Eigentlich ist Stephan Eisel alles andere als ein Promi. Bis 2009 saß er zwei Jahre lang für die CDU im Bundestag, seither arbeitet der 56-Jährige als Projektleiter für die Konrad-Adenauer-Stiftung. Doch vor einigen Wochen wurde der CDU-Politiker ganz unbeabsichtigt zu einer kleinen Internetberühmtheit - und zur Zielscheibe einer regelrechten Kampagne.
Anlass war ein Artikel in seinem Internetblog über die Methoden von "Anonymous": Unter diesem Namen finden sich Netzaktivisten zusammen, die sich auf die Fahnen geschrieben haben, die Freiheit im Internet zu verteidigen. Die nur lose verbundene Gruppe tritt regelmäßig mit politischen Aktionen in Erscheinung und legt zum Beispiel Webseiten von Institutionen und Konzernen lahm. "Anonymous" übe mit den Blockaden ein "digitales Faustrecht" aus und handle undemokratisch, schrieb Stephan Eisel - und wurde damit plötzlich selbst zum Feind der Internetaktivisten. Auf "Facebook" kursierte ein manipuliertes Foto, das ihn mit Seitenscheitel und Hitlerbärtchen zeigt.
Wenig später entdeckte der Politiker und Wissenschaftler auf der Internetplattform "Youtube" mehrere Videos, die sich direkt an ihn richten - versehen mit dem bei "Anonymous" üblichen Musikvorspann:
Hallo Herr Dr. Eisel, wir sind Anonymous. Sie haben in letzter Zeit sehr intensiv über Anonymous und unsere Aktionen geschrieben. Wir finden das sehr schön, dass sich ein Politiker von der CDU für uns interessiert. Allerdings haben wir feststellen müssen, dass Sie sehr einseitig sowie feindselig über uns berichten. Viele von uns sind über die Art Ihrer Berichterstattung erzürnt und machen ihrem Ärger Luft ...
Und das taten sie gründlich - Stephan Eisel ist ein engagierter Internetnutzer. Er hat eine Homepage und einen eigenen Blog - twittert und postet regelmäßig im sozialen Netzwerk Facebook. Seine Artikel und Posts wurden mit Hunderten Kommentaren überhäuft - darunter viele Drohungen und Beleidigungen.
"Nach dem Motto: Wir finden dich schon, wir legen deine Internetseite lahm, es wurde auch auf einer dieser Anonymous-Seite meine Privatadresse veröffentlicht mit dem Hinweis: "Du entgehst uns nicht." Wie ernst das dann tatsächlich gemeint ist, ist dann wieder eine andere Frage, aber auch dieser von Anonymous-Anhängern immer wieder verwendete Slogan "Wir sind viele, aber du kennst uns nicht. Wir sind überall, aber du weißt nicht wo," baut ja indirekt so eine Drohkulisse auf: Stell dich mal nicht gegen uns, wir kriegen dich überall."
Ausschnitt Youtube-Video
Wir sind Anonymous, wir sind viele. Wir vergeben nicht. Wir vergessen nicht. Erwartet uns nicht, denn wir sind schon da!
Stephan Eisel ließ die Diskussionen laufen und löschte nur einige wenige Kommentare, die unter der Gürtellinie waren:
"Dann war sicher ein Teil dabei von Leuten, die generell Formen des halbwegs respektvollen Umgangs untereinander nicht so gewöhnt sind. Das ist ja ein Phänomen im Internet: Man spricht ja außerhalb des Internets vom Stammtischniveau. Aber da gibt, sobald es unter ein bestimmtes Niveau fällt, in der Regel einen, der sagt: Mein lieber Friedrich, jetzt lass' mal gut sein. Das gibt's eben im Internet nicht, diese soziale Erfahrung untereinander."
Längst hat in bestimmten sozialen Gruppen das Internet den traditionellen "Stammtisch" abgelöst: im Positiven wie auch im Negativen. Je mehr Möglichkeiten das Netz bietet, nicht nur Nachrichten zu konsumieren, sondern sich selbst einzubringen mit eigenen Themen, Ideen und Meinungen, desto mehr verlagern sich politische und gesellschaftliche Debatten dorthin. Das, was als Web 2.0 bezeichnet wird, ermöglicht im besten Fall vielfältige und herrschaftsfreie Diskurse - was sich unter anderem in der wachsenden Zahl hochwertiger politischer Blogs dokumentiert. Gleichzeitig tritt aber auch die Kehrseite dieser Entwicklung zutage:
Der übereifrige Stammtischbruder, der mit seinen Polemiken mal übers Ziel hinaus schießt, wird zum sogenannten "Troll", der, oft unter dem Schutz der Anonymität, Blogs und Artikel mit seinen oft rüden Kommentaren überhäuft und damit einen Teil der Debattenkultur im Netz prägt. Besonders wer über Grenzen der Freiheit im Internet schreibt, muss mit heftigen Reaktionen rechnen. Auch Stephan Eisels Parteifreund Ansgar Heveling, bis dahin ein unbekannter Hinterbänkler im Bundestag, wurde regelrecht mit Hohn und Spott übergossen, nachdem er im "Handelsblatt" den Niedergang des Mitmach-Netzes prophezeite und Netz-Aktivisten den Kampf ansagte. Im Minutentakt erschienen daraufhin bei Twitter Kommentare wie diese:
Ansgar Heveling warnt: Wer den Seeweg nach Indien sucht, fällt nur über den Rand der Welt.
