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Susan Neiman: "Von den Deutschen lernen"
Einübung in den Universalismus

Kann die deutsche Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit Vorbild sein für die Bewältigung des Rassismus in den USA? Die historischen Bedingungen sind grundverschieden, doch beide Nationen müssen irgendwie mit ihrer Gewaltgeschichte umgehen, analysiert die amerikanische Philosophin Susan Neiman.

Von Angela Gutzeit |
Susan Neiman, amerikanische Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein Forums
Susan Neiman über Erinnerung und Geschichtspolitik: „Von den Deutschen lernen“ (dpa-Zentralbild / Karlheinz Schindler)
"Vergangenheitsaufarbeitung". Susan Neiman erinnert sich, dass dieses sperrige Kompositum eines der ersten Wörter war, die sie in ihren deutschen Wortschatz aufnahm. Zufall war das nicht. Die Amerikanerin kam 1982 nach Berlin, um Philosophie zu studieren. Eine spannende Zeit. Die Westdeutschen fingen gerade erst damit an, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Und die konfrontative Ost-West-Situation, bekräftigt durch Mauer und Stacheldraht, hatte im West-Berlin der 60er- bis 80er-Jahre ein ganz besonderes Insel-Klima geschaffen, ein Laboratorium für neue Lebens- und politische Aktionsformen. Davon war auch die amerikanische Studentin Susan Neiman zutiefst beeindruckt, wie sie im Prolog ihres neuen Buches schildert:
"Ich war bald wie berauscht von dem erregenden Eindruck der Unbekümmertheit, dem Gefühl, in einer Zwischenwelt gestrandet zu sein. Berlin, das war weder Ost noch West, sondern ein staatlich subventionierter Experimentierplatz zwischen beiden. Berlin war übersät mit den Erinnerungen an den Krieg, die niemand beseitigt hatte. (…) Jeden Augenblick von Ruinen der einen oder anderen Art umgeben zu sein – die Kulturkneipe ‚Die Ruine‘ hatte ihre bröckligen Wände zu einem punkigen Fetisch erhoben – machte es einem in nüchternem Zustand verdammt schwer, nicht an Geschichte zu denken."
Diese Faszination ist geblieben. Berlin mit seinem zentralen Holocaust-Mahnmal, mit der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz, mit dem Bendlerblock als Gedenkstätte für den deutschen Widerstand sind aus der Sicht der amerikanischen Jüdin unübersehbare Zeichen geschichtlichen Bewusstseinswandels. Vorbildhaft, so Neiman - mit allen Widersprüchen. Damals jedoch, als sie nach Berlin kam, ging es ihr – mit Hannah Arendt und Jean Améry im Gepäck - zunächst um die Spuren des Bösen, die sie zu ergründen gedachte.
"Ich war nicht nach Berlin gekommen, weil ich über die Nazis hinweg war, sondern, weil ich mehr über sie erfahren wollte. Ich schrieb damals über das Wesen der Vernunft, und sie hatten ein welthistorisches Fragezeichen dahinter gesetzt."
Vernunft und Erkenntnis
Das Ergebnis von Neimans Erkundungen floss ein in ihre große Studie "Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie" von 2004. Hier erkundete die Kantianerin Neiman das Feld der Moderne und des aufklärerischen Denkens zwischen zwei historischen Polen: dem Erdbeben von Lissabon 1755 und dem Holocaust in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zweifelte man nach dem verheerenden Erdbeben an einer gütigen Vorsehung, die das Naturgeschehen bestimmt, so verlor der Mensch nach Auschwitz den Glauben an sich selbst. Zurückgeworfen auf das von Menschen gemachte Böse, tat sich fortan ein Riss auf zwischen Sein und Sollen. Wie kann dieser Riss, wenn schon nicht geschlossen, so doch durch Vernunft und Erkenntnis geschmälert werden? Das ist, auf eine Kurzformel gebracht, auch die Frage, die Neimans Buch "Von den Deutschen lernen" bestimmt.
Buchcover: Susan Neiman: „Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können“
Susan Neiman will in ihrem Buch die Wahrheitssuche beim Umgang mit der jeweils eigenen Gewaltgeschichte anregen (Buchcover: Verlag Hanser Berlin, Hintergrund: picture alliance/dpa/Ingo Schulz)
Auf fast 600 Seiten setzt die Autorin die deutsche "Vergangenheitsaufarbeitung" des Nationalsozialismus in Beziehung zum brachliegenden Kapitel der amerikanischen Versklavung schwarzer Menschen – um auf der Metaebene Fragen nach Moral und Vernunft, Erkenntnis und Scham zu verhandeln.
