Stefan Heinlein: Am Telefon zu dieser frühen Stunde begrüße ich jetzt den Sprecher der Grünen-Europagruppe Sven Giegold, Spitzenkandidat seiner Partei bei der Europawahl. Guten Morgen, Herr Giegold.
Sven Giegold: Guten Morgen, Herr Heinlein.
Heinlein: Kein Automatismus für die Wahl eines Spitzenkandidaten zum neuen EU-Kommissionspräsidenten. Wir haben Donald Tusk gerade gehört. Droht jetzt ein Machtkampf zwischen Parlament und den EU-Staats- und Regierungschefs?
Giegold: Das Parlament hat gestern mehrheitlich seine Position sehr klargemacht. Wir haben klar gesagt, dass wir wollen, dass ein Kandidat, der wirklich europaweit eine Kampagne geführt hat, sich vorher bekannt gemacht hat während der Wahlen, dass der dann nachher auch entsprechend der Kommission vorsteht. Denn die Bürgerinnen und Bürger haben ja das Parlament stark gemacht mit der höheren Wahlbeteiligung, und ein Mehr an Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger kann ja nicht in einem Weniger an Demokratie bei der Benennung der EU-Kommission enden.
Heinlein: Warum ist es denn so wichtig, Herr Giegold, dass es ein Spitzenkandidat wird und nicht der beste Mann, wie es Frankreichs Präsident Macron formuliert hat?
Giegold: Erst mal ist es doch so bei einer Wahl doch ganz normal, dass man vorher sagt, wer antritt, die Bürgerinnen und Bürger um ihre Stimme bittet und daraus dann die Bürger entscheiden, wer der beste Mann ist oder die beste Frau im Übrigen, weil die EU-Kommission wurde noch nie von einer Frau geleitet. Zudem kommt hinzu, dass das eine Stärkung des Parlaments für die ganze Zeit der Legislaturperiode bedeutet. Wir haben den Unterschied erlebt jetzt mit der Juncker-Kommission. Man kann über die Kommission vieles sagen, aber eines steht fest: Sie hat viel stärker auf das Parlament gehört als in der Vergangenheit. Wenn das Parlament zum Beispiel eine Gesetzesinitiative gefordert hat, hat die Kommission das sehr häufig geliefert. Es gab jährliche Abstimmungen im Parlament über das jeweils nächste Arbeitsprogramm für das nächste Jahr und überhaupt eine enge Zusammenarbeit zumindest mit der Mehrheit des Parlaments, und das ist eine Stärkung europäischer Demokratie und europäischem Parlamentarismus, die wir nicht missen wollen.
"Es geht hier nicht um Prinzipienreiterei"
Heinlein: Es geht Ihnen ums Prinzip? Das ist Ihnen wichtiger als die Personalie? Macron sagt ja, wir brauchen den Besten, das habe ich gerade schon gesagt, jemanden, der von den politischen Führern in der Heimat nicht in den Schatten gestellt wird. Herr Giegold, ist Manfred Weber dieser Mann, der von den politischen Führern in der Heimat nicht in den Schatten gestellt wird?
Giegold: Es geht hier nicht um Prinzipienreiterei. Das muss ich noch mal klar sagen. Es geht darum, dass wir europäische Demokratie stärken wollen. Und wie oft habe ich mir das anhören müssen, die EU-Kommission sei doch eine völlig illegitime abstrakte Behörde, bei der man nicht weiß, woher ihre Macht stammt. Das ist genau der Punkt: Viele Menschen fühlen sich von Entscheidungen auf europäischer Ebene ein Stück entfremdet. Um das aufzuheben, ist es so wichtig, dass klar ist, wer dort vorne steht. Wer fünf Jahre lang wichtige Entscheidungen ankündigt und großen Einfluss auf die Gesetzgebung ausübt, den sollten die Bürgerinnen und Bürger im Wahlkampf kennengelernt haben.
Heinlein: Hat er genügend Charisma, hat er genügend Erfahrung, Manfred Weber, um diesen wichtigen Posten zu übernehmen?
Giegold: Erst mal ist er angetreten und das Gleiche gilt aber auch für Herrn Timmermans und für die weiteren Spitzenkandidaten der Parteien. Die alle sind mit einer Legitimation ausgestattet und müssen jetzt versuchen, ob sie eine Mehrheit finden. Manfred Weber ist als Spitzenkandidat damit einer der möglichen Kandidaten – natürlich!
Heinlein: Wie sehr hat denn Manfred Weber Ihre Fraktion, die Grünen bereits hofiert? Mit welchen Angeboten versucht er, Sie zu locken?
Giegold: Ehrlich gesagt, die letzten Monate waren nicht von Angeboten geprägt, sondern von Wahlkampf. Es gibt unterschiedliche politische Konzeptionen, aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist: Wir Grünen sind gestärkt aus dieser Wahl hervorgegangen und wir haben Vorstellungen, was wir im Programm einer neuen EU-Kommission verankert sehen wollen, genauso wie andere Parteien das haben. Aber für uns ist ganz klar: Es geht hier nicht zuerst darum, ob es Herr Weber ist oder Herr Timmermans oder jemand anders, sondern es geht vor allem jetzt darum: wir reden zuerst über Inhalte. Ohne das Parlament gibt es keinen neuen Kommissionspräsidenten. Starker Klimaschutz, sozialer Zusammenhalt in Europa und die Stärkung der Bürgerrechte, das sind die zentralen Maßstäbe für uns und das ist auch bitter nötig.