Ansgar Heveling fährt nie mit der Bahn. Denn Geschwindigkeiten über 30 km/h machen einen Menschen schwachsinnig.
Jenes "Web 2.0", dessen Ende Heveling prophezeit, zeichnet sich nicht nur durch eine gigantische Informationsdichte und die rasend schnelle Verbreitung von Meinungen aus, auch die Kommunikation wird direkter - und der Umgangston häufig rauer. Das, was Stephan Eisel und Ansgar Heveling erlebt haben, hat sich zu einem verbreiteten Netzphänomen entwickelt, das man als "Shitstorm" bezeichnet. Der Begriff kommt aus den USA und wurde kürzlich zum "Anglizismus des Jahres gewählt" - im Deutschen lässt er sich am besten mit "Empörungswelle" beschreiben: Die öffentliche Aufschaukelung eines Themas, das, oft völlig losgelöst von der Welt außerhalb des Internets, Debatten dominiert, oft aber auch losgelöst von Fakten und sachlichen Argumenten. Kennzeichen solcher Schmähkampagnen sind nicht nur die völlig unkalkulierbare Verselbstständigung eines Themas, sondern auch eine starke Emotionalisierung, erklärt die Bonner Kommunikationswissenschaftlerin Jessica Einspänner:
"Da ist dann auch das Internet der geeignete Raum, in Anführungszeichen, für so eine unsachliche Ebene. Denn es fallen ganz leicht Anonymitätsgrenzen, also man kann anonym an einem solchen Shitstorm teilnehmen, posten und Kommentare abgeben. Man muss nicht den eigenen Namen bekannt geben, sich nicht zeigen, man muss nicht sagen, ob man männlich oder weiblich ist, zu welcher sozialen Gruppe man beispielsweise gehört, das heißt, das ist eine Abwesenheit von "Social cues", wie man das im Fachjargon nennt. Und deswegen entsteht auch die Möglichkeit, leichter unsachlich zu argumentieren. Und wenn dann einer eine Vorreiterrolle übernimmt und vielleicht mit so einem negativen Output beginnt, dann ist es auch leichter für andere, darauf zu reagieren - leider oft auch entsprechend unsachlich."
Eine entscheidende Rolle bei diesen digitalen Erregungswellen spielen häufig Zitate, die verkürzt, aus dem Zusammenhang gerissen oder auch frei erfunden, von Nutzern ungeprüft übernommen werden. Beispiel Bundespräsidentenwahl: Als Joachim Gauck vor zwei Jahren noch als Außenseiterkandidat der Opposition gegen Christian Wulff ins Rennen ging, wurde er im Internet als wahrer Heilsbringer gefeiert. In diesem Jahr dagegen tauchten vor seiner Wahl plötzlich Zitate im Netz auf, in denen Gauck angeblich Sarrazin lobt, Occupy-Proteste kritisiert und die Vorratsdatenspeicherung befürwortet - innerhalb weniger Stunden wurde Gauck vom Netzliebling zum scheinbar unwählbaren Kandidaten. Passend dazu machte in den sozialen Netzwerken ein Foto die Runde, das Gauck mit Sektglas in der Hand zwischen Carsten Maschmeyer und dessen Lebensgefährtin Veronica Ferres zeigt, versehen mit Kommentaren wie:
Noch nicht mal gewählt, schon sieht sich Gauck mit Rücktrittsforderungen konfrontiert!
Breite Zustimmung im Netz, das zeigt nicht nur der Fall Gauck, kann ganz plötzlich in Ablehnung umschlagen. Wenn es früher hieß: Wer mit der "Bild"-Zeitung im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr nach unten, so gilt das in besonderem Maße für das Netz - nur dass dort der Aufzug deutlich schneller fährt. Dass sich im Internet oftmals auch halbwahre oder falsche Informationen ungehindert verbreiten, hängt mit einem weiteren Phänomen zusammen: Das Netz bietet zwar einerseits die Möglichkeit, sich fast unbegrenzt Informationen zu beschaffen. Gerade aufgrund dieser ungeheuren Vielfalt an Stimmen und Meinungen ist aber andererseits die Versuchung groß, sich vorzugsweise auf bestimmten Seiten, Blogs oder innerhalb immer gleicher Gruppen im Netz zu bewegen. Informationen werden nur noch durch die Brille der eigenen Netzwerke betrachtet und dadurch de facto gefiltert. Für Stephan Eisel eine der zentralen Erklärungen für jene "Erregungswellen", von denen auch er erfasst worden ist.
"Ich nenne das die "fragmentierten Echogesellschaften". Das sind Leute in Gruppen, die nur sich selber bestätigen. Es gibt kaum Reflexion. Und das schaukelt sich natürlich gegenseitig hoch, radikalisiert sich, und dann liest man natürlich wechselseitig die Beiträge von Gleichgesinnten und denkt, man müsse da noch einen draufsetzen."
