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Sven Giegold (Grüne)
"Es gibt auf jeden Fall Kälte im deutsch-französischen Verhältnis"

Er habe selten soviel Verärgerung in Paris erlebt wie nach dem jüngsten Treffen der Wirtschafts- und Finanzminister der EU, sagte der grüne Spitzenkandidat für die Europawahl, Sven Giegold, im Dlf. Der Bundesfinanzminister habe Steuerpläne der EU-Kommission "ausgebremst".

Sven Giegold im Gespräch mit Peter Kapern |
Der Grüne Europaabgeordnete und Kandidat für die Europawahl, Sven Giegold, von Bündnis 90/Die Grünen, spricht während der 43. Bundesdelegiertenkonferenz in Leipzig.
In Frankreich bestehe das Gefühl, man habe in Deutschland keinen Partner mehr, sagte der Grünen-Europapolitiker Sven Giegold im Deutschlandfunk (dpa / Jan Woitas)
Sven Giegold, Spitzenkandidat der Grünen für die Europawahl, wirft der Bundesregierung vor, für die Verschlechterung des deutsch-französischen Verhältnisses verantwortlich zu sein. Es herrsche "Kälte" zwischen beiden Regierungen, sagte Giegold im "Interview der Woche" des Deutschlandfunks.
Er habe selten so viel Verärgerung in Paris erlebt wie nach der jüngsten Sitzung der europäischen Wirtschafts- und Finanzminister, bei der Bundesfinanzminister Olaf Scholz die Digitalsteuer und andere Steuerpläne der EU-Kommission "ausgebremst" habe. In Paris gebe es darüber eine tief sitzende Frustration. Dort bestehe das Gefühl, Frankreich habe in Deutschland keinen Partner mehr, sondern dass Deutschland sich in einer Vermittlerrolle zwischen Frankreich und den eher europaskeptischen Ländern der "Hanseliga" gefalle, zu denen die Niederlande, Finnland und die baltischen Staaten gerechnet werden.
Immer öfter mache Frankreich sinnvolle Vorschläge für die Zukunft Europas. Darauf antworte Deutschland nicht mehr mit "ebenso großen Zukunftsvorstellungen", sondern mit Zeitungsartikeln, sagte Giegold mit Blick auf Annegret Kramp-Karrenbauer. Die CDU-Vorsitzende hatte kürzlich ein Konzept ihrer Europapolitik in einem Namensartikel in einer Sonntagszeitung präsentiert.
Bundesfinanzminister Scholz warf Giegold vor, die Digitalsteuer aus "Angst vor Herrn Trump" ausgebremst zu haben. Angesichts der abflauenden Konjunktur müsse die EU jetzt jedoch in Infrastruktur, Bildung und Nachhaltigkeit investieren. Und genau dafür seien die Einnahmen aus der Digitalsteuer notwendig, so Giegold weiter.
Beim Brexit setzt der Spitzenkandidat der Grünen nach dem Gipfeltreffen der vergangenen Woche auf eine neue politische Dynamik. Wenn das Vereinigte Königreich an den Europawahlen teilnehme, rechne er mit einer Mobilisierung der Pro-Europäer auf der Insel, wie man sie bisher nicht erlebt habe. Er hoffe, dass dadurch eine Dynamik "weg vom Brexit" entstehe.
Wenn die Pro-Europäer die Europawahl auf der Insel gewönnen, könne danach nicht mehr genauso über den Brexit gesprochen werden als wenn die Wahlen nicht stattgefunden hätten.

Das Interview in voller Länge:
Peter Kapern: Herr Giegold, noch ein Krisengipfel, noch eine Nachtsitzung, noch eine Verschiebung. Wann findet der Brexit eigentlich statt?
