Aus Sicht von Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), ist der Vorschlag von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, eine international kontrollierte Schutzzone in Nordsyrien einzurichten, chancenlos. Im Deutschlandfunk-Interview der Woche sagte Perthes:
"Ich glaube, dass der Vorschlag für Syrien gegenstandslos geworden ist, spätestens am Dienstag, als Russland und die Türkei sich darüber geeinigt haben, diese Zone selbst zu kontrollieren und zu patroullieren. Und dass Russland als permanentes Mitglied des Sicherheitsrats sich dies durch einen deutschen Vorschlag qua UN-Mandat wieder abnehmen lassen würde, muss man nicht erwarten."
Falls der Vorschlag Kramp-Karrenbauers ein Indiz dafür sei, dass Deutschland zukünftig nicht nur darauf warten will, dass andere Staaten immer die Initiative übernehmen, wenn es darum geht, sich um einen strategischen Ansatz für den Umgang mit Krisenregionen zu bemühen, dann könnte der Vorschlag dennoch nützlich gewesen sein.
"Exportstopp gegen die Türkei wirklich absurd"
Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, sieht deutliche Überreaktionen als Antwort auf die Militäroffensive der Türkei. "Die Art und Weise, wie in der medialen und politischen Debatte nach dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien mit der Türkei umgegangen worden ist, die hat für mich schon ans Absurde gegrenzt", so Perthes im Interview der Woche:
"Wenn da gesagt wurde, jetzt müssen wir aber mal die Türkei aus der NATO rausschmeißen, ohne zu fragen, ob das überhaupt geht oder ein totaler Exportstopp gegen die Türkei, als wollten wir die Trumpsche Forderung, die Türkei ökonomisch zu zerstören, europäisch umsetzen, das war wirklich absurd und maßlos."
Das Ganze sei eine Art Ersatzhandlung dafür, dass die Europäer eben selbst keine effektive Syrien-Politik gehabt haben in den letzten zehn Jahren. Wenn man die Sicherheitsinteressen der Türkei und die Aufnahme von 3,6 Millionen Flüchtlingen in der Türkei anerkenne, dann habe man auch eine Gesprächsgrundlage für die Themen, "bei denen wir massive Kritik an türkischer Politik haben", so Perthes weiter.
Remme: Herr Perthes, willkommen zum Interview der Woche.
Perthes: Sehr gern, guten Morgen.
Remme: Hinter uns liegt eine Woche, in der sich die öffentliche Debatte sehr auf die Außenpolitik konzentrierte. Wieder einmal ging es um Syrien, genauer um die Folgen der völkerrechtswidrigen türkischen Militäroffensive im Norden des Landes. Der Rückzug der Amerikaner, die Rolle Russlands, die Stellung Assads und natürlich auch der Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer für eine international kontrollierte Schutzzone sind davon nicht zu trennen. Bezogen auf Syrien selbst sind das ja alles Splitter in der Endphase eines fürchterlichen Kriegs, der Tod und Vertreibung brachte. Wir haben gleich auch Zeit, das Bild danach zu weiten, denn in Moskau, Washington, Ankara, anderen Hauptstädten geht es hier ja um weit mehr als einen Kriegsschauplatz. Sie verfolgen das alles seit Jahren. Sie leiten eine Stiftung, die sich der Politikberatung für die Bundesregierung verschrieben hat. Zeitweise haben Sie eng mit dem UN-Sonderbotschafter für Syrien zusammengearbeitet. Zunächst einmal an Sie die Frage: Ist das so? Ist dies klar die Endphase dieses Kriegs? Oder werden Sie vorsichtiger?
