"Die Menschen haben nicht begriffen, daß sie sich in einem lebensgefährlichen Strahlungsfeld befanden", so Alexijewitsch. "Sie nahmen Zuflucht zum Bekannten, verglichen es mit dem Krieg. Hunderttausende von Soldaten und Offizieren, Militärhubschrauber und Kriegstechnik befanden sich am Reaktor. Doch niemand begriff, daß man die Strahlung nicht mit Panzern bekämpfen könne. Tschernobyl hat die Welt der technischen Allmacht , des guten sowjetischen Atoms völlig zerstört. Wir Weißrussen leben jetzt in diesem teuflischen Tschernobyl-Laboratorium. In Weißrussland erstreckt sich über Hunderte von Kilometern tote Erde. Wir haben erlebt, was noch nie jemand erlebt hat. Ich formuliere das für mich so: Der dritte Weltkrieg hat stattgefunden. Auf dem Territorium Weißrusslands, in seiner Erde, liegen 300 Bomben, und jede einzelne hat die Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Die Menschen leben in einer Situation wie nach dem dritten Weltkrieg. Die Weißrussen sind wie Flugschreiber, die man nach einem Absturz findet und auf denen die Daten des Fluges verzeichnet sind. Die Weißrussen haben das aufgezeichnet, was mit dem Menschen geschehen wird, wenn es zur atomaren Katastrophe kommt."
Eine Chronik der Zukunft nennt Swetlana Alexijewitsch ihr Buch. Doch zunächst führt es uns in eine längst versunken geglaubte, bäuerlich-archaische Zone, deren Verhaltensmuster und Gefühlswelt uns zutiefst fremd anmuten: Nihilismus und Fatalismus, Naivität und Apathie sind vorherrschend, geschlechtspezifisch variiert als Opfertum und Demut bei den Frauen, Draufgängertum und Heroismus bei den Männern. Die damalige sowjetische Nomenklatura benutzte diese Skavenmentalität, indem sie das gefügige Menschenmaterial skrupellos in den so deklarierten "Krieg aller Kriege warf ", "dahingeschleudert wie Sand auf den Reaktor", wie ein Soldat sagt. Doch Swetlana Alexijewitschs Buch verengt sich nicht auf wohlfeile antisowjetische Polemik. Vielmehr nimmt sie die "Katastrophe der russischen Mentalität" ins Visier. Eine Ingenieurin bringt die mystische Leidenskultur des slawischen Volkes schlicht auf den Punkt: "Das ist auch eine Art von Barbarei: fehlende Angst um sich selbst."
In der phantastischen Zone der Zukunft, in der diese Menschen heute leben, dauert diese Unfähigkeit zu selbstbestimmtem, selbstveranwortlichem Handeln fort: im Dulden des offiziell verordneten Schweigens, in Verdrängung und Selbstlüge. Für viele Interviewten war die weißrussische Journalistin die erste Person, mit der sie über die einschneidenden psychischen und physischen Folgelasten der radioaktiven Strahlungen sprechen konnten. Die Impotenz vieler ehemaliger Katastrophenhelfer ist in diesem Landstrich ohne psychotherapeutische Gesprächs- und zivile Protestkultur kein Thema. Schlimmer noch: In den radioaktiv verseuchten Sperrzonen haben sich Aussiedler aus fernöstlichen Krisenzonen angesiedelt. Für sie, die ihre sowjetische Heimat verloren, bietet die Gegend von Tschernobyl mit ihren verlassenen Siedlungen ein neues Zuhause. Doch die friedliche Kulisse einer scheinbar intakten Natur trügt. Die Zeichen der Zukunft sind offenkundig, doch alle verschließen die Augen. Dabei hat der schleichende Tod, wie eine der wenigen Sehenden sagt, "bereits unser Blutbild, unseren genetische Code, die Landschaft verändert."
In Weißrussland unter dem diktatorischen Regime Lukaschenkos darf Swetlana Alexijewitschs Buch bislang nicht erscheinen. Bei der Leipziger Buchmesse hat sie Ende März den Buchpreis zur europäischen Verständigung erhalten. Ihrer warnenden Chronik der Zukunft sind zumindest hierzulande viele Leser zu wünschen.