Sven Giegold: Wenn das jemand wüsste, nicht? Aber dieser Gipfel hatte zumindest einen klaren Verlierer und das sind die Brexiteers. Die Befürworter des harten Brexits haben eigentlich ihre Felle davonschwimmen sehen, denn sie haben jetzt die Wahl, entweder dem geordneten Brexit, also auf der Basis des Deals zwischen der EU und Frau May zuzustimmen oder wir laufen auf Europawahlen hinzu und bei diesen Europawahlen haben die Freunde Europas in Großbritannien Oberwasser. Und diese Europawahlen werden eine Mobilisierung der Proeuropäer in Großbritannien sehen, wie wir sie bisher nicht erlebt haben. Und dem sehe ich sehr wohl mit Hoffnung gegenüber.
Kapern: Die beiden Optionen, die Sie gerade genannt haben, gehen wir die noch mal eine nach der anderen kurz durch. Also, die eine Option ist, dass Theresa May tatsächlich noch eine Mehrheit für diesen Austrittsvertrag, den sie mit Brüssel ausgehandelt hat, im Unterhaus bekommt. Wie groß sehen Sie die Chancen dafür?
Giegold: Das hängt entscheidend an Labour und es hängt an den harten Brexit-Befürwortern. Gehen wir das mal durch. Labour hat klar gesagt, sie haben mehrere Bedingungen. Die zentrale Bedingung ist die Zollunion. Das wäre eine gute Nachricht, denn die Zollunion auf Dauer würde sicherstellen, dass es keine harte Grenze in Irland gibt und es würde Großbritannien als Ganzes in einer viel engeren Bindung an die EU halten. Und das ist wirtschaftlich ein Vorteil für die Insel, aber auch für Großbritannien. Die harten Brexit-Befürworter, würden die ihre Position verändern, dann brauchte Theresa May Labour nicht. In dem Falle müssten sie dem Deal zustimmen und auch dann wäre immerhin gesichert, dass es einen geordneten Austritt gibt und keine harte Grenze auf der Insel Irland. Ich sage Ihnen aber ganz offen: Ich hoffe immer noch, dass was anderes passiert, nämlich eine positive Dynamik weg vom Brexit entsteht, gerade durch die Beteiligung an den Europawahlen.
"Es liegt alles in den Händen der Menschen in Großbritannien"
Kapern: Wie soll das geschehen? Denn das eine hat ja erst einmal, streng fachlich, rechtlich nichts mit dem anderen zu tun.
Giegold: Das stimmt, aber es gibt ja auch eine faktische Dynamik. Stellen Sie sich vor, was jetzt passiert. Wenn in Großbritannien es jetzt zur Beteiligung an der Europawahl kommt, dann werden ja alle Parteien zur Wahl stehen, und zwar nicht im Mehrheitsverfahren, wo man nur faktisch die Wahl hat zwischen Labour und Conservative, sondern auch die Parteien, die sich viel härter für den Verbleib in der EU aussprechen, wie die Liberaldemokraten und die Grünen oder auch die schottische Nationalpartei. Und innerhalb von Labour werden sehr viele Abgeordnete gewählt werden, die für den Verbleib der Insel in der EU eintreten und für ein zweites Referendum über diese Frage. Und die haben den Moment der Mobilisierung auf ihre Seite. Und stellen wir uns vor, dass die Proeuropäer diese Wahlen gewinnen, dann wird danach nicht mehr genauso über den Brexit gesprochen werden können wie, als wenn diese Wahlen nicht stattgefunden hätten. Also, meine Hoffnung ist eine politische Dynamik. Es liegt alles in den Händen der Menschen in Großbritannien, ob sie den Brexit dann abwickeln oder nicht.
Kapern: Hat denn nicht der Gipfel dieser Woche eigentlich erwiesen, dass die gesamte EU-27 mittlerweile in Geißelhaft dieser britischen Unfähigkeit ist zu entscheiden?