Perthes: Ich denke tatsächlich, dass der türkische Einmarsch und die ganzen Veränderungen, die wir in den letzten zwei Wochen gesehen haben, so etwas wie der vorletzte oder vielleicht der vorvorletzte Akt in diesem Syrienkrieg sind. Es gibt neben der Situation in Nordsyrien ja noch andere Teile Syriens, wo es keine Entscheidung gibt. Der Nordwesten, Idlib, umkämpft mit vielen Toten, mit vielen Vertriebenen, mit anhaltenden Bombardierungen. Es gibt nach wie vor die Frage, was geschieht im irakisch-syrischen Grenzgebiet, etwas weiter südlich am Euphrat, wo wir in den letzten Tagen wieder einmal eine neue Wendung amerikanischer Politik erlebt haben in Richtung der Forderung, doch schweres militärisches Gerät dort zu lassen, um bestimmte Öleinlagen zu schützen. Die Frage ist, gegen wen eigentlich oder für wen? Also, ganz zu Ende ist der Krieg noch nicht, aber strategisch ist er entschieden. Und ich glaube, es ist ganz wichtig, dass, was immer in Deutschland und Europa über Syrien geredet wird, wir sagen müssen, ob uns das gefällt oder nicht, ob uns das Regime in Damaskus gefällt oder nicht, wir können die Realitäten nicht länger ignorieren.
Remme: Ich überlege mir bei diesem ganzen Geflecht von Interessen der Amerikaner, die sich zurückziehen, der Russen, die das Vakuum füllen, der Türken, die ihren Vorteil suchen, ist der Rückzug der Amerikaner in der Hinsicht ein Punkt, wo es lohnt anzufangen, das Ganze zu sortieren oder muss man weiter zurückgehen in die Vergangenheit, um zu verstehen, warum Erdoğan und Putin im Moment in so einer starken Position sind? Denn wir haben ja auch schon in den Vorjahren erlebt, dass der UNO- ... Friedensprozess mag ich es gar nicht nennen, die Suche der UNO nach einer politischen Lösung sich gabelte, es plötzlich einen Zweig in Sotschi gab, wo Russen, Iraner und Türken versuchten, ein eigenes Ding zu machen.
Perthes: Also, wir müssen sicherlich weiter zurückgehen, als jetzt nur diese vorletzte Wendung amerikanischer Politik, den Rückzug aus Nordost-Syrien zu analysieren. Der hat den türkischen Einmarsch natürlich erleichtert, hat ihm grünes Licht gegeben, aber hat ihn nicht verursacht. Da gab es ja Probleme. Da gab es Bedrohungswahrnehmungen aus der Türkei. Da gab es eine ungeklärte Lage, die wir auch vorher schon gehabt haben. Und wir wissen seit geraumer Zeit, dass Präsident Trump früher oder später die Truppenpräsenz in einem – und das bleibt wichtig – Teil der Region aufgeben wollte, die aus seiner Sicht für amerikanische geopolitische oder ökonomische Interessen nicht interessant ist. Für die Russen, für die Türken ist es interessant. Wir haben insgesamt die Entwicklung, ich würde den UN-Mediationsprozess nicht ganz sozusagen ad acta legen. Da haben wir ja ein kleines Fenster der Gelegenheiten, der politischen Gelegenheiten, das sich geöffnet hat durch die Zusammenstellung der Verfassungskommission, die ab nächste Woche in Genf tagen wird. Aber ja, Syrien ist der Punkt gewesen, wo fast alle Mächte des Nahen Ostens und viele internationale Player ihre Interessenkonflikte ausgetragen haben. Und was das angeht, sind wir tatsächlich kurz vor dem letzten Akt.
Remme: Sie haben die mögliche Verlegung von amerikanischen Panzern in den Osten, Richtung Ölfelder-Schutzfunktion, erwähnt. Das passt so gar nicht zum Rückzug der vergangenen Tage, so, wie er von Washington aus, von Trump aus, geschildert wurde. Ist das aus Ihrer Sicht Ausdruck einer zunehmend erratischen Politik des Weißen Hauses oder sehen Sie ein Kalkül?