Debatten im Netz werden aber nicht nur durch reine Texte oder auch Fotos transportiert, sondern auch mit Hilfe von selbst produzierten oder zusammengeschnittenen Videos, die Sachverhalte in oft suggestiver oder extrem verkürzter Form transportieren. Im aktuellen Rennen um die Präsidentschaftskandidatur der Konservativen in den USA zum Beispiel kursierten im Netz Videos, in denen die Schwächen und Patzer der Tea-Party-Kandidatin Michelle Bachmann aufs Korn genommen wurden - etwa, als sie sich in ihrer Argumentation zum Ende der Sklaverei verhedderte.
Die Negativ-Kampagne im Netz läutete das Ende ihrer Kandidatur ein. Nachdem sie kurz darauf bei den Vorwahlen in ihrer Heimat Iowa scheiterte, gab Michelle Bachmann auf. Wie sehr im Netz Eigenheiten und persönliche Schwächen bloßgestellt werden und Personen ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, weiß auch Julia Schramm: Die 26jährige ist Mitglied der Piratenpartei, vor Kurzem hat sie ihre Kandidatur für den Bundesvorstand bekannt gegeben.
Seitdem ist sie eine gefragte Gesprächspartnerin, selbst wenn sie in ihrer Heimatstadt Bonn im Café sitzt, steht das Telefon kaum still. Ihr wichtigstes Mittel der politischen Kommunikation aber ist das Internet, die Geschwindigkeit des Kurznachrichtendienstes "Twitter" bestimmt ihr politisches Leben. Je bekannter die Piratin wird, desto häufiger wird sie zum Gegenstand einer Debattenkultur im Netz, die vor allem von kurzzeitigen emotionalen Impulsen bestimmt wird - und hat ihre Konsequenzen gezogen.
"Artikel, die ich schreibe, ignoriere ich im Netz komplett. Also ich weiß, dass der Artikel erscheint, aber die Kommentare unter den Artikeln lese ich nicht. Aus Prinzip nicht. Weil es in 80 Prozent der Fälle beleidigend ist. Es ist aggressiv, es ist herablassend. Und es ist eine Projektion auf mich. Sie reden über etwas, was sie glauben, was ich bin."
Es sind vor allem Männer, die sich im Netz abfällig über Julia Schramm äußern - oft genug auch Angehörige ihrer eigenen Partei. Sie bezeichnet sich selbst als Feministin, hat den "Kegelclub" mit gegründet, das "Genderpolitische Forum" der Piratenpartei. Der offene Sexismus, der ihr im Netz begegne, gehe weit über das hinaus, was man im realen Leben finde, meint Schramm. Zwar würden mittlerweile fast zwei Drittel aller Blogs von Frauen verfasst - dennoch sei männliches Redeverhalten im Internet nach wie vor dominant:
"Das Netz ist tendenziell männlich, weil es männlich geprägt ist, weil Männer es aufgebaut haben, weil bis vor ein paar Jahren sehr wenige Frauen im Internet unterwegs waren. Und das bricht sich jetzt Bahn. Im ersten Moment hat es mich schon überrascht, weil man in der Realität natürlich anderes kennt, weil wir eben diesen Konsens haben, dass man eben nicht sagt: Das passiert, wenn Frauen wählen dürfen. Was mir schon gesagt wurde. Oder: Die soll putzen und nicht quatschen."
Die Währung des Internets ist Aufmerksamkeit, und die bekommt vor allem, wer eher männlich agiert: aggressiv, meinungsstark, respektlos. Dadurch übertragen sich nicht nur Rollenverhalten und -klischees, sondern auch bestehende Machtstrukturen aus der realen auf die virtuelle Welt. Auf der anderen Seite kehren sich durch die gewaltige Demokratisierung der Kommunikationsstrukturen im Internet bestimmte Machtverhältnisse aber auch um: An sich mächtige Politiker oder Institutionen werden vom "Normalbürger" angreifbar, müssen sich im Zweifel für ihr Tun und Handeln rechtfertigen. Darauf müssen sich auch Unternehmen einstellen: Das Internet bietet ihnen fast unbegrenzte Möglichkeiten, Werbung zu platzieren und individuell zuzuschneiden. Aber längst ist der Internetnutzer kein williger Konsument mehr, sondern er kann und will seine Meinung über ein Produkt oder ein Unternehmen kundtun. Während sich die Wirtschaft lange Zeit vor allem mit der Verbreitung von Produkten und Werbung beschäftigt hat, stehen nun andere Themen im Mittelpunkt: Wie trete ich als Marke bei Facebook auf? Wie kommuniziere ich mit meinen Kunden, wie gehe ich mit Kritik um? Jürgen Walleneit hat sich als PR-Berater auf diesen Bereich spezialisiert und lehrt an der "Westdeutschen Akademie für Kommunikation". Er kann dieser Entwicklung durchaus positive Seiten abgewinnen:
"Gott sei Dank ist das heutzutage so. Früher wurde Werbung abgeliefert, und der Konsument wurde nach dem "Friss-oder-Stirb"-Prinzip einfach bespaßt. Und das lassen sich die Konsumenten heutzutage nicht mehr gefallen. Die wollen Ehrlichkeit, die wollen Markenversprechen, die auch eingelöst werden Und sie wollen Produkte kaufen, die ihnen sehr viele Mehrwerte bieten, und sie wollen diese auch beurteilen. Und da entsteht eine sehr ehrliche Kommunikation zwischen Konsument und Hersteller der Marke. Da hat sich einiges geändert."