Giegold: Ja, das stimmt fraglos. Trotzdem, ich habe noch nie so viele Europafahnen in England gesehen wie bei dieser Demonstration. Mich hat das tief berührt. Ich habe in England studiert. Ich habe noch nie gesehen, dass so viele Menschen für die europäische Idee auf die Straße gegangen sind. Die sechs Millionen, die im Internet gefordert haben, sofort den Antrag auf Artikel 50, also den Austrittsantrag zurückzuziehen! Die Dynamik läuft gerade in Richtung der Befürworter Europas. Davon bin ich überzeugt. Klar ist aber auch, dass Europa insgesamt sich schon viel zu lange mit dem Thema beschäftigt. Allerdings ist die Alternative zu sagen, jetzt wie aus Trotz, jetzt reicht es uns aber, jetzt schmeißen wir alles hin, dann gibt es halt einen harten Brexit, das wäre eine Trotzreaktion, die nicht vernünftig ist.
Kapern: War das die Strategie von Emmanuel Macron beim Gipfel dieser Woche?
Giegold: Ja, Strategie – ein bisschen wirkte es so. Und ich fand es nicht schlau. Ich kann verstehen, dass der Brexit und die Diskussion über den Brexit nicht die Debatte über die Zukunft Europas verdrängen darf. Aber dafür sollte man nicht die Brocken hinwerfen, sondern stattdessen mutige Vorschläge machen.
Neue Fraktion aus Rechtspopulisten und Nationalisten
Kapern: Sie haben eben schon angedeutet, wie sich dieses Brexit-Gezerre jetzt auf die Zusammensetzung des Europaparlaments auswirken könnte, wenn Großbritannien tatsächlich an den Europawahlen teilnimmt. Es gibt ja noch andere bemerkenswerte politische Bewegungen, die sich massiv auf die Zusammensetzung des nächsten Europaparlaments auswirken könnten. Ich komme damit zu sprechen darauf, dass Matteo Salvini, der italienische Innenminister von der rechtsextremen Lega, und Jörg Meuthen, der AfD-Ko-Vorsitzende, in der vergangenen Woche eine neue Fraktionsgemeinschaft der Rechtspopulisten und Nationalisten gegründet haben für das nächste Europaparlament. Wie einflussreich wird diese Gruppe im nächsten Europaparlament?
Giegold: Salvini ist ja so was wie der Björn Höcke Italiens. Und da muss man sagen, dass Herr Meuthen als AfD-Vorsitzender sich ausgerechnet mit Herrn Salvini als Kernpartner zusammenschließt, das weckt ja ganz dunkle Kapitel unserer Geschichte in Erinnerung. Die Bedeutung dieser Fraktion hängt im Entscheidenden nicht so sehr von ihren Wählern ab, denn die Wählerinnen und Wähler sind nicht so zahlreich, dass sie die Politik Europas diktieren könnten. Entscheidend ist, ob die proeuropäischen Parteien diesen Parteien hinterherlaufen oder einen klar proeuropäischen Kurs fahren.
Kapern: Hinterherlaufen in welchem Sinne?
Giegold: Es gab – gerade im letzten Jahr – doch auch in Deutschland große Zeichen, dass Teile der CDU/CSU geredet haben wie die AfD, dass sie so taten, als könne man Wahlen dadurch gewinnen, dass man der AfD Wind aus dem Segel nimmt, indem man mit ausländerfeindlichen, flüchtlingsskeptischen Sprüchen und Parolen und Forderungen praktisch verwechselbar wird. Davon hängt es ab. Wenn die proeuropäischen Parteien Kurs halten und in Europa konstruktiv mitarbeiten, dann wird auch der Raum für die nationalorientierten populistischen Parteien sinken. Wenn man ihnen aber hinterherläuft, ihnen das Agenda-Setting überlässt, dann besteht in der Tat die Gefahr, dass Salvini, Meuthen und ihre Kollegen immer mehr Einfluss bekommen.
"Die laute Minderheit haben wir heute ja schon"
Kapern: Wie stark können diese Politiker werden im nächsten Europaparlament? Wie stark können sie dann auf die tatsächliche Politik im Europaparlament Einfluss nehmen? Wird das einfach nur eine laute Minderheit? Oder muss man wirklich fürchten, dass sie Gestaltungsmacht bekommen?
