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Susan George: Lugano Bericht oder Ist der Kapitalismus noch zu retten?

In diesen Tagen nach den Anschlägen auf Symbole der westlichen Herrschaft in den USA ist wieder viel die Rede von der Zukunft der neoliberalen Weltordnung. Ein Szenario wird entworfen und propagiert, dass fanatische Moslems zu hemmungslosen Glaubenskriegern gegen Freiheit und Zivilisation macht, was immer sich hinter diesen Begriffen verbergen mag. Wie sehr diese ‚Freiheit' und ‚Zivilisation' in Zusammenhang mit wirtschaftlicher Macht gestellt werden, zeigt die Tatsache, dass nicht nur unmittelbar nach den Anschlägen sofort über die Folgen für die Börsen gesprochen wurde, sondern auch, welche überragende Bedeutung in den Medien und den Äußerungen verschiedener Politiker der Wiedereröffnung der Wallstreet in New York beigemessen wurde. Öffentliche Trauerrituale und Geschäft liegen dicht beieinander. Im Zusammenhang der Auseinandersetzung um einen angeblichen Kulturkampf, um religiös eingefärbten Fanatismus und politisch-ökonomische Hegemonie bekommt die Kritik der westlichen Gegner der neoliberalen Weltordnung, der fälschlich oft so bezeichneten Globalisierungskritiker, eine zusätzliche Bedeutung. Über die Frage, ob die sog. ‚Werte der westlichen Zivilisation' wie Freiheit und Gleichheit tatsächlich mit dem kapitalistischen Wirtschaftsdenken vereinbar sind, hat sich längst vor der Katastrophe Susan George in einem in Frankreich und Großbritannien kontrovers diskutierten Buch Gedanken gemacht. Die 65jährige Susan George ist gebürtige Us-Amerikanerin, lebt heute mit französischem Paß in Paris, war einst im Vorstand von Greenpeace und ist gegenwärtig die Vizevorsitzende von Attac in Frankreich. Ihr erst kürzlich auch auf deutsch erschienenes Buch, der Lugano-Report, bedient sich als Rahmengeschichte einer Fiktion. In der Schweiz treffen sich eine handvoll hochrangiger Spezialisten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, um eine Bestandsaufnahme des herrschenden Systems zu erarbeiten und Strategien gegen seine potentiellen Bedrohungen zu entwickeln. Konsequent argumentiert Susan George aus der Perspektive der Mächtigen und Gewinner, um die Konsequenzen der Marktlogik zu analysieren. Ruth Jung hat das Buch für uns gelesen:

Ruth Jung | 24.09.2001
    Unter dem Titel Schamlos konnte man im Feuilleton der FAZ vom 15. September einen zutiefst betroffenen Kommentar über einen abscheulichen Vorgang lesen. Zwei Tage zuvor war in einer italienischen Wirtschaftszeitung eine Werbeanzeige des Investment-Hauses Merryll Lynch & Co mit folgender Schlagzeile erschienen:

    Von heute an hat der Aktienmarkt einen neuen Marktführer

    Dazu muss man wissen, dass der große Konkurrent von Merryll Lynch, die Morgan Stanley Investment Bank, in fünfundzwanzig Stockwerken des World Trade Centers ihren Hauptsitz hatte.

    Am 12. September also, schreibt die FAZ, wurde diese schamlose Anzeige konzipiert, entworfen und aufgegeben, als sich die Staubwolke über dem eingestürzten Welthandelszentrum, Trümmergrab für Tausende Tote, noch nicht verzogen hatte. Man muss kein Islamist sein, um vor derartigen Fühllosigkeiten der kapitalistischen Welt schaudernd die Augen zu verschließen.

    Nun sind Mensch und Kapitalist nicht zwingend identische Kategorien - auch wenn die neoliberale Weltordnung in ihrem Einheitsdenken uns das glauben machen will. Der Kapitalismus ist kein Naturgesetz. Das wissen auch die fiktiven Experten des Lugano-Reports, dem kürzlich auf deutsch erschienenen Buch der Pariser Autorin Susan George. Sie lässt eine Hand voll auserwählter wissenschaftlicher Experten unter blumigem Pseudonym - sie nennen sich Narzisse, Schneeglöckchen oder Fingerkraut - in geheimen Treffen in Lugano auf den Plan treten, um im Auftrage der Herren der Welt, der Wirtschaftslenker und Politiker, Vorschläge und Prämissen zur Rettung des Kapitalismus im 21. Jahrhundert zu erarbeiten. Denn trotz anderslautender öffentlicher Bekundungen: der Kapitalismus ist bedroht.