Das bedeutet aber auch, dass sich Unternehmen der oft unbarmherzigen Netzkritik stellen müssen. Die Kunden erwarten, dass sie sich schnell, transparent und offen ihren Anliegen widmen - und das rund um die Uhr. Wer diesen Ansprüchen nicht genügt, kann leicht einen sogenannten "Social-Media-GAU" provozieren. Die Folge ist nicht nur ein erheblicher Reputationsschaden für die Marke. Oft brechen zusätzlich auch die Umsätze ein. Das musste die Firma Nestlé schmerzlich erfahren, als bekannt wurde, dass sie für die Herstellung von Schokoriegeln Palmöl verwendet. Umweltaktivisten verbreiteten daraufhin Videos, die sehr plakativ und äußerst emotional darstellten, wie durch den Palmölanbau der Lebensraum von Orang-Utans zerstört wird. Es folgten millionenfache Kommentare in den sozialen Netzwerken - ein digitaler Wutausbruch, der aus Sicht von Jürgen Walleneit aber durchaus vermeidbar gewesen wäre:
"Im Nachhinein, wenn man die ganze negative PR-Kampagne analysiert, kochte das Thema immer wieder dann hoch, wenn die Pressestellen von Nestlé sich falsch verhalten haben. Also sie haben zum Teil zensiert, sie haben unverschämte Rückantworten gegeben, sie haben nicht transparent über das Palmöl aufgeklärt. Und letztendlich ist es dann doch aus dem Produkt verschwunden. Man hätte von vorneherein sagen können: Sorry, wir haben einen Fehler gemacht, wir werden künftig kein Palmöl mehr verwenden, und dann wäre die Sache aus der Welt gewesen, und man hätten von vorneherein ein besseres Produkt gehabt."
Die neuen Möglichkeiten im Netz bedeuteten eben auch, dass Unternehmen und Verbände die Haltung zu ihren Kunden grundlegend ändern müssten:
"Die muss sich um 180 Grad drehen. Das Unternehmen muss offener werden, das Unternehmen muss transparent werden. Das Unternehmen muss natürlich nach wie vor noch zu seinen Produkten stehen, aber ohne die negativen Aspekte hinterm Berg zu halten. Also da geht es ganz viel um die Sachen, die als Nachhaltigkeitsbewegung bekannt sind. Oder die Verbraucher, die eine gigantische Macht entwickelt haben. Das hat im Endeffekt nur mit Authentizität zu tun, wie man mit Konsumenten zu sprechen hat."
Sein Rat Nummer eins: Ruhe bewahren. Und vor allem: Ehrlich bleiben, Reue zeigen, Buße tun. So geschehen beim FC Bayern, der auf seiner Facebook-Fanseite ein "Social-Media-Desaster" erster Güte erlebte: Vor einigen Wochen gab der Verein dort bekannt, man wolle in einer Online-Pressekonferenz den Vertrag mit einem neuen Spieler bekannt geben. Es stellte sich dann aber heraus, dass es sich um einen Scherz handelte. Die Fans konnten sich eine Smartphone-Anwendung herunterladen - und bekamen dann ein Bild von sich selbst präsentiert. Was als nette Social-Media-Idee gedacht war, führte zu einem Sturm der Entrüstung: Die Facebook-Seite des FC Bayern wurde mit Tausenden meist negativen Kommentaren überschüttet.
Zeigt lieber wieder Leistung. So eine Verarsche brauchen wir nach dem Gladbachspiel nicht!
Das ist ja wohl die lächerlichste und peinlichste Aktion, die ich in meinen 35 Fanjahren jemals erlebt habe, hat ein seriöser Verein wie der FC Bayern solch eine Außendarstellung wirklich nötig?
Der Verein entschuldigte sich umgehend und glaubwürdig bei seinen Fans. Wenige Stunden später hatte sich der Facebook-Sturm wieder gelegt. Ein Einfühlungsvermögen, das die Piratin Julia Schramm auch in der Politik für geboten hält: Auch wenn sie sich immer wieder den Schmähungen aus dem Netz stellen muss, an ein Ende der "bürgerlichen Debattenkultur" glaubt sie nicht.
"Ich empfinde das als Pubertät. Das heißt, wir sind jetzt an einem Punkt, an dem wir uns alle erst mal ausschreien müssen, und das passiert im Moment im Internet. Alle schreien ihre Emotionen und alles, was sie seit Jahren in sich hineingefressen haben, in diesen Raum, in diesen Cyberspace hinein. Und erwarten Resonanz."
Sie ist überzeugt, dass produktive Diskurse auch und gerade unter den beschleunigten Kommunikationsbedingungen im Netz möglich sind - wenn sich gleichzeitig auch die Politikformen ändern:
"Das ist in den nächsten 20 Jahren eine große Aufgabe auch der Politik. Wir müssen Strukturen schaffen, wo wir jedem Menschen die Möglichkeit geben, seine Meinung zu äußern, diese Meinung zu reflektieren und diese Meinung auch wiederzufinden in der Politik."