Giegold: Also, die laute Minderheit haben wir heute ja schon. Und die dominieren auch immer wieder Plenardebatten. Aber die Entscheidung über die Gesetzgebung, die wird weiterhin von den Proeuropäern gemacht. Das sieht man auch daran, dass in den Ausschüssen häufig die Europagegner gar nicht zu den entscheidenden Verhandlungssitzungen kommen. Das ist zudem natürlich entscheidend, dass sich die Proeuropäer nach der Wahl zusammenschließen in der Weise, dass man einen Kompromiss bildet, auf dem man eine neue Mehrheit für eine proeuropäische Politik auch gründen kann. Das hatten wir bisher ja in Form einer Absprache zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten. Nach den Umfragen wird es dafür nicht mehr reichen. Und damit ist dann entscheidend, ob auch Liberale und Grüne dort miteinbezogen werden, dort mitarbeiten. Und da gilt für uns: Natürlich sind wir bereit, proeuropäische Mehrheiten mitzubilden, aber natürlich nur für eine klare Veränderung im Sinne grüner Inhalte in der Gesetzgebung und im Vollzug der Politik der EU-Kommission.
Kapern: Das heißt, Sie können Manfred Weber, der jetzt gerne Kommissionspräsident werden möchte, Sie können dem also heute nicht zusagen, dass Sie ihn mit den grünen Stimmen zum Kommissionspräsidenten wählen werden?
Giegold: Das wäre ja noch schöner. Wir wollen ja, dass unsere eigene Kandidatin, Ska Keller, zur Kommissionschefin gewählt wird. Und darum kämpfen wir.
Kapern: Die Chancen sind nicht – ohne allzu vorlaut zu sein – nicht absolut optimistisch zu beurteilen.
Giegold: Das haben Sie gesagt, Herr Kapern. Ich glaube, dass es sehr viele gibt, die sich zum Beispiel mal wünschen würden, dass Spitzenämter in der Europäischen Union von Frauen ausgeübt werden, noch zudem von so proeuropäischen und kompetenten Frauen.
Kapern: Aber normalerweise braucht es dafür nicht einen Wunsch, sondern schon eine Mehrheit im Parlament.
Giegold: Es braucht Stimmen und die sind am 26. Mai zu erhalten und nicht heute im Deutschlandfunk, selbst wenn Sie sich das vielleicht wünschen würden. Der Punkt ist nur, jedenfalls werden wir sehen, wie die Mehrheiten fallen. Es ist überhaupt nicht gesichert, dass die europäische Volkspartei von Herrn Weber dort führend abschneidet. Denn immerhin kandidiert hier ja die CSU um dieses Amt. Und die CSU ist bisher nicht als die entschiedene Europapartei, die Europa mutig vorantreibt, aufgefallen, sondern immer wieder mit doch eher europaskeptischen Tönen, gerade dann, wenn es um die bayrischen Landtagswahlen oder die Bundestagswahlen geht. Und das fällt auch vielen Wählerinnen und Wählern auf. Umgekehrt gibt es auch noch andere Kandidaten. Herrn Timmermanns von den Sozialdemokraten, gleich sieben kandidierende der Liberalen, wo man gar nicht weiß, wer ist das jetzt eigentlich. Da wird man hinterher miteinander sprechen müssen. Wer ist wirklich in der Lage, die Kommission gut zu führen und auf welcher Basis? Und die Inhalte sind es, die für uns entscheidend sind. Wir werden einen Kommissionschef oder -chefin nur mitwählen, wenn wir ökologische, soziale, rechtsstaatliche Veränderungen in der Europäischen Union sehen, für die wir auch eintreten.
"Die Legitimationskette war lang"
Kapern: Die proeuropäischen Fraktionen im Europaparlament haben ja so etwas wie einen Brüsseler Ballhausschwur geleistet und haben gesagt: Wir wählen nur jemanden zum Kommissionspräsidenten, der auch vorher Spitzenkandidat war. Nun haben Sie ja schon auf die sieben Spitzenkandidaten der ALDE Fraktion, also der Liberalen hingewiesen. Was muss passieren, damit die Grünen jemanden zum Kommissionspräsidenten wählen, der nicht Spitzenkandidat war?