Perthes: Also, wir haben diese erratische Politik des Weißen Hauses. Wir haben eine Politik des Weißen Hauses, von der oft andere Teile der Administration entweder nichts wissen oder nichts halten oder beides. Und wir haben sehr, sehr schnelle Wendungen amerikanischer Politik, egal, wo sie herkommt. Ich finde es sehr schwierig, Aussagen über die Zukunft amerikanischer Politik gerade zu machen, aber würde vermuten, dass eine massive amerikanische Truppenpräsenz in den Ölfeldern Südostsyriens nicht lange anhalten wird. Es gibt dafür keinerlei völkerrechtliche Berechtigung. Das hat jetzt viele Akteure in Syrien nicht gestört. Es wird keine lokale Bevölkerung mehr geben, mit der die Amerikaner hier vertrauensvoll zusammenarbeiten können, weil sie das Vertrauen der Kurden und der kurdischen Miliz YPG verloren haben. Und, wenn wir hier amerikanische Einrichtungen haben an syrischen Ölförderanlagen, werden diese amerikanischen Truppen sich vermutlich ziemlich schnell zum Angriffsziel von terroristischen oder anderen Angriffen machen.
"Die Amerikaner machen Großmachtpolitik"
Remme: Weil Sie die Kurden erwähnen und in den letzten Tagen wird aus meiner Sicht ein bisschen zu wenig über sie gesprochen, sie gelten als klassischer Verlierer der Bewegung, die Sie geschildert haben. Sind die Kurden hier ein wirkliches Opfer par Excellence oder hätten sie aus eigenem Tun diese Niederlage vermeiden können?
Perthes: Ich denke, sie hätten die ganze Situation, wie sie sich entwickelt haben, also das Spiel der regionalen Großmächte und einiger internationaler Großmächte, nicht verhindern können. Was man ihnen vorwerfen kann – wenn das überhaupt ein Vorwurf ist – ist, dass sie aus der eigenen Geschichte nichts gelernt haben, nämlich, dass sie im Zweifelsfall für die größeren Mächte Verschiebemasse sind, genutzt werden, solange sie ins Kalkül passen, aber dann auch fallengelassen werden. Und da gibt es eine längere Geschichte, die über 100 Jahre zurückreicht. Aber es gibt auch eine kürzere. Das war der Aufstand gegen Saddam Hussein im Irak, nach dem Kuwait-Krieg, wo die Kurden, wie damals übrigens auch die irakischen Schiiten, sicher waren, dass sie von den USA unterstützt wurden, aber nicht unterstützt worden sind.
Remme: Haben die Amerikaner die Kurden verraten?
Perthes: Ich finde, das ist mir eine zu moralische Kategorie. Die Amerikaner machen – und unter Trump noch sehr viel stärker als unter seinem Vorgänger –Großmachtpolitik und da sind nationale Minderheiten nicht eigentlich Partner, sondern sind Teile der Gesellschaften, in denen man operiert, über deren Köpfe man sich aber auch im Zweifelsfall mit anderen verständigt. Das mag nicht schön sein, aber das ist Großmachtpolitik.
Remme: Und in all das platzte am Montagabend – anders kann man das nicht nennen – dieser Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer. Nicht abgestimmt in der Bundesregierung, ohne Details, bestenfalls gut gemeint. Dennoch nützlich?
Perthes: Nützlich möglicherweise, wenn es ein Indiz dafür ist, dass Deutschland, also die Bundesregierung, zukünftig nicht nur darauf warten will, dass andere Staaten immer die Initiative übernehmen, wenn es darum geht, sich um einen strategischen Ansatz für den Umgang mit Krisenregionen zu bemühen, sondern dass man bereit ist, selber Initiativen zu nehmen und anderen die Antwort zu überlassen, ob sie nun mitmachen wollen oder wie sie mitmachen wollen oder ob sie gar nicht mitmachen wollen. Das wäre durchaus erwartet von unseren Partnern. Dabei geht es gar nicht nur um Militär und dabei geht es gar nicht notwendig um Syrien, sondern einfach zu sagen, wir ändern den Stil unserer Politik ein wenig und wir sind nicht immer nur diejenigen, die darauf warten, dass andere uns fragen, sondern jetzt fragen wir andere mal. In dieser Hinsicht ja, in anderer Hinsicht glaube ich, dass für Syrien, noch dazu für Nordsyrien, der Vorschlag gegenstandslos geworden ist, spätestens am Dienstag, als Russland und die Türkei sich in Sotschi darüber geeinigt haben, diese Zone selber zu kontrollieren und zu patrouillieren. Und, dass Russland als permanentes Mitglied des Sicherheitsrats sich dies durch einen deutschen Vorschlag qua UN-Mandat wieder abnehmen lassen würde, muss man nicht erwarten.