Anlass war ein Artikel in seinem Internetblog über die Methoden von "Anonymous": Unter diesem Namen finden sich Netzaktivisten zusammen, die sich auf die Fahnen geschrieben haben, die Freiheit im Internet zu verteidigen. Die nur lose verbundene Gruppe tritt regelmäßig mit politischen Aktionen in Erscheinung und legt zum Beispiel Webseiten von Institutionen und Konzernen lahm. "Anonymous" übe mit den Blockaden ein "digitales Faustrecht" aus und handle undemokratisch, schrieb Stephan Eisel - und wurde damit plötzlich selbst zum Feind der Internetaktivisten. Auf "Facebook" kursierte ein manipuliertes Foto, das ihn mit Seitenscheitel und Hitlerbärtchen zeigt.
Wenig später entdeckte der Politiker und Wissenschaftler auf der Internetplattform "Youtube" mehrere Videos, die sich direkt an ihn richten - versehen mit dem bei "Anonymous" üblichen Musikvorspann:
Hallo Herr Dr. Eisel, wir sind Anonymous. Sie haben in letzter Zeit sehr intensiv über Anonymous und unsere Aktionen geschrieben. Wir finden das sehr schön, dass sich ein Politiker von der CDU für uns interessiert. Allerdings haben wir feststellen müssen, dass Sie sehr einseitig sowie feindselig über uns berichten. Viele von uns sind über die Art Ihrer Berichterstattung erzürnt und machen ihrem Ärger Luft ...
Und das taten sie gründlich - Stephan Eisel ist ein engagierter Internetnutzer. Er hat eine Homepage und einen eigenen Blog - twittert und postet regelmäßig im sozialen Netzwerk Facebook. Seine Artikel und Posts wurden mit Hunderten Kommentaren überhäuft - darunter viele Drohungen und Beleidigungen.
"Nach dem Motto: Wir finden dich schon, wir legen deine Internetseite lahm, es wurde auch auf einer dieser Anonymous-Seite meine Privatadresse veröffentlicht mit dem Hinweis: "Du entgehst uns nicht." Wie ernst das dann tatsächlich gemeint ist, ist dann wieder eine andere Frage, aber auch dieser von Anonymous-Anhängern immer wieder verwendete Slogan "Wir sind viele, aber du kennst uns nicht. Wir sind überall, aber du weißt nicht wo," baut ja indirekt so eine Drohkulisse auf: Stell dich mal nicht gegen uns, wir kriegen dich überall."
Ausschnitt Youtube-Video
Wir sind Anonymous, wir sind viele. Wir vergeben nicht. Wir vergessen nicht. Erwartet uns nicht, denn wir sind schon da!
Stephan Eisel ließ die Diskussionen laufen und löschte nur einige wenige Kommentare, die unter der Gürtellinie waren:
"Dann war sicher ein Teil dabei von Leuten, die generell Formen des halbwegs respektvollen Umgangs untereinander nicht so gewöhnt sind. Das ist ja ein Phänomen im Internet: Man spricht ja außerhalb des Internets vom Stammtischniveau. Aber da gibt, sobald es unter ein bestimmtes Niveau fällt, in der Regel einen, der sagt: Mein lieber Friedrich, jetzt lass' mal gut sein. Das gibt's eben im Internet nicht, diese soziale Erfahrung untereinander."
Längst hat in bestimmten sozialen Gruppen das Internet den traditionellen "Stammtisch" abgelöst: im Positiven wie auch im Negativen. Je mehr Möglichkeiten das Netz bietet, nicht nur Nachrichten zu konsumieren, sondern sich selbst einzubringen mit eigenen Themen, Ideen und Meinungen, desto mehr verlagern sich politische und gesellschaftliche Debatten dorthin. Das, was als Web 2.0 bezeichnet wird, ermöglicht im besten Fall vielfältige und herrschaftsfreie Diskurse - was sich unter anderem in der wachsenden Zahl hochwertiger politischer Blogs dokumentiert. Gleichzeitig tritt aber auch die Kehrseite dieser Entwicklung zutage:
Der übereifrige Stammtischbruder, der mit seinen Polemiken mal übers Ziel hinaus schießt, wird zum sogenannten "Troll", der, oft unter dem Schutz der Anonymität, Blogs und Artikel mit seinen oft rüden Kommentaren überhäuft und damit einen Teil der Debattenkultur im Netz prägt. Besonders wer über Grenzen der Freiheit im Internet schreibt, muss mit heftigen Reaktionen rechnen. Auch Stephan Eisels Parteifreund Ansgar Heveling, bis dahin ein unbekannter Hinterbänkler im Bundestag, wurde regelrecht mit Hohn und Spott übergossen, nachdem er im "Handelsblatt" den Niedergang des Mitmach-Netzes prophezeite und Netz-Aktivisten den Kampf ansagte. Im Minutentakt erschienen daraufhin bei Twitter Kommentare wie diese:
Ansgar Heveling warnt: Wer den Seeweg nach Indien sucht, fällt nur über den Rand der Welt.