Giegold: Ja, also erst mal kommt diese Frage gar nicht infrage, sondern das Parlament hat aus guten Gründen dieses Prinzip eingeführt. Das haben wir beim letzten Mal durchgesetzt. Und wir Grünen sind Teil der großen Mehrheit im Parlament, die das auch verteidigen möchte. Warum? Weil immer wieder gesagt wurde, die Brüsseler Bürokratie sei nicht legitimiert durch die Wählerinnen und Wähler. Das war schon immer falsch, denn die Kommissionschefs wurden ja in der Regel praktisch von den Staatschefs bestimmt. Und auch die sind ja demokratisch legitimiert. Damit war auch die EU-Kommission legitimiert. Aber die Legitimationskette war lang. Und zur Stärkung Europas und der Europäischen Demokratie gehört daher, in Zukunft diese Legitimationskette kurzzuhalten. Und deshalb bestehen wir darauf, dass nur ein Spitzenkandidat oder noch besser eine Spitzenkandidatin infrage kommt.
Kapern: Sie hören den Deutschlandfunk, das Interview der Woche. Heute mit Sven Giegold, dem Spitzenkandidaten der Grünen in Deutschland für die Europawahlen am 26. Mai. Herr Giegold, das nächste Thema in der Europäischen Union, da gibt es eine ganze Gruppe von Staaten, die die Rechtsstaatlichkeit mit Füßen tritt. Polen, Ungarn, Rumänien, um nur die krassesten Fälle zu nennen. Die Europäische Union lamentiert und sie klagt in Luxemburg und leitet Verfahren ein und wirkt doch völlig hilf- und wehrlos, weil ihr ganz offensichtlich wirksame Instrumente fehlen. Oder?
Giegold: Erst mal gibt es in allen Parteifamilien ganz wirksame Instrumente, denn die Regierungen, die diese Rechtsstaatsprinzipien brechen, sind ja gleichzeitig weiterhin Mitglied der Parteifamilien – der Christdemokraten, der Sozialdemokraten und der Liberalen. Und innerhalb dieser Parteifamilien müssten die Europäischen Werte, die derzeit in den Wahlen beschworen werden, auch tatsächlich durchgesetzt werden. Warum ist die Korruption legitimierende rumänische Parteifamilie immer noch Teil der Sozialdemokratie? Warum ist die maltesische Sozialdemokratie immer noch Teil der Sozialdemokratie, obwohl Korruption dort weitergeht? Und warum ist Herr Orbán nur halb ausgeschlossen worden aus der christdemokratischen Familie?
Vergabe von EU-Geld als Machtinstrument
Kapern: Aber, um jetzt ein Wort aufzugreifen, das Sie eben gesagt haben oder es etwas abzuändern. Das wäre natürlich eine sehr lange Delegitimationskette, wenn man nur darauf setzen würde, diese Parteien aus der einen oder anderen Parteifamilie auszuschließen. Eigentlich bräuchte doch die Europäische Union selbst in ihren Institutionen ein Instrument, um Länder dazu zu zwingen, europäische Rechtsstaatsstandards einzuhalten.
Giegold: Ja, völlig einverstanden. Und deshalb fordern wir, dass für alle Mitgliedsländer ein jährliches Monitoring gemacht wird für die Frage der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Auf der Ebene könnten wir dann sehen, welches Land welche Probleme hat. Das ist wichtig, das für alle zu machen, damit nicht einzelne Länder sagen können, sie werden da schlecht behandelt. Im Bereich der Wettbewerbsfähigkeit machen wir das jedes Jahr – mit dem Europäischen Semester. Aber bei Grundrechten und Demokratie gibt es so eine Prüfung nicht. Diese Prüfung würde dann öffentlich diskutiert, das Ergebnis dieser Prüfung. Und auf dieser Basis, Länder, die systematisch und renitent an den Brüchen von Grundrechten, Demokratie und Rechtstaatlichkeit festhalten, da müsste es dann auch finanzielle Konsequenzen geben. Wir wollen aber nicht, dass man den Ländern Geld wegnimmt, denn das würde die Opposition in den Ländern in der Regel schwächen. Sondern wir wollen, dass die Kontrolle über die europäischen Fördergelder dann von den europäischen Institutionen ausgeübt wird, sodass nicht mehr die Vergabe von EU-Geld, wie das etwa in Ungarn gemacht wird, zum Machtinstrument einer rechtsstaatsbrechenden Regierung wird, sondern dass dieses Geld von den europäischen Institutionen vergeben wird. Das wäre ein wirksames Sanktionsinstrument.