    Bedeutet der Erfolg dieser globalen Erfindung, dass in der Zukunft der globale Unglücksfall lauert, von dem sich das System und die Weltwirtschaft möglicherweise nicht wieder erholen werden?, lautet die besorgte Ausgangsfrage der fiktiven anonymen Expertenrunde. Dass die gescholtene Merryll Lynch Investment Bank mit ihrer Werbeanzeige eigentlich nur konsequent im Sinne der Gesetzmäßigkeiten einer ökonomischen Ordnung verfuhr, die sich keinen Werten der Humanitas verpflichtet weiß, sondern das Konkurrenzprinzip mit dem ausschließlichen Ziele der Profitmaximierung an erste Stelle gesetzt hat, das führt Susan George den schockierten Lesern im unerbittlich nüchternen Ton ihrer Beschreibung der Funktionsweise des Systems vor Augen. Es besteht kein Zweifel: dieses Buch wurde in pädagogischer Absicht geschrieben. Susan George mutet ihren Lesern einiges zu.

    Ich hoffe, den Lesern des Lugano-Reports wird es kalt über den Rücken laufen und damit ist keineswegs ein wohliges Gruseln gemeint. Expertengruppe und Report sind Fiktion, das fiktionale Geschehen selbst allerdings folgt der Gesetzlichkeit einer neoliberal globalisierten Weltordnung. Der Lugano-Report basiert auf umfangreichem Faktenmaterial, betont die Autorin, er stelle eine akkurate, nüchterne und sachliche Einschätzung dar:

    Unser gegenwärtiges System ist eine universelle Maschinerie zur Umweltzerstörung und Produktion von Verlierern, mit denen niemand etwas anzufangen weiß.

    Welchen Quellen sie ihre Zahlen, Szenarien und Hintergrundinformationen entnommen hat, gibt sie im schmalen Anmerkungsapparat gerade so knapp an, dass klar wird: hier hat jemand solide recherchiert. Seit seinem Erscheinen, zuerst in englisch, dann in französisch erregt das Buch Aufsehen. Seine Verfasserin wird häufig als Finanzexpertin bezeichnet, was sie nicht ist. Susan George hat im Fach Philosophie an der Sorbonne promoviert und u.a. als kritische Beobachterin im Bereich Entwicklungshilfe und Ökologiebewegung gearbeitet.

    Susan George denkt sich im Szenario einer Expertenrunde konsequent in die Perspektive der Mächtigen hinein - die sie weniger in der Politik als an der Spitze der führenden Transnationalen Konzerne ausmacht. Sie beschreibt, was historisch gesehen die Ablösung des Gesellschaftsvertrages durch das Gesetz des Marktes angerichtet hat; eine Beschreibung der Phänomene und der Gesetzlichkeit des Kapitalismus aus der Sicht derjenigen, die von den bestehenden Regelungen am meisten profitieren: eine Argumentation ex negativo also. Das ist das Raffinierte und irritierende an diesem Buch. Susan George wollte keine Satire schreiben. Doch vielleicht fasst sie Satire zu eng, muss doch Satire nicht immer übertreiben und verzerren.

    Satire ist nicht negativ, sondern die Darstellung des Negativen, und zwar so, dass es selbst seine Negation postuliert. Satire ist Utopie ex negativo, bringt es ein Aphorismus von Helmut Arntzen auf den Punkt. In diesem Sinne wäre ihr Buch als eine gelungene Satire zu lesen. Zu den größten Bedrohungen der kapitalistischen Welt zählen die Experten den gefährlich nahe gerückten ökologischen Zusammenbruch, der Kapitalismus zerstöre sich selbst: "Öko-Konflikte" werden die Welt beherrschen. Schuld daran trage auch die sträfliche Dummheit der Konzerne, die gegebene Biosphäre als eine endliche Welt zu ignorieren. Langfristig untergrabe dies den Erfolg des ökonomischen Liberalismus, denn die Wirtschaft ist Bestandteil der endlichen physikalischen Welt, nicht umgekehrt.

    Die Autorin nennt ein Beispiel: Der Wald werde immer nur auf der Habenseite der Bilanz verbucht: als Holzlieferant; doch als "Dienstleister" werde er vollkommen missachtet und entsprechend nicht gepflegt, dabei bestehe seine "Dienstleistung" in der Fähigkeit, CO 2 zu absorbieren und den Boden zu stabilisieren.