Ansgar Heveling fährt nie mit der Bahn. Denn Geschwindigkeiten über 30 km/h machen einen Menschen schwachsinnig.
Jenes "Web 2.0", dessen Ende Heveling prophezeit, zeichnet sich nicht nur durch eine gigantische Informationsdichte und die rasend schnelle Verbreitung von Meinungen aus, auch die Kommunikation wird direkter - und der Umgangston häufig rauer. Das, was Stephan Eisel und Ansgar Heveling erlebt haben, hat sich zu einem verbreiteten Netzphänomen entwickelt, das man als "Shitstorm" bezeichnet. Der Begriff kommt aus den USA und wurde kürzlich zum "Anglizismus des Jahres gewählt" - im Deutschen lässt er sich am besten mit "Empörungswelle" beschreiben: Die öffentliche Aufschaukelung eines Themas, das, oft völlig losgelöst von der Welt außerhalb des Internets, Debatten dominiert, oft aber auch losgelöst von Fakten und sachlichen Argumenten. Kennzeichen solcher Schmähkampagnen sind nicht nur die völlig unkalkulierbare Verselbstständigung eines Themas, sondern auch eine starke Emotionalisierung, erklärt die Bonner Kommunikationswissenschaftlerin Jessica Einspänner:
"Da ist dann auch das Internet der geeignete Raum, in Anführungszeichen, für so eine unsachliche Ebene. Denn es fallen ganz leicht Anonymitätsgrenzen, also man kann anonym an einem solchen Shitstorm teilnehmen, posten und Kommentare abgeben. Man muss nicht den eigenen Namen bekannt geben, sich nicht zeigen, man muss nicht sagen, ob man männlich oder weiblich ist, zu welcher sozialen Gruppe man beispielsweise gehört, das heißt, das ist eine Abwesenheit von "Social cues", wie man das im Fachjargon nennt. Und deswegen entsteht auch die Möglichkeit, leichter unsachlich zu argumentieren. Und wenn dann einer eine Vorreiterrolle übernimmt und vielleicht mit so einem negativen Output beginnt, dann ist es auch leichter für andere, darauf zu reagieren - leider oft auch entsprechend unsachlich."
Eine entscheidende Rolle bei diesen digitalen Erregungswellen spielen häufig Zitate, die verkürzt, aus dem Zusammenhang gerissen oder auch frei erfunden, von Nutzern ungeprüft übernommen werden. Beispiel Bundespräsidentenwahl: Als Joachim Gauck vor zwei Jahren noch als Außenseiterkandidat der Opposition gegen Christian Wulff ins Rennen ging, wurde er im Internet als wahrer Heilsbringer gefeiert. In diesem Jahr dagegen tauchten vor seiner Wahl plötzlich Zitate im Netz auf, in denen Gauck angeblich Sarrazin lobt, Occupy-Proteste kritisiert und die Vorratsdatenspeicherung befürwortet - innerhalb weniger Stunden wurde Gauck vom Netzliebling zum scheinbar unwählbaren Kandidaten. Passend dazu machte in den sozialen Netzwerken ein Foto die Runde, das Gauck mit Sektglas in der Hand zwischen Carsten Maschmeyer und dessen Lebensgefährtin Veronica Ferres zeigt, versehen mit Kommentaren wie:
Noch nicht mal gewählt, schon sieht sich Gauck mit Rücktrittsforderungen konfrontiert!
Breite Zustimmung im Netz, das zeigt nicht nur der Fall Gauck, kann ganz plötzlich in Ablehnung umschlagen. Wenn es früher hieß: Wer mit der "Bild"-Zeitung im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr nach unten, so gilt das in besonderem Maße für das Netz - nur dass dort der Aufzug deutlich schneller fährt. Dass sich im Internet oftmals auch halbwahre oder falsche Informationen ungehindert verbreiten, hängt mit einem weiteren Phänomen zusammen: Das Netz bietet zwar einerseits die Möglichkeit, sich fast unbegrenzt Informationen zu beschaffen. Gerade aufgrund dieser ungeheuren Vielfalt an Stimmen und Meinungen ist aber andererseits die Versuchung groß, sich vorzugsweise auf bestimmten Seiten, Blogs oder innerhalb immer gleicher Gruppen im Netz zu bewegen. Informationen werden nur noch durch die Brille der eigenen Netzwerke betrachtet und dadurch de facto gefiltert. Für Stephan Eisel eine der zentralen Erklärungen für jene "Erregungswellen", von denen auch er erfasst worden ist.
"Ich nenne das die "fragmentierten Echogesellschaften". Das sind Leute in Gruppen, die nur sich selber bestätigen. Es gibt kaum Reflexion. Und das schaukelt sich natürlich gegenseitig hoch, radikalisiert sich, und dann liest man natürlich wechselseitig die Beiträge von Gleichgesinnten und denkt, man müsse da noch einen draufsetzen."