Remme: Jetzt begründet Kramp-Karrenbauer ihr Vorgehen damit, dass sie, hätte sie versucht, diesen Vorschlag abzustimmen, entweder am Abend davor im Koalitionsausschuss – viele sagen, das sei doch nun wirklich die passende Gelegenheit gewesen – dann dieser Vorschlag schnell tot gewesen wäre, weil der Widerstand der SPD praktisch programmiert gewesen ist. Überzeugt Sie die Erklärung?
Perthes: Na, sagen wir mal so, ich versuche, deutsche Politik zu beraten und nicht Politiker und ihr Verhalten zu bewerten oder zu analysieren. Dies ist tatsächlich eine Frage von Koalitionspolitik, wie man mit der Perspektive früherer oder späterer Neuwahlen umgeht und welche Art von Bundesregierung man im Ausland – auch bei der NATO, auch bei der EU – darstellen will.
"Die russischen Interessen sind nicht inkompatibel mit unseren"
Remme: Die Initiative von Kramp-Karrenbauer setzt ein Einvernehmen mit Russland voraus. Unter anderem, wenn man ein Mandat im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gewinnen will. Russland gilt als politischer Gewinner der letzten Monate. Gleichzeitig ist doch allen klar, dass wenn es um den Wideraufbau eines zukünftigen Syriens geht, Russland die Rechnung dafür nicht bezahlen wird oder können wird, sondern dann wird der Westen gefragt. Mit anderen Worten: Bietet sich hier durch diese Verbindung eine Möglichkeit, mit Russland ins Geschäft zu kommen?
Perthes: Also, wir müssen mit Russland im Gespräch bleiben darüber auch, was in Syrien geschieht. Und tatsächlich kann man sagen, es gibt hier zwar absolut keine Interessenkonkurrenz, aber die russischen Interessen sind nicht völlig inkompatibel mit unseren, was die Zukunft Syriens angeht. Russland zum Bespiel anders als Iran, die andere Vormacht in Syrien, die andere Siegermacht, wenn Sie so wollen in Syrien. Russland möchte nicht, dass Syrien zum Austragungsort oder zum Ausgangsort einer militärischen Konfrontation zwischen Israel und Iran wird. Da stimmen wir mit Russland überein. Russland möchte einen stabilen Verbündeten im Nahen Osten. Da haben wir ein anderes Verständnis von Stabilität, weil wir sagen, das muss auch auf den Schutz der Schwachen, das muss auch auf Partizipation, das muss auch auf Menschenrecht und Rechtstaatlichkeit beruhen. Russland sagt, Stabilität in jeder Hinsicht wird es nicht geben, ohne ein Mindestmaß an sozialem und wirtschaftlichem Wiederaufbau. Da müssen wir zustimmen. Und dann ist es die Frage: Kommen wir in ein Gespräch darüber, unter welchen Bedingungen, also zum Beispiel Schutz der Schwächsten, Schutz derer, die auch den Krieg verloren haben, Rechte der Flüchtlinge et cetera, Europa sich an einem Wiederaufbau beteiligen kann?
Remme: Sie haben eben den Iran erwähnt. Wir haben über Russland gesprochen. Kaum ein ausländischer Staatschef polarisiert in Deutschland stärker als der türkische Präsident Erdoğan. Auch die Bundesregierung verurteilt die türkische Offensive als völkerrechtswidrig, gleichzeitig ist Erdoğan Partner in der Flüchtlingspolitik. Ist die deutsche Türkeipolitik glaubwürdig?
