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Sure 59 Vers 16
Vergessen ist vielleicht die wahre Hölle

Gott vergessen? Das geht. Der Koran befasst sich sogar explizit damit und mahnt. Nach Einschätzung unseres Koranexperten Milad Karimi von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ist Vergessenheit die höchste Entfernung, "vielleicht die wahre Hölle", die ein Mensch erfahren kann.

Von Dr. Milad Karimi, Universität Münster |
    "Und seid nicht wie jene, die Gott vergaßen und die Er dann sich selbst vergessen ließ."
    Erinnerung ist stets mit Erkenntnis verbunden. Erinnert wird hier die Vergessenheit – gegen die Vergessenheit. Vergessenheit ist ein Motiv im Koran, das nicht selten zu hören ist. Was heißt aber Gottesvergessenheit? Warum Gott nicht vergessen? Immer wieder und immer aufs Neue ist im Koran zu hören, dass der Mensch das Gedenken Gottes in das eigene Leben einbinden soll. Nichts soll geschehen ohne die Erinnerung an den einen Gott. Aber warum? Wer hier Nutzen und Vorteil im materiellen Sinne erwartet, wird enttäuscht sein. Wer aber allein Furcht vor Höllenfeuer hat oder einer anderen plumpen Strafe, wird erleichtert sein.
    Die Vergessenheit ist die höchste Entfernung, vielleicht die wahre Hölle, die der Mensch in der Gottesvergessenheit erfährt. Doch hier tritt Gott nicht selbstgefällig hervor, weil er unbedürftig ist. In der Zuwendung Gottes zu den Menschen avanciert vielmehr der Mensch zum Mittelpunkt. Das menschliche Selbst wird als ein Wert beschrieben, der nicht vergessen werden soll. Gott sorgt sich nicht um sich selbst; seine Sorge gilt dem Menschen. Wer Gott vergisst, der ist selbst vergessen. Mehr noch: er ist sich selbst vergessen. Das Eigentümliche bei der Gottesvergessenheit besteht also darin, dass sie zutiefst die Seele des Einzelnen betrifft. Somit schlägt die größte Entfernung zu Gott in die tiefste Entfernung und Entfremdung von sich selbst um.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Nichts ist uns näher als wir uns selbst. Und doch sind wir uns nicht selten fremd. Von dem Propheten Muhammad ist überliefert, dass er einst bemerkte: „Wer sich selbst erkannt hat, der hat erkannt seinen Herrn". So kommentierte Abu Hamid Muhammad al-Ghazzali (gest. 1111) einer der größten Gelehrten der islamischen Geistestradition, im 12. Jahrhundert in seiner Schrift Das Elixier der Glückseligkeit des Ausspruch des Propheten: „Daher sollst du nach der Wahrheit deines Selbst streben, was du bist, woher du gekommen bist, wohin du gehst, was der Zweck ist, weswegen du an diese Stätte gekommen bist, weswegen du hervorgebracht worden bist, was deine Glückseligkeit ist und worin sie liegt, was dein Elend ist und worin dein Elend liegt."
    Unablässig Gottes zu gedenken, stellt sich mithin nicht als Selbstzweck dar, vielmehr wird die Hingabe an Gott als Freiheit des Menschen spürbar. Diese Freiheit lässt sich derart begreifen, dass sie die Befreiung von allem Weltlichen, der Begierde, dem Ruhm, dem Zorn, der Gewalt und dem bloßen Reichtum bedeutet.
    Der Islamwissenschaftler und Philosoph Milad Karimi
    Der Islamwissenschaftler und Philosoph Milad Karimi (Peter Grewer)
    Doch im Islam entsagt der Mensch nicht der Welt, er kehrt ihr nicht den Rücken, sondern er bejaht das Leben, die Schöpfung; er ist nicht ohne Begierde, aber seine Begierde hat Maß. Er ist also im positiven Sinne frei, weil er sich damit Gott hingibt. Diese Hingabe bedeutet für den Menschen Erkenntnis, ja Selbsterkenntnis. Die „Veredlung des Charakters" gilt im Islam als Ziel. Von der „Veredlung des Charakters" spricht Friedrich Schiller im 9. Brief seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen als Ideal der Aufklärung. Dafür ist der Gesandte Gottes ein Vorbild, ist er doch nach seinem eigenen Worte entsandt worden, um die Geisteshaltung, den Charakter des Menschen zu vervollkommnen. Der Bund, den der Mensch mit Gott im Akt des Glaubens eingeht, verspricht deshalb Glückseligkeit, weil er den Menschen zum Selbstbewusstsein überführt.