"Es schien an der Zeit zu sein, den Amerikanern und anderen ein Beispiel aus der blutigen Geschichte eines anderen Landes vorzulegen, damit sie lernten, sich mit ihrer eigenen auseinanderzusetzen. (…) Mir liegt weniger daran, Verbrechen miteinander zu vergleichen, als daran Aufarbeitungen zu vergleichen."
Susan Neiman hat ihr Buch in der Ich-Form geschrieben. Nicht zuletzt, um den Charakter ihres Textes als Erkenntnisprozess und Spurensuche in Verbindung mit der eigenen Biografie zu unterstreichen. Kritiker beanstandeten, die Ausführungen seien zu kleinteilig, zu anekdotisch, sie verlören sich in zu vielen Geschichten wie auch in der endlosen Wiedergabe persönlicher Gespräche und Begegnungen. Die Kritik ist nicht ganz abwegig, erfüllt aber in großen Teilen ihres Werks den beabsichtigten Zweck. Die Kritik verkennt, dass Neimans multiperspektivische wie dialogische Darstellungsform ein essentieller Ausdruck ihres Verständnisses von historischer Aufarbeitung ist. Ihr Interesse gilt eher den kleinen, mühsam erkämpften prozessualen Verschiebungen als den großen Ereignissen. Mit Blick auf die USA schreibt sie:
"Die nationale Versöhnung fängt ganz unten an. Sehr persönliche Begegnungen zwischen Menschen verschiedener Hautfarben, Vertreter der Opfer genauso wie der Täter, sind die Voraussetzung für jeden ernsthaften Versuch, die Wunden der Nation zu heilen."
Scham und Schuld
Insbesondere in dem großen Kapitel über Geschichte und Gegenwart des amerikanischen Rassismus erweist sich die von Neiman gewählte Form, die auf Recherche beruht und eine Vielzahl von Zeitgenossen und Zeitzeugen unterschiedlicher Denkart zu Wort kommen lässt, als Stärke.
Den Auftakt bildet in Neimans Buch jedoch die deutsche sogenannte "Vergangenheitsaufarbeitung". Und hier ist in der Tat Kritik angebracht, nur betrifft sie eher inhaltliche als formale Aspekte. In diesen Kapiteln zu Deutschland schlägt die Autorin ein paar Pflöcke ein, an denen sich nach ihrer Meinung amerikanische Bemühungen orientieren könnten, um der schwärenden Wunde des Rassismus auf den Grund zu gehen und einen Erkenntnis- und Heilungsprozesses in Gang zu setzen. Was hier rekapituliert wird, bietet einer deutschen Leserschaft jedoch wenig Neues: Der Kniefall Willi Brandts am Mahnmal des Warschauer Ghettos 1970, der Historikerstreit 1986, die deutsche Wehrmachtsausstellung zwischen 1995 und 2004, die deutsche Denkmalkultur mit Holocaust-Mahnmal und Stolpersteinen für die Ermordeten und Verfolgten des Naziregimes.
Freilich beschränkt sich Neiman dabei nicht auf einfaches Abarbeiten dieser Wegmarken. Wie schwierig, langwierig, widersprüchlich, umstritten, aber auch fruchtbar der Weg der Deutschen zur Verinnerlichung der Schuld einerseits und zur Wiederaufnahme in die europäische Völkergemeinschaft andererseits gewesen ist, bildet sich in Neimans Gesprächen mit Intellektuellen wie Jan Philipp Reemtsma, Bettina Stangneth, Alexandra Senfft oder Carolin Emcke ab. Reemtsma zum Beispiel sagte ihr im Gespräch, die intensiven Jahre der Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen hätten ihm den Weg eröffnet für Untersuchungen der internationalen Geschichte der Gewalt, wie auch für Fragen nach der Vertrauenswürdigkeit der Moderne angesichts des Zivilisationsbruchs, der sich für immer mit Auschwitz verbinden würde.
Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) während des Kniefalls vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos in Warschau im Jahr 1970
Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) während des Kniefalls vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos in Warschau im Jahr 1970 (imago/Sven Simon)
Die Philosophin Bettina Stangneth dagegen ist keineswegs davon überzeugt, dass sich die Deutschen mit der übelsten Zeit ihrer Geschichte wirklich auseinandergesetzt hätten. So sieht sie beispielsweise Kontinuitäten zwischen damaligen und heutigen Denkströmungen an Universitäten. Leider wird das hier nicht näher ausgeführt. Diese diskursive Umkreisung eines letztendlich unabgeschlossenen und auch unabschließbaren Prozesses ist durchaus ergiebig.
Fragwürdige Vergleiche
Problematisch werden Neimans Betrachtungen allerdings dort, wo sie sich auf das schwierige Terrain des Vergleichs zwischen den beiden deutschen Staaten BRD und DDR begibt. Die Haltung der DDR zur faschistischen Vergangenheit beschreibt sie zunächst so:
"Indem sie ihren Platz in der Geschichte als der auf deutschem Boden aus den Ruinen auferstandene antifaschistische Staat beanspruchte und erklärte, die Nazis seien ein westdeutsches Problem, verfälschte die DDR die Geschichte, und ihre These, mit dem Kapitalismus sei auch der Faschismus beseitigt, war so einseitig wie die Behauptung der BRD, man müsse nur den offenen Antisemitismus beseitigen und schon habe man den Faschismus beseitigt. Durch die Verherrlichung der Roten Armee gelang es der DDR, so zu tun, als habe sie an ihrem Sieg teilgehabt. (…) Doch indem sie sich auf die Seite des Antifaschismus stellte und die von den Nazis ins Exil getriebenen Emigranten einlud, ein anderes Deutschland aufzubauen, stellte sich die DDR zumindest einmal auf die richtige Seite der Geschichte."
Was Susan Neiman hier im letzten Satz des Zitats verteidigt, das zielt auf den staatlich verordneten Antifaschismus in der DDR. Das Problem ist, dass Neiman aus diesem verordneten Antifaschismus ableitet, dieser habe zu mehr Prozessen gegen Nazi-Verbrecher geführt wie auch unter anderem zu weitaus weniger Antisemitismus in der DDR-Bevölkerung als im Westen. Die Zahlen und Fakten, die Neiman hier anführt, verzerren die Realität und lassen viele Fragen offen. So ist längst dokumentiert, dass auch die DDR durchaus Nazis geräuschlos integrierte, wenn sie ihnen von Nutzen waren.
Die größere Zahl der Prozesse gegen Nazi-Täter sagt zudem erst einmal nichts aus über deren einstige Funktion und Schwere der Schuld. Und dass der Antisemitismus auf Funktionärsebene und in der Bevölkerung der DDR eine geringfügige Rolle gespielt hätte, ist ein Märchen. So lehnte das SED-Regime die Rückerstattung arisierter Vermögen an Juden strikt ab. Es gab in stalinistischer Manier Schauprozesse gegen jüdische Kommunisten. Es gab viele antisemitische Straf- und rechtextreme Gewalttaten, die offiziell verschwiegen und verharmlost wurden. Das alles ist mittlerweile dokumentiert und in öffentlichen Ausstellungen zum Thema gemacht worden. Es bleibt so auch mehr als fraglich, ob ein staatlich verordneter Antifaschismus von oben in der DDR-Bevölkerung im stärkeren Maße zu Schuldeingeständnis und Scham geführt hat als die mühsamen Auseinandersetzungen zwischen den Generationen, wie sie in der Bundesrepublik ausgefochten wurden.
Der amerikanische Rassismus
In den nachfolgenden Kapiteln über Sklaverei und den amerikanischen Rassismus, macht Neiman dann ja gerade an vielen Beispielen deutlich, dass ein Bewusstseinswandel nicht von oben übergestülpt werden kann, sondern in einem langwierigen Prozess in der Bevölkerung reifen muss. Wie hieß es im obigen Zitat? "Die nationale Versöhnung fängt ganz unten an."
