"Und weil sie sprachen: 'Wir haben Christus Jesus, den Sohn Marias, den Gesandten Gottes getötet!' - Aber sie haben ihn nicht getötet und haben ihn auch nicht gekreuzigt […] vielmehr hat Gott ihn zu sich erhoben."
Dieser Koranauszug gehört zu einer Sequenz, die vier Verse früher beginnt. Der Korantext antwortet auf eine Bitte der sogenannten Schriftbesitzer. Das ist die Bezeichnung für Juden und/oder Christen beziehungsweise Nazarener, wie sie im Koran der medinensischen Periode genannt werden.
Die Bitte der Schriftbesitzer bestand darin, dass sie einen nicht näherbenannten Gesprächspartner aufforderten, ihnen als Zeichen der Bewährung eine neue himmlische Schrift (kitâb) zu bringen. Dass der Gesprächspartner nicht benannt wird, ist im Koran eine übliche Vorgehensweise. Gemeint ist der Überbringer der Offenbarung, also Mohammed.
Der Korantext reagiert auf die Bitte der Schriftbesitzer mit einer Anschuldigung. Er beschuldigt sie, den Urvertrag der Menschheit mit Gott (mîthâq), den Mose in ihrem Namen geschlossen hatte, wiederholt und in betrügerischer Weise gebrochen zu haben (naqd). Die angeblichen Verstöße - angefangen mit der Anbetung des "Goldenen Kalbs" - werden in den vorausgehenden Versen 153 bis 156 aufgezählt.
Das Volk Mose wird somit als ein Volk gebrandmarkt, das permanent die Zeichen Gottes leugnet (al-kufr bi-l-ayât). Die jüngste Leugnung bezieht sich auf ihre Behauptung, Jesus getötet zu haben - eine Darstellung, die der Koran zurückweist. Der Koran versichert, Jesus sei zu Gott emporgehoben worden.
Hintergrund dieser Verse könnte ein Dialog zwischen Mohammed im Exil in Medina und jenen Juden gewesen sein, die sich weigerten, seiner Offenbarung zu folgen. Mohammed stellte zwar seine Offenbarung in eine Reihe mit den früheren Offenbarungen, die der Koran biblischen Figuren wie Mose zuschreibt. Offensichtlich geschieht das aber ohne jede Verbindung zur jüdischen Realität der damaligen Zeit.
Man kann sich nämlich nur schwer vorstellen, dass sich die Juden von Medina in einem Austausch mit Mohammed die Kreuzigung Jesu selbst zugeschrieben hätten. Im Gegenteil. Man kann eher von einer Totalverweigerung eines solchen Dialogs ausgehen.
Das führte dann wohl dazu, dass der koranische Diskurs sozusagen zu einem Selbstgespräch wurde. Sowohl die Fragen als auch die Antworten in dieser Koranstelle werden formuliert, um den zeitgenössischen Juden ihre Verfehlungen vorzuhalten. Das Ganze scheint sich auf zwei Ebenen zu vollziehen: einmal auf der der Stammesgemeinschaft, die jeden unerlaubten Bruch des Zusammenhalts zu einem Verbrechen erklärt, und einmal auf der Ebene der koranischen Rhetorik selbst.
Jeder "Überbringer einer göttlichen Botschaft", arabisch: "rasûl", und jeder "Prophet", arabisch: "nabî", steht unter dem allumfassenden Schutz des göttlichen Verbündeten. Schließlich hat er ihnen ihren Status verliehen. Das macht es aus koranischer Sicht völlig undenkbar, ihre Tötung oder ihr Martyrium anzunehmen.
Aufgrund der eingangs zitierten Koranpassage wurde die Frage aufgeworfen, ob man eine Verbindung zu Spekulationen bestimmter frühchristlicher Strömungen ziehen könnte. Im zweiten Jahrhundert behaupteten Vertreter des Doketismus oder Gnostiker wie Basilides von Alexandria, Jesus sei bei der Kreuzigung durch Simon von Cyrene ersetzt worden, den die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas als denjenigen erwähnen, der für Jesus das Kreuz getragen habe. Es ist aber nicht zu erkennen, auf welchen Wegen diese Vorstellung mehrere Jahrhunderte später Eingang in den Koran gefunden haben könnte.
Dem Koran genügt mithin seine eigene Logik, um in einem imaginären Dialog Mohammeds mit den Juden von Medina zu dem Schluss zu kommen: Jesus ist nicht am Kreuz gestorben.