder!" Und damit ist dann nur gemeint: "Es soll nie wieder uns treffen, wenn es aber andere trifft, na, dann ist es eben so."
    Farid Esack im bunten Hemd vor einer Bücherwand.
    Professor Esack lebt und lehrt in Südafrika. Während der Apartheid engagierte er sich im Kampf gegen die Rassentrennung. (priv.)
    Ich sehne mich nach dem Mut, die Wahrheit darüber zu sagen, was Muslime Christen und jenen Gruppen antun, die wir in meinem zweiten Heimatland Pakistan willkürlich als Nichtmuslime definieren. Ich sehne mich nach dem Mut, die Wahrheit über die Mitschuld der Muslime an den Verbrechen gegen die Palästinenser zu sagen und über die muslimische Judenfeindlichkeit. Dieser Vers fordert mich heraus, das zu tun, auch wenn ich dafür womöglich materiellen Schaden hinnehmen müsste oder meine weiteren Karriereaussichten deshalb getrübt würden.
    Doch natürlich geht es hier nicht um mich und meine Religionsgemeinschaft - es geht um Gerechtigkeit. Ich mag die Kraft des Aufbegehrens in diesem Vers, seinen Aufruf zum Handeln. Er nährt meine Ruhelosigkeit und mein Verlangen danach, ein Ende der Ungerechtigkeit zu erleben, und danach zu forschen, wie ich selbst an dieser Ungerechtigkeit beteiligt sein könnte.
    Als muslimischer Mann kann ich in der Öffentlichkeit am helllichten Tag Opfer von Islamfeindlichkeit sein, und in der Nacht können meine Frau und meine Schwestern zuhause Opfer meiner Frauenfeindlichkeit und meines Patriarchats sein. Als Mensch mit dunklerer Hautfarbe bin ich vielleicht Opfer von weißem Rassismus und gleichzeitig Rassist bei Menschen mit noch dunklerer Hautfarbe.
    Dieser Vers verlangt, dass ich in meiner Selbstreflexion unnachgiebig bin. Er drängt mich dazu, mich daran zu erinnern, dass Gott über mich wacht - und all meine Doppelzüngigkeit und meine Spielchen kennt.
    Allerdings enthält der Vers auch eine seltsame Wendung, die mir Unbehagen bereitet: "Ob es ein Reicher oder ein Armer ist - Gott is beiden näher." So heißt es im zitierten Vers. Ich kann nicht verstehen, warum Gott Beschützer der Reichen sein will. Sie haben Macht, Systeme und Mittel, um sich selbst zu beschützen. Wieso sollten sie darüber hinaus Schutz brauchen? Ist Gott nicht derjenige, der es vorzieht, die Unterdrückten und an den Rand Gedrängten ausfindig zu machen und zu begünstigen? So wie es in Sure 28 Vers 5 heißt: "Wir entschieden, den Menschen, die im Lande unterdrückt waren, Unsere Huld zu erweisen."
    Warum also würde Gott jetzt Vermittler zwischen Reichen und Armen sein wollen?
    Die Audioversion ist aus Sendezeitgründen leicht gekürzt worden.