Hinweis: Diese Rezension wurde am 26.08.2013 im Deutschlandfunk gesendet. Aus aktuellem Anlass der Literaturnobelpreisvergabe an Swetlana Alexijewitsch können Sie sie hier noch einmal lesen.
Die Rentner, Veteranen, Schriftstellerinnen, Parteisoldaten und Arbeiter, die Swetlana Alexijewitsch in ihrem neuen Buch "Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus" zu Wort kommen lässt, haben ihr Land, ihre Hoffnungen, ihren Halt verloren. Der Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 hat ihnen all das genommen. Von einem Tag auf den anderen fanden sie sich in einem neuen Land wieder, das von Marx, von Komsomolzen oder Revolutionsfeiertagen nicht mehr viel wissen wollte. Und von der neuen Freiheit und dem Raubtierkapitalismus, der durchs unabhängige Russland fegte, zeigten sie sich schnell enttäuscht. Im Reigen all dieser Gesprächspartner ist da zum Beispiel Wassili Petrowitsch N., 87 Jahre alt, seit 1922 Mitglied der Kommunistischen Partei. Er sagt:
"Meine Heimat ist der Oktober. Lenin... der Sozialismus... Ich habe die Revolution geliebt. Die Partei ist mir das Teuerste. Ich bin seit siebzig Jahren in der Partei. Das Parteibuch ist meine Bibel. (...) Wir wollten das Himmelreich auf Erden errichten. Ein schöner, aber nicht zu verwirklichender Traum, der Mensch ist dazu nicht bereit."
Dieser alte Kommunist erzählt von seiner Jugend, vom Krieg, über seine Verbitterungen, weil er sich aufgrund seiner politischen Einstellung in der neuen, postsowjetischen Welt als Massenmörder abgestempelt sieht. In der Sowjetunion war er selbst denunziert worden, saß im Gefängnis, wurde aus der Partei ausgeschlossen, dann rehabilitiert. Dennoch hielt er an seiner kommunistischen Überzeugung fest. Alexijewitsch lässt ihn reden, fragt nach, hört ihm zu. Und am Ende beichtet dieser alte Knochen etwas, was er sein ganzes Leben mit sich herum getragen hat. Als er 15 Jahre alt war, hat er seinen Onkel denunziert, weil er im Wald Getreide versteckt hatte. Mit tragischen Folgen.
"Am Morgen erwachte ich vom Schrei meiner Mutter: "Semjons Hütte brennt!" Onkel Semjon haben wir dann im Wald gefunden... die Rotarmisten haben ihn mit Säbeln in Stücke gehackt…"
Wassilli, der überzeugte Kommunist, weint - und sagt dennoch: "Ich will als Kommunist sterben. Das ist mein letzter Wunsch..." Es ist nicht das einzige Mal in diesem Buch, dass der Leser ratlos, ja hilflos zurückbleibt. Alexijewitsch urteilt nicht. Sie stellt die Interviews auch nicht in erklärende Zusammenhänge, kategorisiert sie lediglich in philosophisch anmutende Kapitel, die sie beispielsweise "Vom süßen Leiden und dem Fokus des russischen Geistes" nennt. Sie lässt den langen Monologen der russischen, weißrussischen oder aserbaidschanischen Zeitzeugen und, wenn man es pathetisch sagt, ihren Seelen Raum. Der Leser soll sich sein eigenes Urteil bilden, sein eigenes Bild von diesen Sowjetmenschen, von Opfern und Tätern und ihren Leben malen. Das ist die Methode von Alexijewitsch. Sie selbst meldet sich nur in der Einleitung des Buches zu Wort. Dort schreibt sie:
"Wir alle, die Menschen aus dem Sozialismus, ähneln einander und sind anders als andere Menschen – wir haben unsere eigenen Begriffe, unsere eigenen Vorstellungen von Gut und Böse, von Helden und Märtyrern. Wir haben ein besonderes Verhältnis zum Tod... Vor der Revolution von 1917 schrieb Alexander Grin: "Die Zukunft ist nicht mehr an ihrem Platz." Seitdem sind hundert Jahre vergangen, und wieder ist die Zukunft nicht mehr an ihrem Platz. Wir leben in einer Secondhand-Zeit."