Perthes: Ich denke, sie ist glaubwürdig, aber sie hat Dilemmata und Schwierigkeiten zu konfrontieren, die zum Teil auch in der Persönlichkeit des türkischen Präsidenten liegen. Aber – fangen wir bei uns selber mal an –, die Art und Weise, wie in der medialen und politischen Debatte nach dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien mit der Türkei umgegangen worden ist, die hat für mich schon gelegentlich ans Absurde gegrenzt. Wenn dann gesagt wurde: ‚Jetzt müssen wir aber mal die Türkei aus der NATO rauschmeißen‘, ohne zu fragen, ob das überhaupt geht, das war zum Teil ... Oder ein totaler Exportstopp gegen die Türkei, als wollten wir die Trumpsche Forderung, die Türkei ökonomisch zu zerstören europäisch umsetzen. Das war wirklich absurd und maßlos und hat ein bisschen den Charakter eine Ersatzhandlung dafür, dass die Europäer selbst eben keine effektive Syrienpolitik gehabt hätten in den letzten zehn Jahren. Und ich denke – lassen Sie mich den Satz noch sagen –, wenn man anerkennt, dass die Türkei, auch wenn man die Instrumente, die sie genutzt hat nicht teilt und nicht für richtig hält, wenn man anerkennt, dass die Türkei ein legitimes Sicherheitsinteresse hat und eine Bedrohung wahrnimmt in Nordsyrien – Rückzugsraum für Terroristen et cetera – und wenn man gleichzeitig anerkennt, dass die Türkei 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge in den letzten Jahren untergebracht hat und sehr viel besser behandelt hat als andere Länder, dann hat man auch eine Gesprächsgrundlage für die Themen, wo wir massive Kritik an türkischer Politik haben.
Remme: Also – ich verstehe Sie richtig –, Sie halten es für falsch, wenn Rüstungsexporte in die Türkei mehr als nur eingeschränkt würden oder aber ökonomische Hebel, Sanktionen, Druckmittel, wie die Verweigerung von Hermesbürgschaften, umgesetzt würden?
Perthes: Wollen wir denn auch die Hermesbürgschaften – so es welche gibt – oder die Exporte in die USA stoppen, wenn Trump sagt, er lässt Panzer an den syrischen Ölförderanlagen?
Remme: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk und wir sprechen mit Volker Perthes, dem Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Wenn wir den aktuellen Krisenbogen weiten – Heiko Maas ist heute morgen nach Tunis geflogen, er wird auch Gespräche in Ägypten führen – und natürlich denken wir in dieser Region schnell an Libyen als Krisenherd, mit all seinen Folgen für das Thema Flüchtlinge. Hat die Bundesregierung in Libyen mehr Spielraum für Initiativen als etwa derzeit in Syrien?
Perthes: Sie hat hier einen Spielraum, weil sie als neutral gilt, weil sie nicht involviert gewesen ist in den Krieg, der zum Sturz von Gaddafi geführt hat im Jahre 2011. Und sie kann und sie tut das auch, sie bemüht sich darum – das Stichwort heißt "Berlin-Prozess". Sie bemüht sich darum, die Arbeit des Sondergesandten der Vereinten Nationen in Libyen zu unterstützen. Dieser kann mit den lokalen Gruppen reden und versuchen, da eine Gesprächsgrundlage zu schaffen für eine verfassungsgebende oder andere Versammlung, aber wird in seiner Arbeit ständig dadurch unterminiert, dass diverse regionale Mächte vor allem seine Arbeit dadurch stören, dass sie Waffen an die ein oder andere Partei liefern. Die Initiative der Bundesregierung, wie ich sie verstehe, geht darauf hin zu sagen: Wir versuchen die internationale Verständigung darüber zu schaffen, dass es, a) – und sei es auch nur für gewisse Zeit – einen Waffenstillstand gibt; b) das Waffenembargo, was international beschlossen worden ist, gegen Libyen, auch eingehalten wird von allen. Und das würde es der UNO und ihrem Sondergesandten erleichtern, in Libyen mit den lokalen Parteien wieder in einen Friedensprozess einzusteigen.
