"Trag vor im Namen deines Herrn, der erschuf, erschuf den Menschen aus einem Blutklumpen! Trag vor, denn dein Herr ist im Guten unübertrefflich, der durch das Schreibrohr nahe brachte, den Menschen lehrte, was er nicht wusste!"
In der islamischen Geistestradition gelten gemeinhin diese Verse aus der Sure 96 als die historisch vermittelte erste Regung der Offenbarung überhaupt. Denn der Koran ist in seiner vorliegenden Form nicht historisch-chronologisch aufgebaut. Das erste Wort der Offenbarung heißt programmatisch: "Trag vor". Aus diesem Verb leitet sich das Wort Koran ab. "Koran" bedeutet "ein Vorzutragendes".
Ein einfacher Mensch, dessen Herz voller Sehnsucht nach dem Einen trachtet, zieht sich in eine Berghöhle zurück – fernab von der lärmenden Stadt. Umgriffen von der Finsternis seiner Einsamkeit verweilt er in der Berghöhle – er und seine Einsamkeit. Stille. Was dann an ihm geschieht, ist das Unmögliche: Gott erschütterte ihn mit seiner Offenbarung. Eindringlich wird er von den Worten eines Engels berührt, er solle vortragen. Der Schriftunkundige weigert sich zu tun, was er nicht vermag. Aber der Engel lässt ihn nicht aus seinen Fesseln entkommen und fordert wiederholt: "Trag vor!" Aber der Mensch ist nahezu seines Atems beraubt, wie sein erster Biograph berichtet. So nimmt er sich zurück, und in dieser Zurücknahme erscheint seine Größe. Auserwählt als der Gesandte Gottes artikuliert er die ihm vermittelte Botschaft: "Trag vor im Namen deines Herrn, der erschuf".
Als ihn der Engel zurücklässt und er leise zu sich findet, ist er verwandelt. Gleichsam wie neu geboren ist er nicht mehr derselbe wie zuvor. So ist auch seine Welt verwandelt, ja das Ganze überhaupt. Zitternd steigt er hernieder vom Berge; er hat keine Schrift, keine Tafel und kein Bild erhalten, vielmehr ist ihm allein eine Erinnerung geblieben. Es ist ihm so, wie er selbst berichtet, als wären ihm die Worte ins Herz geschrieben. Und er findet wärmende Geborgenheit bei seiner Ehefrau, die als erste Muslima überhaupt die Ehrlichkeit in seinem Blick erkennt. Sie gibt ihm Zuversicht – Zeit ihres Lebens. So sei gewagt, seinen Namen zu nennen, der sich nicht mehr verschweigen lässt: Muhammad. Er war und blieb bloß ein Mensch. Aber was ist ein Mensch? Friede über den Menschen, der er war, sagt der Koran (37,180), denn fortan war er der Gesandte Gottes. Es wiederholt sich die Offenbarung an ihm, immer und immer wieder; und sie ist immer noch wunderbar.
Das zunächst verborgene Zentrum dieser Verse bildet der Mensch. Der aus einem Blutklumpen Erschaffene wird angesprochen, der aber nicht Blutklumpen bleibt. Offenbarung zeigt sich im Islam also nicht als die Selbstoffenbarung Gottes derart, dass Gott Mensch wird. Vielmehr macht erst der Akt der Offenbarung aus dem Menschen den Menschen.
Bedürftig ist der Mensch; denn bloß den Namen des Menschen zu tragen, "aber tierischer als jedes Tier zu sein", wie Goethe sagt, erweist sich als unzureichend. Endlichkeit umfasst ihn. Und so wird er unmittelbar als Mensch verortet in Bezug auf Gott. Er ist dasjenige Wesen, welches Gott erschaffen hat und dem als Geschöpf Gottes Erkenntnis und Wissen gewährt wird. Allein die Zuwendung des Herrn aller Welten, wie sich Gott im Koran vorstellt, verleiht dem Menschen als Menschen Würde.
Bemerkenswert ist in diesem Koranvers die Betonung der Aneignung des Wissens gerade mit dem Hinweis auf das "Schreibrohr". Denn damit avanciert der Mensch zu einem ausgezeichneten Wesen, das in eine Richtung strebt. Wissen sei als ein erstrebenswertes Gut für die Menschen zu betrachten. Damit ist Gott keine abstrakte Leere, sondern Gott der Menschen, der in seiner Güte dem Menschen Würde verleiht. Was ist also der Mensch? Vielleicht ein Geheimnis Gottes.