Bereits die Lektüre der ersten Seiten dieses USA-Teils lassen vermuten, Neimans Entschluss, dieses Buch zu schreiben, war durch das politische Erdbeben vorangetrieben worden, das die Wahl Donald Trumps 2016 zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten auslöste. Für Neiman ist klar: Ohne Einsicht in die unbewältigte Geschichte der Sklaverei und des Rassismus ist der Wechsel von Obama zu Trump kaum nachvollziehen. Sie schreibt:
"Obama war nicht, wie die Rechte ihn beschuldigte, verantwortlich für die Verschärfung des Rassenkonflikts, aber er wirkte als Katalysator, was deutlich macht, wie dringend sich die Amerikaner Problemen zuwenden müssen, die dem Land seit 400 Jahren zusetzen. (…) Der Aufstieg der Tea-Party nach der ersten Wahl Obamas war der erste Hinweis auf die Gegenbewegung, die das ganze Ausmaß des Rassismus offenbart. Dieser wurzelt zu tief in der amerikanischen Psyche, um durch den Sieg eines einzelnen außerordentlichen schwarzen Mannes ausgerissen zu werden."
Dossier: Rassismus
Dossier: Rassismus (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel)
Der Hotspot des amerikanischen Rassismus liegt historisch gesehen und auch noch heute in den amerikanischen Südstaaten. Im Zentrum: Mississippi. Von hier kam ein kräftiger Schub von Wählerstimmen für Donald Trump. "Wenn man Mississippi verändern kann, kann man alles verändern", schreibt Neiman und weiter:
"Mississippi war der erste Staat, der die Black Codes verabschiedete, die praktisch alle Rechte zurücknahmen, die den freigelassenen Sklaven versprochen waren."
Im Hotspot Mississippi
Seit dem amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865, der im Kern um die Abschaffung der Sklaverei geführt wurde, gibt es einen tiefen Riss zwischen Nord- und Südstaaten. Neiman beschreibt nun, wie sich die Rassentrennung und damit die Ausbeutung und Benachteiligung der afroamerikanischen Bevölkerung insbesondere im Süden fortsetzte und das ganze Land vergiftete – trotz des Civil Rights Act von 1964, der rassistische Politik per Gesetz verbot.
Und hier bewährt sich Neimans Stil der reportagehaften Schilderung ihrer Recherchen vor Ort, die sie immer mit Rückblicken auf historische Ereignisse verbindet. Die Wissenschaftlerin verbrachte 2017 ein Jahr am Winter Institut, das sich der Rassen-Versöhnung verschrieben hat. Heute ist es in Jackson, Mississippis Hauptstadt, angesiedelt, bis 2018 aber war es der University of Mississippi in Oxford angegliedert. Die "Ole Miss", wie die Universität von traditionsbewussten, konservativen Weißen genannt wird, war eines der Epizentren des Rassismus. Von hier aus zog Neiman ihre Kreise. So besuchte sie James Meredith, eine Ikone der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. 1962 hatte sich Meredith als erster Afroamerikaner an dieser Hochburg rassistischen Denkens immatrikuliert. Tausende randalierende Studenten versammelten sich, um das zu verhindern. Schließlich musste Präsident John F. Kennedy 30.000 Soldaten in den Süden schicken, um die Lage in den Griff zu bekommen.
Und dann ist da die Geschichte des schwarzen Jungen Emmett Till. Neiman erzählt sie über viele Seiten. Gerade einmal 14 Jahre alt, wurde er 1955 von weißen Männern derart zugerichtet und zu Tode gequält, dass ihn seine eigene Mutter nicht mehr erkannte. Der Freispruch der Mörder führte zum Civil Rights Movement, eine Bewegung, die in den 50er und 60er Jahren durch Martin Luther King weltweite Aufmerksamkeit erlangte. 2017 hatte die weiße amerikanische Künstlerin Dana Schutz mit ihrem Gemälde des zerstörten Gesichts von Emmett Till auf der Whitney-Biennale in New York Aufsehen und Protest erregt. Auch das ist für Neiman ein Thema. Die blutigen Ereignisse in der Geschichte des Südens, der auch im Norden den Alltagsrassismus bis heute befeuert, führt Neiman zu Fragen nach Formen der angemessenen Erinnerungskultur wie auch nach der Berechtigung oder sogar Notwendigkeit der kulturellen Aneignung fremden Leids.