Debatten im Netz werden aber nicht nur durch reine Texte oder auch Fotos transportiert, sondern auch mit Hilfe von selbst produzierten oder zusammengeschnittenen Videos, die Sachverhalte in oft suggestiver oder extrem verkürzter Form transportieren. Im aktuellen Rennen um die Präsidentschaftskandidatur der Konservativen in den USA zum Beispiel kursierten im Netz Videos, in denen die Schwächen und Patzer der Tea-Party-Kandidatin Michelle Bachmann aufs Korn genommen wurden - etwa, als sie sich in ihrer Argumentation zum Ende der Sklaverei verhedderte.
Die Negativ-Kampagne im Netz läutete das Ende ihrer Kandidatur ein. Nachdem sie kurz darauf bei den Vorwahlen in ihrer Heimat Iowa scheiterte, gab Michelle Bachmann auf. Wie sehr im Netz Eigenheiten und persönliche Schwächen bloßgestellt werden und Personen ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, weiß auch Julia Schramm: Die 26jährige ist Mitglied der Piratenpartei, vor Kurzem hat sie ihre Kandidatur für den Bundesvorstand bekannt gegeben.
Seitdem ist sie eine gefragte Gesprächspartnerin, selbst wenn sie in ihrer Heimatstadt Bonn im Café sitzt, steht das Telefon kaum still. Ihr wichtigstes Mittel der politischen Kommunikation aber ist das Internet, die Geschwindigkeit des Kurznachrichtendienstes "Twitter" bestimmt ihr politisches Leben. Je bekannter die Piratin wird, desto häufiger wird sie zum Gegenstand einer Debattenkultur im Netz, die vor allem von kurzzeitigen emotionalen Impulsen bestimmt wird - und hat ihre Konsequenzen gezogen.
"Artikel, die ich schreibe, ignoriere ich im Netz komplett. Also ich weiß, dass der Artikel erscheint, aber die Kommentare unter den Artikeln lese ich nicht. Aus Prinzip nicht. Weil es in 80 Prozent der Fälle beleidigend ist. Es ist aggressiv, es ist herablassend. Und es ist eine Projektion auf mich. Sie reden über etwas, was sie glauben, was ich bin."
Es sind vor allem Männer, die sich im Netz abfällig über Julia Schramm äußern - oft genug auch Angehörige ihrer eigenen Partei. Sie bezeichnet sich selbst als Feministin, hat den "Kegelclub" mit gegründet, das "Genderpolitische Forum" der Piratenpartei. Der offene Sexismus, der ihr im Netz begegne, gehe weit über das hinaus, was man im realen Leben finde, meint Schramm. Zwar würden mittlerweile fast zwei Drittel aller Blogs von Frauen verfasst - dennoch sei männliches Redeverhalten im Internet nach wie vor dominant:
"Das Netz ist tendenziell männlich, weil es männlich geprägt ist, weil Männer es aufgebaut haben, weil bis vor ein paar Jahren sehr wenige Frauen im Internet unterwegs waren. Und das bricht sich jetzt Bahn. Im ersten Moment hat es mich schon überrascht, weil man in der Realität natürlich anderes kennt, weil wir eben diesen Konsens haben, dass man eben nicht sagt: Das passiert, wenn Frauen wählen dürfen. Was mir schon gesagt wurde. Oder: Die soll putzen und nicht quatschen."
Die Währung des Internets ist Aufmerksamkeit, und die bekommt vor allem, wer eher männlich agiert: aggressiv, meinungsstark, respektlos. Dadurch übertragen sich nicht nur Rollenverhalten und -klischees, sondern auch bestehende Machtstrukturen aus der realen auf die virtuelle Welt. Auf der anderen Seite kehren sich durch die gewaltige Demokratisierung der Kommunikationsstrukturen im Internet bestimmte Machtverhältnisse aber auch um: An sich mächtige Politiker oder Institutionen werden vom "Normalbürger" angreifbar, müssen sich im Zweifel für ihr Tun und Handeln rechtfertigen. Darauf müssen sich auch Unternehmen einstellen: Das Internet bietet ihnen fast unbegrenzte Möglichkeiten, Werbung zu platzieren und individuell zuzuschneiden. Aber längst ist der Internetnutzer kein williger Konsument mehr, sondern er kann und will seine Meinung über ein Produkt oder ein Unternehmen kundtun. Während sich die Wirtschaft lange Zeit vor allem mit der Verbreitung von Produkten und Werbung beschäftigt hat, stehen nun andere Themen im Mittelpunkt: Wie trete ich als Marke bei Facebook auf? Wie kommuniziere ich mit meinen Kunden, wie gehe ich mit Kritik um? Jürgen Walleneit hat sich als PR-Berater auf diesen Bereich spezialisiert und lehrt an der "Westdeutschen Akademie für Kommunikation". Er kann dieser Entwicklung durchaus positive Seiten abgewinnen:
"Gott sei Dank ist das heutzutage so. Früher wurde Werbung abgeliefert, und der Konsument wurde nach dem "Friss-oder-Stirb"-Prinzip einfach bespaßt. Und das lassen sich die Konsumenten heutzutage nicht mehr gefallen. Die wollen Ehrlichkeit, die wollen Markenversprechen, die auch eingelöst werden Und sie wollen Produkte kaufen, die ihnen sehr viele Mehrwerte bieten, und sie wollen diese auch beurteilen. Und da entsteht eine sehr ehrliche Kommunikation zwischen Konsument und Hersteller der Marke. Da hat sich einiges geändert."