    Zu sagen, Wachstum bedrohe die freie Marktwirtschaft, klingt verrückt oder ketzerisch. Jeder weiß, dass Wachstum der Motor unserer Wirtschaft ist. Doch statt Wachstum um seiner selbst willen zu begrüßen, sollten wir seine Gesamtkosten berechnen, und zwar inklusive der ökologischen und sozialen Kosten, die derzeit von jenen externalisiert werden, die finanziell von schädlichem Wirtschaftswachstum profitieren, fordern die Experten des Lugano-Berichts. Und wenn sie als zweite massive Bedrohung soziale Extreme und daraus resultierend Extremismus und Terrorismus ausmachen, einen Dauerkonflikt zwischen "Insidern" und "Outsidern" voraussehen, dann verbinden sie diese beiden Gefahren konsequent zur dringlichsten Grundfrage: Wie nämlich die "überflüssigen Outsider", die noch dazu "kostenlos" die "Dienstleistungen" der begrenzten Natur in Anspruch nehmen, zurückzudrängen wären. Ein erster Schritt wäre die konsequente Privatisierung aller Ressourcen.

    Die folgenden detailliert entworfenen "Lösungsstrategien" im zweiten Teil des Buches schließlich steigern sich in einer schwer erträglichen Mischung aus kühl kalkulierendem Geschäftssinn und Sozialdarwinismus - letztlich in eine neue Form der "Endlösung". Als Mittel zur Durchsetzung dieser "Biopolitik" wird die bereits praktizierte Realpolitik der schleichenden Ausblutung ganzer Kontinente raffiniert ausgeweitet: Nach dieser Logik wäre die auf dem G8-Gipfel in Genua bewilligte lächerlich geringe Summe zur Aidsbekämpfung in Afrika ein gezielt eingesetztes Mittel, ebenso wie das dramatische Zurückschrauben westlicher Entwicklungshilfe. Ein Schwerpunkt der vorgeschlagenen Maßnahmen der "Lugano-Arbeitsgruppe" umfasst entsprechend demographische Strategien , ideologisch abgefedert durch den Verweis auf Reflexionen zur Bevölkerungspolitik quer durch die Geschichte von Platon bis zur Malthus im 18. Jahrhundert. Nicht nur eine rigorose "präventive" Drosselung der Geburtenrate, sondern "kurative" Maßnahmen wie eine drastische Erhöhung der Sterberate werden als "Lösungsstrategie" entworfen. Voraussetzung eines langfristigen Sieges des Neoliberalismus jedoch sei ein konsequentes Zusammenarbeiten der Mächtigen - eine gute Entwicklung sehen die Experten: die Welthandelsorganisation habe als einzige Institution unter vielen ineffizienten alle Voraussetzungen, eine starke neue Weltregierung ausüben zu können. Was jedoch einerseits eine Stärke des Buches ist, gerät an manchen Stellen wegen der ausgeprägten Lust der Verfasserin, sich akribisch ins Detail der vorgeschlagenen Maßnahmen zu verlieren, und dies im Stil unterkühlter Betrachtungen der Schändlichkeiten des Systems, für den Leser zur Tortur: man fühlt sich an Texte von Beipackzetteln eines Pharmaprodukts erinnert, das die den Heilmitteln beigegebenen Nebenwirkungen ausführt. Susan George zielt nicht auf moralische Entrüstung. Auch im umfangreichen Schlusskapitel, wo sie ihr eigentliches Anliegen, ihre pädagogische Absicht enthüllt und "Heilmittel" gegen den Neoliberalismus vorschlägt, ist ein pragmatischer Ton vorherrschend. Susan George stellt die Frage: "Wie an die Gegenmacht herankommen? Wie die propagierte internationale Demokratie herstellen?" Dass sie die Antwort schuldig bleibt, sei nicht ihr, sondern den (noch) bestehenden Verhältnissen angelastet. Doch die Aufforderung, sich zu erinnern, die Rückbesinnung auf ein historisches Ereignis, nämlich die Ursprünge der politischen Geschichte des ökonomisch erstarkten Bürgertums, das Heraustreten aus "der selbstverschuldeten Unmündigkeit", das sich sowohl in der amerikanischen wie in der französischen Menschenrechtserklärung artikulierte, in dieser Erinnerung könnte die Chance liegen für erneutes gesellschaftliches Handeln und die Verteidigung der Citoyenneté.

    Ruth Jung besprach Der Lugano-Report oder Ist der Kapitalismus noch zu retten? Das Buch von Susan George ist bei Rowohlt erschienen hat 283 Seiten und kostet 39,90 DM.