Kapern: Also, eine andere Idee als die, die innerhalb der Kommission vertreten wird, die nach einem Instrument sucht, wie die Auszahlung von Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien gekoppelt werden kann?
Giegold: Doch, die Bindung ist die gleiche Idee, aber der Mechanismus der Sanktionen ist etwas anders, weil wir die Erfahrung gemacht haben, als Martin Schulz in Debatten rund um die Bundestagswahl gedroht hat, dass man den Polen das Geld wegnimmt, wenn sie nicht kooperieren in Bezug auf Grundrecht und Demokratie, hat das in Polen die nationalen Reihen geschlossen und die Opposition geschwächt. Das wollen wir nicht. Wir wollen die Opposition in diesen Ländern stärken, denn die müssen ja letztlich dafür sorgen, dass mal eine Regierung an die Macht kommt, die mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auf europäischen Werten basiert. Und da ist es viel geschickter, den Unternehmen, der Zivilgesellschaft, den Kommunen nicht mit wegnehmen des Geldes zu drohen, sondern nur zu sagen. Es soll nicht mehr eure fragwürdige Regierung sein, die das Geld verteilt.
"Kälte im deutsch-französischen Verhältnis"
Kapern: Vor eineinhalb Jahren da hat Emmanuel Macron, der französische Staatspräsident, seine Sorbonne-Rede gehalten. Und einige Zeit später hat die damals neue Bundesregierung einen neuen Aufbruch für Europa im Koalitionsvertrag angekündigt. In der Folgezeit gab es dann ein Zeitungsinterview der Bundeskanzlerin und einem Zeitungsaufsatz der neuen CDU-Vorsitzenden. Ich will Sie jetzt gar nicht fragen, ob Deutschland schon die Antwort auf die Macron-Rede gegeben hat. Da ist schon hundertfach ein Nein drauf formuliert worden, aber beschreiben Sie doch bitte mal, wo das deutsch-französische Verhältnis gerade steht, ob es Motor oder Bremse in der EU ist.
Giegold: Es gibt auf jeden Fall Kälte im deutsch-französischen Verhältnis zwischen den beiden Regierungen. Ich habe selten so viel Verärgerung in Paris erlebt, wie nach der letzten Ecofin-Sitzung (*), wo Herr Scholz die Digitalsteuer und andere Steuerpläne der Europäischen Kommission ausgebremst hat. Herr Macron hat ja große Vorschläge vorgelegt für Gemeinschaftsinvestitionen und hat aus Deutschland da bisher immer nur Nein kassiert. Und es gibt darüber eine tiefsitzende Frustration und Verärgerung.
Kapern: Können Sie das noch ein bisschen beschreiben. Was hören Sie da aus Paris und von wem? Was sind da die Quellen?
Giegold: Ich höre, dass nach Sitzungen der Wirtschafts- und Finanzminister das Gefühl besteht, Frankreich hat in Deutschland nicht einen Partner, sondern viel mehr ein Deutschland, das sich darin gefällt, zwischen Frankreich und den eher europaskeptischen Ländern, der sogenannten "Hanse League", zu vermitteln.
