Nora und Martin Becker können sie einfach nicht ausstehen, ihre Kinder. Als junges Paar hatten sie sich das Familienleben in der norddeutschen Reihenhaussiedlung romantisch vorgestellt. Doch nun, sieht Vater Martin, ist alles ganz anders gekommen.
"Seine rasend schnell heranwachsenden Kinder waren nicht, wie er sie sich erträumt hatte. Der Sohn ungeschickt und weniger robust, die Tochter weniger niedlich. Beide zudem emotional merkwürdig zurückgezogen."
Dabei spiegeln Cornelia und Hannes nur die unverarbeiteten Traumata ihrer Eltern. Das macht Svealena Kutschke deutlich, indem sie ihren Familienroman von den späten 1980er-Jahren bis heute aus den Perspektiven von Vater und Mutter, hauptsächlich aber der beiden Kinder erzählt.
Hannes wird in der Schule gehänselt. Er ist unsicher und plump, muss zwei Schuljahre wiederholen. Seine ein Jahr ältere Schwester Cornelia findet zwar mit ihrem unförmigen Haarschnitt und den biederen Kleidern, in die ihre Mutter sie immer wieder steckt, auch nicht viele Freundinnen. Aber sie kann sich als gute, zuvorkommende Schülerin unauffälliger im Hintergrund halten. Und sie hat Max, Maximiliane Rehmann, das zierliche Mädchen in zerrissenen Jeans, das im Frühling 1992 neu in die 6b kommt. Sie macht aus Cornelia Colin.
"Und Colin war zwölf Jahre alt und verliebt, ohne es so zu nennen. Denn verliebt, das wusste sie, war ein Mädchen nur in Jungen. Sie wusste auch, dass Max überall in ihrem Körper brannte."
Die Fernsehbildschirme des wiedervereinigten Deutschlands
Svealena Kutschke schreibt nicht nur ein psychologisches Familiendrama und nicht nur die Coming-of-Age-Story einer jungen, lesbischen Frau. "Gewittertiere" ist monumentaler angelegt, als Gesellschaftspanorama. Die Beckers wirken darin wie der westdeutsche Prototypus einer Familie, in der Gewalt verschwiegen und über Generationen weitervererbt wird. Was können die forschen Sprüche gegen den tollpatschigen Sohnemann schon ausrichten, wo Martins eigener Vater ihn doch noch verdroschen hat? Und was können Kinder überhaupt für Schmerz empfinden, wenn sie wie Colin und Hannes im Wohlstand, fernab von Kriegs- und Nachkriegselend aufgewachsen sind? Das fragen sich ihre Eltern immer wieder.
In Kutschkes Reihenhaussiedlung regieren Kälte, Sparsamkeit und Angst. Symbol dafür ist der Bunker, den Vater Martin im Garten zu bauen beginnt. Im Alleingang hebt der Lebensmittelhändler das Loch aus, gießt Beton, legt Rohre für Luft und Abwasser. Das dauert zwar Jahre, ist aber billiger, als Fachpersonal anzuheuern. Und es soll ja auch nicht gleich die ganze Siedlung vom Bunker wissen. Während Anfang der 1990er Jahre ein rassistischer Anschlag nach dem anderen über die Fernsehbildschirme des wiedervereinigten Deutschlands flackert, arbeitet Martin Becker an seinem persönlichen Schützengraben.
"Colin war dreizehn Jahre alt, sah ihren Vater die Leiter in die Grube hinabsteigen und seine erschöpfte, ergebene Miene entfachte einen ungewohnten Ärger in ihr: dass in dieser friedlichen Siedlung am Rand der Welt, in einer Welt, in der die alten Damen noch gehäkelte Einkaufsnetze trugen, in dieser nicht harmlosesten, aber sichersten aller Welten einer im Erdreich kniete, weil er sich bedroht fühlte, von allem bedroht fühlte, wo doch so deutlich war, dass die Gewalt ganz andere traf."
Jahrzehntelange Demütigung
"Bis ins Erwachsenenalter können Colin und Hannes diesen Dauerkriegszustand ihrer Familie nicht abschütteln. Nach jahrzehntelanger Demütigung lebt Hannes, mittlerweile fast 40, als Gerichtsvollzieher endlich Autorität aus. Und Colin zieht sich in einen anspruchslosen Alltag als Späti-Verkäuferin zurück, womit sie ihrem Vater, der viele Jahre einen Lebensmittelladen betrieb, ähnlicher geworden ist, als sie sich selbst eingesteht. So leben die Traumata der Eltern in ihren beiden Kindern fort, bis der unvollendet gebliebene Bunker des Vaters eines Tages auf fast unheimliche Art ein Eigenleben entwickelt."
"Ein unnatürlich starker Regenfall, in wenigen Stunden waren mehrere hundert Liter pro Quadratmeter niedergegangen, hatte das Erdreich des Gartens in die Fugen und Hohlräume der zerstörten, unter dem Rasen verborgenen Konstruktion gespült, der Rasen war abgesackt, auch die umliegenden Blumenbeete waren abgestürzt. In der Mitte des Gartens hatten sich Metallstreben der verborgenen Ruine von unten durch das Gras gebohrt, Betonreste waren freigespült worden […]."
Svealena Kutschke legt frei, was in westdeutschen Familienerzählungen immer noch gern verschwiegen wird. Ein bundesdeutscher Fremdenhass wurde hinter mannshohen Zäunen gehegt und gepflegt. Und die deutschsprachige Gegenwartsliteratur tut auch heute noch gut daran, jeden einzelnen Vorgarten-Bunker bis in alle Abgründe auszuerzählen.
Svealena Kutschke: "Gewittertiere"
Claassen Verlag, Berlin 2021. 368 Seiten, 24 Euro.
Claassen Verlag, Berlin 2021. 368 Seiten, 24 Euro.