Susan Neiman hat sich tief in die Seele Mississippis hineinbegeben, die geprägt ist von evangelikalem Protestantismus und religiösem Fundamentalismus. Viele der weißen Südstaatler hängen nach wie vor einer hierarchischen Weltsicht an - Weiße oben, Schwarze unten. Dazwischen die ersten zaghaften Ansätze zur Aufarbeitung der Rassendiskriminierung, wie sie zum Beispiel das Winter Institut, an dem die Philosophin ein Jahr lang tätig war, verfolgt.
"Das Programm bringt ethnisch gemischte Gruppen von fünfzehn bis zwanzig Leuten zusammen, die zunächst ein Wochenendseminar besuchen. Danach treffen sie sich für anderthalb Jahr einmal im Monat. Die Gruppen nehmen an einer Reihe von Übungen teil, die Vertrauen zwischen den Teilnehmern entstehen lassen sollen, bevor sie sich den schwierigen Fragen über ‚race‘ zuwenden. Wann ist euch zum ersten Mal aufgefallen, dass ‚race‘ ein Thema ist? Diese Frage führt die meisten in ihre Kindheit zurück, wie unterschiedlich auch immer die Kindheitserfahrungen von Schwarzen und Weißen sind."
Daneben viele weitere Initiativen wie zum Beispiel eine, die unter dem Namen "Behind the Big House" bekannt wurde. Sie ist in Holly Springs angesiedelt. Die Kreisstadt des Marshall County war das Zentrum der amerikanischen Baumwoll-Industrie in den 1850er Jahren. Auf den Feldern arbeiteten unzählige Sklaven unter brutalsten Bedingungen. "Behind the Big House" hat über Jahre hinweg deren Unterkünfte - soweit erhalten - restauriert, um an die Lebens- und Arbeitsbedingungen der afroamerikanischen Sklaven zu erinnern.
Auch in diesen Kapiteln wechselt die Philosophin immer wieder die Perspektive, spiegelt bei ihren Recherchen und Gesprächen die jeweils andere Seite. Bürgerrechtler wie Rassisten kommen zu Wort. Gerade dieses Verfahren, das unter anderem der wörtlichen Rede Raum gibt und damit über Sprache und Ausdrucksweise Einblick gewährt in Bewusstseinszustände, ist produktiv und sehr spannend zu lesen.
Einübung in Universalismus
Susan Neimans Exkurs zum Grundproblem der amerikanischen Gesellschaft, sich bis heute nicht umfassend der Geschichte der Sklaverei und deren Auswirkungen gestellt zu haben, mündet schließlich in eine Auseinandersetzung mit der Denkmalkultur in Deutschland wie in den USA - und in die Frage: "Wessen gedenken wir und wie tun wir es", wenn es um die eigene blutige Geschichte geht? Sie stimmt in diesem Kontext Jan Philipp Reemtsma zu. Bei Gedenkstätten, so schrieb der Publizist und Mäzen, gehe es nicht um Erinnerung, sondern um die öffentliche Darstellung von Bewusstsein und Scham.
Susan Neiman weiß, dass Deutschlands Aufarbeitung des Holocaust kein Rezept darstellen kann für Amerikas Umgang mit seiner Geschichte der Sklaverei. Die historischen Bedingungen sind grundverschieden. Was die Philosophin mit ihrem Buch anregen möchte, ist, die Wahrheitssuche beim Umgang mit der jeweils eigenen Gewaltgeschichte als "eine Einübung in Universalismus" zu verstehen. Wie Reemtsma zielt sie auf eine supranationale Auseinandersetzung mit Gewalt, eine Auseinandersetzung, die ohne moralpolitische Leitlinien nicht auskommt. Unabdingbar, so kann man sie verstehen, gerade in heutigen Zeiten grassierender Identitätspolitiken.
Auch wenn Neimans Beschäftigung mit der von ihr bewunderten deutschen "Vergangenheitsbewältigung" in einigen Punkten nicht überzeugt, so ist die Lektüre des Buches dennoch absolut anregend und lehrreich. Am Schluss versteht man beispielsweise besser, wie es möglich war, dass nach einem schwarzen Präsidenten ein weißer Rassist ins höchste Regierungsamt der USA gewählt werden konnte – und, dass dieser Wechsel einen Kampf um die Deutung der Geschichte markiert, der wohl noch lange nicht entschieden ist.
Susan Neiman: "Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können"
aus dem Englischen von Christiana Goldmann
Verlag Hanser Berlin. 576 Seiten, 28 Euro.