"Meine Heimat ist der Oktober. Lenin... der Sozialismus... Ich habe die Revolution geliebt. Die Partei ist mir das Teuerste. Ich bin seit siebzig Jahren in der Partei. Das Parteibuch ist meine Bibel. (...) Wir wollten das Himmelreich auf Erden errichten. Ein schöner, aber nicht zu verwirklichender Traum, der Mensch ist dazu nicht bereit."
Dieser alte Kommunist erzählt von seiner Jugend, vom Krieg, über seine Verbitterungen, weil er sich aufgrund seiner politischen Einstellung in der neuen, postsowjetischen Welt als Massenmörder abgestempelt sieht. In der Sowjetunion war er selbst denunziert worden, saß im Gefängnis, wurde aus der Partei ausgeschlossen, dann rehabilitiert. Dennoch hielt er an seiner kommunistischen Überzeugung fest. Alexijewitsch lässt ihn reden, fragt nach, hört ihm zu. Und am Ende beichtet dieser alte Knochen etwas, was er sein ganzes Leben mit sich herum getragen hat. Als er 15 Jahre alt war, hat er seinen Onkel denunziert, weil er im Wald Getreide versteckt hatte. Mit tragischen Folgen.
"Am Morgen erwachte ich vom Schrei meiner Mutter: "Semjons Hütte brennt!" Onkel Semjon haben wir dann im Wald gefunden... die Rotarmisten haben ihn mit Säbeln in Stücke gehackt…"
Wassilli, der überzeugte Kommunist, weint - und sagt dennoch: "Ich will als Kommunist sterben. Das ist mein letzter Wunsch..." Es ist nicht das einzige Mal in diesem Buch, dass der Leser ratlos, ja hilflos zurückbleibt. Alexijewitsch urteilt nicht. Sie stellt die Interviews auch nicht in erklärende Zusammenhänge, kategorisiert sie lediglich in philosophisch anmutende Kapitel, die sie beispielsweise "Vom süßen Leiden und dem Fokus des russischen Geistes" nennt. Sie lässt den langen Monologen der russischen, weißrussischen oder aserbaidschanischen Zeitzeugen und, wenn man es pathetisch sagt, ihren Seelen Raum. Der Leser soll sich sein eigenes Urteil bilden, sein eigenes Bild von diesen Sowjetmenschen, von Opfern und Tätern und ihren Leben malen. Das ist die Methode von Alexijewitsch. Sie selbst meldet sich nur in der Einleitung des Buches zu Wort. Dort schreibt sie:
"Wir alle, die Menschen aus dem Sozialismus, ähneln einander und sind anders als andere Menschen – wir haben unsere eigenen Begriffe, unsere eigenen Vorstellungen von Gut und Böse, von Helden und Märtyrern. Wir haben ein besonderes Verhältnis zum Tod... Vor der Revolution von 1917 schrieb Alexander Grin: "Die Zukunft ist nicht mehr an ihrem Platz." Seitdem sind hundert Jahre vergangen, und wieder ist die Zukunft nicht mehr an ihrem Platz. Wir leben in einer Secondhand-Zeit."
Ein Kompendium an Monologen
Als Secondhand-Zeit bezeichnet Alexijewitsch das Leben in der post-sowjetischen Welt, weil es im Gewand einer alten Zeit, eben der Sowjetunion, wandelt. Stalin ist selbst für junge Russen wieder ein Held. Die Vergangenheit wird nostalgisch verklärt. Es gibt ein Bedürfnis nach diesem untergegangenen Riesenreich. Die Interviews in dem Buch stammen aus dem Zeitraum zwischen 1991, als die Sowjetunion von der Weltkarte verschwand, und 2012, als Putin zum zweiten Mal zum Präsidenten Russlands gewählt wurde.
Wer nun eine Geschichte der postsowjetischen Welt und ihrer Kultur erwartet, wird enttäuscht. Vielmehr handelt es sich um ein Kompendium an Monologen, das die Metaphysik des Sowjetmenschen und seines Lebens zu erkunden sucht. Die Interviews geben dabei durchaus tiefe Einblicke in alltägliche, politische, kulturelle und psychologische Belange in unterschiedlichen Epochen der Sowjetunion, in der Zeit vor und nach ihrem Zusammenbruch und in der Zeit der neuen Nationalstaaten auf dem Gebiet der einstigen UdSSR. Für Kenner des Landes werden sich mitunter nicht immer neue historische Erkenntnisse ergeben. Dennoch findet man immer wieder erhellende Anekdoten. Einer der Höhepunkte ist zum Beispiel das Gespräch mit einem Kreml-Insider, der erklärt, was an Gorbatschow, der die Perestroika einläutete, so anders war als an anderen Oberhäuptern der Sowjetunion.
