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Svenja Flaßpöhler: „Sensibel“
Das gekränkte Individuum

Wenn Empfindsamkeit einen höheren Stellenwert erhalte als Resilienz, drohe gesellschaftlicher Stillstand. Das schreibt die Philosophin Svenja Flaßpöhler in ihrem Buch „Sensibel“. Wenn Gefühle das Handeln leiten, zögen sich die Menschen schutzsuchend zurück oder würden aggressiv.

Svenja Flaßpöhler im Gespräch mit Angela Gutzeit |
Die Schriftstellerin Svenja Flaßpöhler und ihr Buch „Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“
Zu viel Sensibilität zersplittert die Gesellschaft, warnt die Philosophin Svenja Flaßpöhler (Foto: Johanna Ruebel, Buchcover: Klett-Cotta Verlag)
"Wir erleben gerade, wie diese eigentlich konstruktive Kraft der Sensibilität in Destruktivität umzuschlagen droht: Anstatt zu verbinden, trennt uns die Empfindlichkeit. Sie zersplittert Gesellschaften in Gruppen," so die Philosophin Svenja Flaßpöhler in ihrem neuen Buch "Sensibel". Schon mit ihrer Streitschrift "Die potente Frau" hatte die Chefredakteurin des "Philosophie-Magazins" heftigen Streit entfacht. Es ging um ihre These, die MeToo-Bewegung sei in patriarchalen Denkschemata befangen, einem starren Opfer-Täter-Denken. Nun hat Flaßpöhler noch einmal nachgelegt. Auffällig sei, wie sehr unsere Zeit von der Konfliktlinie "gute Weiblichkeit versus böse Männlichkeit" geprägt sei, schreibt sie.

Rückzug ins Meinungsbläschen

Den Blickwinkel hat Flaßpöhler in ihrem neuen Buch aber jetzt noch einmal erheblich erweitert. MeToo und die Debatte um toxische Männlichkeit sind hier eingebettet in eine Beschäftigung mit der Frage, wie es um das Verhältnis von Empfindsamkeit und Verletzlichkeit des Individuums auf der einen Seite und Widerstandskraft und Eigenverantwortung auf der einen Seite steht. Flaßpöhler ist der Meinung, hier sei etwas gehörig aus dem Ruder gelaufen. Ob es um Identitätsdebatten, um sogenannte kulturelle Aneignung, politische Korrektheit oder um gendergerechte Sprache gehe, zunehmend würden Gefühle handlungsleitend. Die Folge: Menschen zögen sich schutzsuchend ins eigene Meinungsbläschen zurück oder würden aggressiv.
Grafik: Eine Person liegt auf einem Liegestuhl und liest ein Buch, daneben ein Sonnenschirm. Der Liegestuhl steht auf der Dachterasse eines Hauses, rundherum sind Hochhäuser zu sehen. 
Svenja Flaßpöhler vs. Ralf Konersmann
Corona hat uns ausgebremst. Doch wohin hat uns der erzwungene Stillstand geführt? Ist er eine Chance zur Besinnung oder doch eher Bedrohung und Gefahr? Darüber debattieren die Philosophen Svenja Flaßpöhler und Ralf Konersmann.

Philosophischer Streifzug

Alles nicht so neu, könnte man sagen. Aber Svenja Flaßpöhlers Buch besticht durch ihren historischen Weitblick. Es erzählt die Geschichte des sensiblen Selbst aus philosophischer Perspektive, stellt die Herausbildung der menschlichen Sensibilität in einen philosophisch-geschichtlichen Zusammenhang. In ihren Streifzügen von Jean-Jacques Rousseau über Friedrich Nietzsche bis zu Judith Butler macht Flaßpöhler deutlich, dass die Anerkennung der individuellen Sensibilität einen langen Weg hinter sich hat und im positiven Sinne unter anderem zur Verfeinerung von Sitten und Umgangsformen führte. Wenn heute Empfindsamkeit einen höheren Stellenwert erhalte als Resilienz, drohe gesellschaftlicher Stillstand.
Über Flaßpöhlers gut lesbares Buch lässt sich sicherlich trefflich streiten, was die Philosophin nach eigenem Bekunden auch bezweckt. Nachdenkenswert ist auf jeden Fall ihr Fazit: "Die Resilienz ist nicht die Feindin, sondern die Schwester der Sensibilität."
Svenja Flaßpöhler: "Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren",
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 232 Seiten, 20 Euro.