"Wer repräsentiert die Proeuropäer am besten von den Spitzenkandidaten"
Heinlein: Sie haben jetzt die demokratischen Grundprinzipien mehrfach erwähnt, Herr Giegold. Die EVP stellt ja die stärkste Fraktion im Parlament. Ist Manfred Weber damit gesetzt als neuer Kommissionspräsident, wenn er die notwendigen Mehrheiten zusammenbekommt?
Giegold: Nein, er ist natürlich nicht gesetzt. Schauen Sie: Die gleiche Diskussion haben wir doch gerade in Bremen. Da gibt es zwei verschiedene mögliche Konstellationen und da gibt es keinen Automatismus für die eine oder die andere Konstellation, um Herrn Tusk zu zitieren. Das bedeutet, dass beide Optionen möglich sind und damit auch eine Minderheit es schaffen kann, eine Mehrheit zusammenzubekommen. Insofern kommt es doch darauf an, wer repräsentiert die Proeuropäer am besten von den Spitzenkandidaten, und dazu wollen wir als Grüne dazu beitragen und das hat gestern ja begonnen, dass die Proeuropäer vernünftig miteinander reden, wenn ich auch sehr bedauere, dass die Liberalen im Europaparlament ihre Unterstützung für das Spitzenkandidatenprinzip weiter unklar lassen, was ihrer Tradition ja überhaupt nicht entspricht. Die waren mal Wegbereiter des Parlamentarismus und heute blockieren sie mehr Einfluss des Parlaments in Brüssel. Das ist ja schon ein bisschen ironisch, historisch gesehen.
Heinlein: Sind damit die Liberaldemokraten und damit auch Frankreichs Präsident Macron, der sie ja unterstützt, der Hauptgegner des Parlamentes beim Thema EU-Kommissionspräsident und Angela Merkel umgekehrt die Verbündete der Abgeordneten, weil sie ja das Prinzip des Spitzenkandidaten hochhält?
Giegold: Natürlich ist es so, dass derzeit diejenigen, die die Rechte des Parlaments beschneiden wollen, in dieser Frage Gegner sind. Gleichzeitig wie gesagt: Uns kommt es zuerst auf die Inhalte an, nicht die Personen. Worauf es jetzt uns ankommt ist, dass im Parlament darüber geredet wird, auf welcher Basis soll ein Kommissionspräsident oder eine Kommissionspräsidentin handeln. Das ist der entscheidende Punkt. Wir wollen, dass jetzt eine Parlamentsmehrheit über diese Inhalte redet. Ich bin mir sicher, die anderen wollen auch über Inhalte reden, und auf der Basis gehen wir voran.
Heinlein: Herr Giegold, der Lissaboner Vertrag ist ja beim Thema Verfahren zur Wahl des neuen EU-Kommissionspräsidenten nicht ganz klar. Artikel 17, da gibt es keine Vorgaben. Das Prinzip des Spitzenkandidaten ist da nicht verankert. Erweist sich das heute als Fehler, dass man damals das Verfahren nicht glasklar präzise formuliert hat?
Giegold: Das ist nur halb richtig. Wenn man mit Menschen diskutiert, die damals den entsprechenden Artikel entworfen haben, so hatten die genau diese Form von Wettbewerb damals während des Konvents im Kopf. Es ist völlig klar: Ohne Parlamentsmehrheit gibt es keinen Kommissionschef. Deshalb ist das Parlament der Wählende. Der Rat ist nur derjenige, der vorschlägt, und dadurch hat das Parlament, die Parlamentsmehrheit am Ende das letzte Wort. Das bedeutet, dass dieses Verfahren zur Stärkung europäischer Demokratie sehr wohl im Vertrag angelegt ist.
"Wir brauchen mehr Demokratie in Europa, nicht weniger"
Heinlein: Das klingt nach einer Kampfansage des Parlaments an den Europäischen Rat. Droht jetzt tatsächlich, Herr Giegold, abschließend die Frage, eine monatelange Blockade, bis man die Entscheidung dann fällt?
Giegold: Es kann sein, dass das ein wenig dauert, aber ich hoffe doch wirklich eins, dass nämlich das nicht die einzige Konsequenz der Europawahl ist, sondern was wir jetzt brauchen – und gerade in Deutschland haben wir auch nur derzeit Debatten über personelle Konsequenzen, bei Sozialdemokratie, bei Christdemokratie; die reden ja nur über Personen. Dabei braucht doch deutsche Europapolitik einen Neustart. Die Blockade vieler Vorschläge in Brüssel ist abgewählt worden und was wir jetzt endlich brauchen ist eine Bundesregierung, die anfängt, die Blockade zum Beispiel bei der Steuerpolitik, wo gute Vorschläge derzeit blockiert sind, die Steuertransparenz für Großkonzerne zum Beispiel, diese Blockade aufzuheben und selber aktive Politik in Brüssel zu machen. Schlichtweg: Ich wünsche mir so sehr, dass die Große Koalition jetzt anfängt, dass Deutschland in Europa wieder investiert, statt es zu blockieren. Diese Diskussion bei den Koalitionspartnern hier in Deutschland, die vermisse ich, statt nur über Personalia zu reden.
Heinlein: Wir brauchen es als Journalisten immer ein bisschen präziser, Herr Giegold. Es könnte ein bisschen dauern, haben Sie gesagt. Blicken wir zurück: 2014 dauerte es drei Monate und es brauchte drei Gipfel. Geht es diesmal ein bisschen schneller oder wird das noch länger dauern?
Giegold: Ich hoffe und es würde schneller gehen, wenn der Rat nicht einen Rückschritt in europäischer Demokratie machen würde. Das wäre ein großer Fehler für das Parlament, einen solchen Rückschritt zu akzeptieren. Natürlich sind wir konstruktiv, aber wir brauchen mehr Demokratie in Europa, nicht weniger.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.