"Im Kreml gab es einen eigenen Koch. Alle Politbüro-Mitglieder bestellten bei ihm Hering, Speck, schwarzen Kaviar, Gorbatschow aber meist Kascha, Salat. Er bat, ihm keinen schwarzen Kaviar zu servieren: "Kaviar ist gut zum Wodka, aber ich trinke nicht."... Er war ganz anders als alle früheren Generalsekretäre. Ganz unsowjetisch liebte er seine Frau zärtlich. Sie gingen oft Hand in Hand spazieren... Ich weiß noch, dass wir im Ausland einen anderen Gorbatschow erlebten, dort erinnerte er kaum an den Gorbatschow, den wir Zuhause kannten. Dort fühlte er sich frei. Er machte gelungene Scherze, formulierte seine Gedanken klar. Zu Hause dagegen intrigierte und lavierte er."
Der sowjetische Mensch ist dem Leser nach der Lektüre zwar ein Stück näher gekommen, aber er bleibt ein diffuses Konstrukt – was auch an der gewaltigen Ballung der Monologe und Stimmen liegen dürfte, die mitunter sehr ermüdend wirkt. Dies ist auch keineswegs das beste Buch der Friedenspreisträgerin. Aber wie alle Bücher der eigenwilligen Autorin offenbart auch dieses über den radikalen Epochenwandel im postsowjetischen Raum, dass es Alexijewitsch vor allem um eines in ihrem Werk geht: um den Menschen - dieses schöne, schreckliche Wesen, um sein Leiden und manchmal um sein Glück.
Wer nun eine Geschichte der postsowjetischen Welt und ihrer Kultur erwartet, wird enttäuscht. Vielmehr handelt es sich um ein Kompendium an Monologen, das die Metaphysik des Sowjetmenschen und seines Lebens zu erkunden sucht. Die Interviews geben dabei durchaus tiefe Einblicke in alltägliche, politische, kulturelle und psychologische Belange in unterschiedlichen Epochen der Sowjetunion, in der Zeit vor und nach ihrem Zusammenbruch und in der Zeit der neuen Nationalstaaten auf dem Gebiet der einstigen UdSSR. Für Kenner des Landes werden sich mitunter nicht immer neue historische Erkenntnisse ergeben. Dennoch findet man immer wieder erhellende Anekdoten. Einer der Höhepunkte ist zum Beispiel das Gespräch mit einem Kreml-Insider, der erklärt, was an Gorbatschow, der die Perestroika einläutete, so anders war als an anderen Oberhäuptern der Sowjetunion.
"Im Kreml gab es einen eigenen Koch. Alle Politbüro-Mitglieder bestellten bei ihm Hering, Speck, schwarzen Kaviar, Gorbatschow aber meist Kascha, Salat. Er bat, ihm keinen schwarzen Kaviar zu servieren: "Kaviar ist gut zum Wodka, aber ich trinke nicht."... Er war ganz anders als alle früheren Generalsekretäre. Ganz unsowjetisch liebte er seine Frau zärtlich. Sie gingen oft Hand in Hand spazieren... Ich weiß noch, dass wir im Ausland einen anderen Gorbatschow erlebten, dort erinnerte er kaum an den Gorbatschow, den wir Zuhause kannten. Dort fühlte er sich frei. Er machte gelungene Scherze, formulierte seine Gedanken klar. Zu Hause dagegen intrigierte und lavierte er."
Der sowjetische Mensch ist dem Leser nach der Lektüre zwar ein Stück näher gekommen, aber er bleibt ein diffuses Konstrukt – was auch an der gewaltigen Ballung der Monologe und Stimmen liegen dürfte, die mitunter sehr ermüdend wirkt. Dies ist auch keineswegs das beste Buch der Friedenspreisträgerin. Aber wie alle Bücher der eigenwilligen Autorin offenbart auch dieses über den radikalen Epochenwandel im postsowjetischen Raum, dass es Alexijewitsch vor allem um eines in ihrem Werk geht: um den Menschen - dieses schöne, schreckliche Wesen, um sein Leiden und manchmal um sein Glück.
Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit - Leben auf den Trümmern des Sozialismus, Hanser Berlin Verlag, 576 Seiten, 27,90 Euro. ISBN: 978-3-446-24150-3