Kapern: Die "Hanse League", das müssen wir erklären …
Giegold: Das sind die Niederlande, die baltischen Staaten, Finnland. Sie werden öfter so bezeichnet. Aber das ist bitter, denn wir haben eine deutsch-französische Partnerschaft, die sich immer als Motor in Europa verstanden hat. Nicht, dass wir alles bestimmen können. Das hat noch nie geklappt. Aber, dass man gemeinsam Ideen entwickelt mit Partnerinnen und Partnern diskutiert und dann auch gemeinsam vertritt. Und stattdessen sehen wir derzeit eine Lage, wo immer öfter Frankreich Vorschläge macht, auch sinnvolle Vorschläge macht für die Zukunft Europas, wie die gemeinsame Digitalsteuer oder Steuertransparenz für die Großunternehmen, gemeinsame Investitionen in die Zukunft, und dann aus Deutschland skeptische Rückäußerungen kommen und Antworten nicht mehr auf der Ebene von ebenso großen Zukunftsvorstellungen für Europa formuliert werden, sondern stattdessen man eben Zeitungsartikel schreibt.
Kapern: Moment, da muss ich kurz einhaken. Also, beispielsweise bei der Digitalsteuer, da habe ich doch eine Pressekonferenz erlebt des Bundesfinanzministers mit seinem französischen Amtskollegen, wo die ganz stolz ihr gemeinsames Konzept für eine Digitalsteuer vorgelegt haben, also kann ich das jetzt nicht ganz einordnen vor dem Hintergrund dessen, was Sie sagen.
Giegold: Also, die Pressekonferenz habe ich auch gesehen. Ich habe allerdings auch gehört, was im Hintergrund passiert ist. Die Verärgerung ist sehr, sehr groß. Und Frankreich hätte sich gewünscht, dass eine umfassende Digitalsteuer auf den Weg gebracht wird, dass man nicht jahrelang wartet, bis man sich in der OECD mit Herrn Trump einigt, wovon man schon weiß, dass das derzeit nicht funktionieren kann, leider, und wir deshalb eine europäische Lösung brauchen. Und die bekommen wir jetzt in ganz anderer Gestalt. Immer mehr Staaten machen nationale Digitalsteuern. Die werden den digitalen Binnenmarkt fragmentieren, weil die jeweils etwas anders sind. Damit bekommen europäische Digitalunternehmen große Schwierigkeiten, wenn sie grenzüberschreitend operieren wollen. Überall unterschiedliche Steuerregeln. Und das alles ist gescheitert, weil Deutschland – und eben nicht nur die Christdemokraten, auch die Sozialdemokraten – diese europäische Digitalsteuer, die die Kommission vorgeschlagen hat, die Frankreich wollte, die viele andere europäische Staaten wollten, ausgebremst hat.
Steuergerechtigkeit im nationalen Interesse
Kapern: Warum? Kann es sein, dass die Bundesregierung da einfach nationale Interessen vertritt, was man ihr ja möglicherweise nicht unbedingt zum Vorwurf machen könnte?
Giegold: Ich sehe das eher als eine gewisse Hasenfüßigkeit, denn ein nationales Interesse liegt ja nicht vor, denn auch in Deutschland ist der ungleiche Wettbewerb zwischen Hotels und Vermietung von Airbnb, von Amazon vs. dem lokalen Handel, der ist ja in Deutschland genauso unfair wie irgendwo anders auf der Welt. Und daher ist dort Steuergerechtigkeit zu schaffen absolut im nationalen Interesse. Nein, man hatte Angst offensichtlich, Herrn Trump noch weiter zu erzürnen, obwohl doch offensichtlich ist, dass er ein US Präsident ist, der nur auf Stärke reagiert und nicht auf Hasenfüßigkeit und Schwäche. Ich finde das aber auch aus einem zweiten Grund noch so fatal, denn wir brauchen diese Steuereinnahmen, um sinnvoll Investitionen vornehmen zu können. Denn wir sehen ja, wir haben eine abkühlende Wirtschaft und ein erhitztes Klima. Und darauf müssten wir doch eigentlich mit einer Investitionsoffensive in Europa reagieren. Jetzt geht die Wirtschaft runter und in dieser Situation muss es darum gehen, Investitionen raufzufahren. Und dafür brauchen wir diese Einnahmen, um nachhaltige Investitionen in großem Maße voranzutreiben. Und da ist leider damit Herr Scholz indirekt auch Investitionsblockierer.
