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"Surrogate Cities Ruhr"
Die Gleichzeitigkeit von Unvereinbarem

Heiner Goebbels Fragmentkomposition "Surrogate Cities" von 1994 funktioniert wohl in jeder Stadt. In der Aufführung von "Surrogate Cities Ruhr" in der Duisburger Kraftzentrale geht es in der Choreographie von Mathilde Monnier um die für urbane Räume typische Gleichzeitigkeit von Unvereinbarem.

Von Nicole Strecker |
    Der Intendant des Kunstfestivals "Ruhrtriennale"
    Heiner Goebbels komponierte "Surrogate Cities" 1994. (AFP / John MacDougall)
    Eine Stadt als Klang, ein urbaner Raum als "Suite für Sampler und Orchester", die so schnipselig collagiert ist wie die sogenannte "Ruhrstadt", jenes Fantasie-Konstrukt, demzufolge die einzelnen Kommunen des Potts zur großen Metropole fusionieren. Heiner Goebbels hat längst bewiesen, dass seine 1994 entstandene Komposition "Surrogate Cities" in jeder Stadt funktioniert, dass überall auf der Welt die Menschen gewillt sind, in seiner rhythmisch kraftvollen, klanglich immerzu changierenden Fragmentkomposition die Akustik einer Großstadt hinein zu assoziieren: das Dröhnen einer vorbeirauschenden U-Bahn vielleicht, ein paar Töne Bach auf einem Klavier, die wie aus einem offenen Fenster auf die Straße wehen, stressige Alarm-Signale, das unangenehme Rauschen einer Klimaanlage. Und darüber: Zitate globaler, historischer Klangkosmen - etwa in einem besonders schönen Moment die Gesänge jüdischer Kantoren aus den 1920er und -30er-Jahren.
    Schon 2008 wurde das perfekt durchgestylte Kompositionswerk in Berlin verwandelt in ein Community Dance-Projekt in Royston-Maldoom-Manier. Beherzte Spielfreude kollidiert nun also auch in der riesigen Duisburger Kraftzentrale mit Goebbels' hochartifiziellen Zuständen von Angst, Melancholie, Hektik. Das fast 80-köpfige Orchester der Bochumer Symphoniker unter Leitung von Steven Sloane sitzt im Kreis in der Mitte des Raums, um sie herum die Tanzfläche für 130 Akteure aus dem Ruhrgebiet: Schulkinder aus Bochum, Martial-Arts-Teenager aus Duisburg, Senioren-Standardtänzer aus Dortmund.
    Wenn der fantastische Vokalist David Moss mit einem Text von Paul Auster das Verschwinden von Mensch und Ding im Moloch besingt, stürmen die Akteure aller Generationen auf die Bühne und kritzeln den Boden mit Kreidechiffren voll - ein naiver Versuch, Spuren der eigenen Existenz gegen die Vergänglichkeit zu hinterlassen. Kinder bauen aus bunten Saftkartons, Cornflakes-Packungen und Keksschachteln Mini-Städte. Vielleicht zuckt bei dieser Szene kurz mal der unangenehme Gedanke an Minderjährige im Alltagsmüll auf, doch solch' düstere Assoziationen verpuffen schnell angesichts der Niedlichkeit gepflegter Theater-Kinder. Immer wieder wird es in der Choreografie von Mathilde Monnier um die für urbane Räume typische Gleichzeitigkeit von Unvereinbarem gehen, das fast schmerzhafte Nebeneinander von Triumph, Tod und Utopie. Dann scheint nichts in dieser gesampelten Welt mehr zusammen zu passen. Tanz, Musik und Literatur suchen die Kollision. So wird ein zorniger Text von Heiner Müller über den Widerspruch, dass Helden auch Mörder sind, von der Sängerin Jocelyn B. Smith als sanfter Blues vorgetragen, und als wäre dies nicht schon genug Reibung, präsentiert dazu die Seniorentanzgruppe friedvolle Walzerseligkeit. Stoisch folgen die Golden Ager ihrem Takt, setzen bürgerliche Eleganz gegen eine Welt von Gewalt und Trauer - und man darf selbst entscheiden, ob dies nun dekadent-realitätsferne Ignoranz oder die fatalistische Weisheit des Alters ist.
    Mit seinen Widersprüchen zwischen wuchtiger Komposition und unsicherem Laien-Tanz, zwischen reglementierter Klangwelt und der verspielten Anarchie der Körper zählt "Surrogate Cities Ruhr" zu den gelungeneren Allianzen von Soziokultur und Kunst - jener partizipativen Projekte, ohne die heute kaum noch ein Festival auskommt.