Das bedeutet aber auch, dass sich Unternehmen der oft unbarmherzigen Netzkritik stellen müssen. Die Kunden erwarten, dass sie sich schnell, transparent und offen ihren Anliegen widmen - und das rund um die Uhr. Wer diesen Ansprüchen nicht genügt, kann leicht einen sogenannten "Social-Media-GAU" provozieren. Die Folge ist nicht nur ein erheblicher Reputationsschaden für die Marke. Oft brechen zusätzlich auch die Umsätze ein. Das musste die Firma Nestlé schmerzlich erfahren, als bekannt wurde, dass sie für die Herstellung von Schokoriegeln Palmöl verwendet. Umweltaktivisten verbreiteten daraufhin Videos, die sehr plakativ und äußerst emotional darstellten, wie durch den Palmölanbau der Lebensraum von Orang-Utans zerstört wird. Es folgten millionenfache Kommentare in den sozialen Netzwerken - ein digitaler Wutausbruch, der aus Sicht von Jürgen Walleneit aber durchaus vermeidbar gewesen wäre:
"Im Nachhinein, wenn man die ganze negative PR-Kampagne analysiert, kochte das Thema immer wieder dann hoch, wenn die Pressestellen von Nestlé sich falsch verhalten haben. Also sie haben zum Teil zensiert, sie haben unverschämte Rückantworten gegeben, sie haben nicht transparent über das Palmöl aufgeklärt. Und letztendlich ist es dann doch aus dem Produkt verschwunden. Man hätte von vorneherein sagen können: Sorry, wir haben einen Fehler gemacht, wir werden künftig kein Palmöl mehr verwenden, und dann wäre die Sache aus der Welt gewesen, und man hätten von vorneherein ein besseres Produkt gehabt."
Die neuen Möglichkeiten im Netz bedeuteten eben auch, dass Unternehmen und Verbände die Haltung zu ihren Kunden grundlegend ändern müssten:
"Die muss sich um 180 Grad drehen. Das Unternehmen muss offener werden, das Unternehmen muss transparent werden. Das Unternehmen muss natürlich nach wie vor noch zu seinen Produkten stehen, aber ohne die negativen Aspekte hinterm Berg zu halten. Also da geht es ganz viel um die Sachen, die als Nachhaltigkeitsbewegung bekannt sind. Oder die Verbraucher, die eine gigantische Macht entwickelt haben. Das hat im Endeffekt nur mit Authentizität zu tun, wie man mit Konsumenten zu sprechen hat."
Sein Rat Nummer eins: Ruhe bewahren. Und vor allem: Ehrlich bleiben, Reue zeigen, Buße tun. So geschehen beim FC Bayern, der auf seiner Facebook-Fanseite ein "Social-Media-Desaster" erster Güte erlebte: Vor einigen Wochen gab der Verein dort bekannt, man wolle in einer Online-Pressekonferenz den Vertrag mit einem neuen Spieler bekannt geben. Es stellte sich dann aber heraus, dass es sich um einen Scherz handelte. Die Fans konnten sich eine Smartphone-Anwendung herunterladen - und bekamen dann ein Bild von sich selbst präsentiert. Was als nette Social-Media-Idee gedacht war, führte zu einem Sturm der Entrüstung: Die Facebook-Seite des FC Bayern wurde mit Tausenden meist negativen Kommentaren überschüttet.
Zeigt lieber wieder Leistung. So eine Verarsche brauchen wir nach dem Gladbachspiel nicht!
Das ist ja wohl die lächerlichste und peinlichste Aktion, die ich in meinen 35 Fanjahren jemals erlebt habe, hat ein seriöser Verein wie der FC Bayern solch eine Außendarstellung wirklich nötig?
Der Verein entschuldigte sich umgehend und glaubwürdig bei seinen Fans. Wenige Stunden später hatte sich der Facebook-Sturm wieder gelegt. Ein Einfühlungsvermögen, das die Piratin Julia Schramm auch in der Politik für geboten hält: Auch wenn sie sich immer wieder den Schmähungen aus dem Netz stellen muss, an ein Ende der "bürgerlichen Debattenkultur" glaubt sie nicht.
"Ich empfinde das als Pubertät. Das heißt, wir sind jetzt an einem Punkt, an dem wir uns alle erst mal ausschreien müssen, und das passiert im Moment im Internet. Alle schreien ihre Emotionen und alles, was sie seit Jahren in sich hineingefressen haben, in diesen Raum, in diesen Cyberspace hinein. Und erwarten Resonanz."
Sie ist überzeugt, dass produktive Diskurse auch und gerade unter den beschleunigten Kommunikationsbedingungen im Netz möglich sind - wenn sich gleichzeitig auch die Politikformen ändern:
"Das ist in den nächsten 20 Jahren eine große Aufgabe auch der Politik. Wir müssen Strukturen schaffen, wo wir jedem Menschen die Möglichkeit geben, seine Meinung zu äußern, diese Meinung zu reflektieren und diese Meinung auch wiederzufinden in der Politik."