Kapern: Spielen Sie damit auf die zurückhaltende, sehr zurückhaltende Position Deutschlands in Sachen Eurozonenbudget an?
Giegold: Absolut. Das Eurozonenbudget war eine der Antworten auf diese Investitionslücke. Und, wenn man das sinnvoll finanziert, nämlich durch gerechte Steuern, also einer Bekämpfung des Steuerdumpings, einer Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs, harte Steuertransparenz für die Großunternehmen und damit mehr Einnahmen, dann hätte man eine Basis, um echte Zukunftsinvestitionen zu finanzieren. Und wir müssen uns auch noch über was Zweites unterhalten. Wir haben nach der Finanzkrise richtigerweise bei Schulden und Defiziten härtere Regeln in Europa eingeführt. Aber wir haben einen doppelten Standard bei Investitionen. Wenn der Staat investiert, muss er die Investitionen, selbst, wenn sie sich erst in 30 Jahren auszahlen, sofort, in dem Moment, wo eine Schule zum Beispiel gebaut wird, sofort ins Defizit und in die Schulden buchen. Wenn Sie ein Privatunternehmen das machen lassen, kann das Unternehmen das über 30 Jahre abschreiben. Damit sind unsere europäischen Defizitregeln zur Bremse für Investitionen geworden. Und das wird sich jetzt rächen, wenn die Wirtschaft in den Abschwung kommt. Und deshalb ist jetzt die Zeit, auf Konzepte, wie wir sie mit dem Green New Deal haben, wieder zurückzukommen, also in der Zeit, wo die Wirtschaft sich abkühlt, massiv zu investieren in Europas Zukunft. Und dazu müssen wir auch die Regeln über Schulden und Defizite investitionsfreundlicher gestalten.
"Falscher Geiz völlig unangemessen"
Kapern: Ich höre jetzt schon viele Hörer das Wort Transferunion ausrufen, das sie dahinter vermuten, weil die sich sagen, der Herr Giegold, der will bestimmt dafür sorgen, dass unser sauer verdientes Steuergeld in den Süden der Eurozone geleitet wird, damit dort die Investitionen von unserem Geld getätigt werden, die Investitionen, von denen er gesprochen hat.
Giegold: Also, erst mal ist dieser Begriff der Transferunion ein unsäglicher Kampfbegriff. Niemand hat mehr von Europa wirtschaftlich und politisch profitiert als Deutschland. Damit haben wir es hier nicht mit einer Transferunion zu tun, wo Deutschland etwas an andere zahlt, also im Sinne dieser Zahlmeisterdiskussion, sondern Deutschland zahlt etwas mehr in das EU-Budget pro Kopf als viele andere Länder, bekommt dafür ungleich mehr zurück. Und, wenn wir jetzt über die Zukunft Europas nachdenken, dann ist es doch in unserem Interesse, den Umstieg auf klimafreundliches Wirtschaften, auf einen wirklich funktionierenden digitalen Binnenmarkt mit entsprechender Infrastruktur, auf starke Bildung grenzüberschreitend, da hineinzuinvestieren. Und, wenn Deutschland dann wiederum einen etwas höheren Anteil zahlt als andere, dann werden wir auch davon wieder besonders stark profitieren, weil wir wirtschaftlich so stark sind. Das heißt, was ich vorschlage, was wir vorschlagen, ist, das zu finanzieren durch gerechte Steuern. Natürlich, Unternehmenssteuern werden vor allem da gezahlt, wo Unternehmen Gewinne erwirtschaften. Insofern zahlt dann auch Deutschland im Verhältnis etwas mehr, bekommt aber dafür starke Gemeinschaftsinvestitionen. Und diese starken Gemeinschaftsinvestitionen sind ganz besonders auch in deutschem Interesse. Und da ist falscher Geiz völlig unangemessen, sondern das ist eine Investitionsunion und nicht eine Transferunion.
(*) Sven Giegold spricht hier in der Audiofassung des Interviews allgemein von Gipfel anstatt von der Sitzung des Ecofin-Rats. Auf seine Bitte hin haben wir die Formulierung im Text nachträglich präzisiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.