Remme: Jetzt berichten unter anderem Organisation wie Ärzte ohne Grenzen von katastrophalen Zuständen in den Flüchtlingscamps in Libyen. Eine humanitäre Verantwortung für Flüchtlinge auf hoher See, im Mittelmeer, ist ja in der EU tief umstritten. Vieles schiebt man auf die, ich will mal sagen, sogenannte libysche Küstenwache, die man finanziell unterstützt, die aber wiederum selbst im Zentrum der Kritik vieler steht. Drängt sich da nicht wieder der Eindruck auf, dass auch hier die Europäer, in diesem Fall die EU, auf Zeit setzt, zerstritten ist, keinen Plan hat, wenig Mittel hat, versagt?
Perthes: Also, das kann man so sehen und sozusagen auf die Abstimmungsprobleme und Interessenkonflikte in Europa schauen, die es selbstverständlich gibt. Jedes dieser Länder in Europa hat seine Innenpolitik, und es wäre einfach illusorisch zu erwarten, dass bestimmte Länder, dass die Regierungen bestimmter Länder etwas mitmachen, wo sie wissen, darüber verlieren sie – ohne dass das ihr vitales Interesse wäre –, darüber verlieren sie die Mehrheit bei den nächsten Wahlen. Da müssen wir dann tatsächlich überlegen, wie wir europäische Kompromisse so hinbekommen, dass jemand, der sich zum Beispiel nicht bereit sieht, sich zu beteiligen an der Aufnahme einer in der Regel begrenzten Zahl von Flüchtlingen, in anderer Weise europäische Politik in diesem südlichen Umfeld oder östlichen Umfeld Europas unterstützt. Da kann man über Grenzschutz reden, da kann man über Schiffe im Mittelmeer reden, da kann man über Entwicklungshilfe, über politische Hilfe oder eben auch über UNO-Missionen oder EU-Missionen, wie die in Mali, reden. Und das große Bild ist natürlich, dass wir so lange Flüchtlinge, nicht nur Migranten haben, die sich auch auf Stipendium bewerben würden, sondern echte Flüchtlinge haben, solange es uns und anderen und natürlich in erster Linie auch den Staaten dort in der Region nämlich gelingt, eine Form von nachhaltiger Stabilität in Nordafrika und dem Nahen Osten zu schaffen.
Die Türkei als NATO-Partner nicht verlieren
Remme: Und wir kommen deshalb auch im Moment noch nicht um Abkommen, wie das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei herum, von dem viele sagen, dass uns dieses Abkommen fesselt, was mögliche Reaktionen auf einen Völkerrechtsbruch angeht.
Perthes: Ja, das sagen viele. Und richtig ist, dass dieses Abkommen viel Kritik auf sich gezogen hat, wobei ich immer noch glaube, es ist besser als kein Abkommen. Die Kritik am Völkerrechtsbruch der Türkei haben wir geübt, einhellig, im Rat der europäischen Außenminister, wir haben auch die Rüstungsexporte suspendiert, solange der Grund dafür anhält. Und ich denke, das hätten wir nicht anders getan, aber wir hätten es auch nicht sehr viel schärfer getan, wenn wir kein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei gehabt haben. Die Türkei ist nach wie vor ein NATO-Partner, den wir auch nicht verlieren wollen. Die Türkei hat ganz, ganz enge gesellschaftliche und ökonomische Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland, die wir vielleicht eher verstärken wollen. Vielleicht müssen wir gelegentlich auch stärker nochmal über positive Anreize nachdenken, auch wenn Präsident Erdoğan die nicht fordert. Ich finde Visa-Erleichterung, bis hin zur Visa-Freiheit für türkische Studenten und Geschäftsleute etwas, was der Europäischen Union gut anstehen wollte, wenn sie sagen würden: ‚Für uns ist die Türkei nicht nur Erdoğan‘.
Remme: Kramp-Karrenbauer wollte ja eigentlich in erster Linie Deutschland vom Zaun holen – dieses Wort "Zaungast" spielte eine Rolle –, mit anderen Worten will, dass Deutschland mehr Verantwortung übernimmt. Das führt ja ganz schnell zurück ins Jahr 2014, zu dem Aufschlag von Gauck, von der Leyen und Steinmeier. Hat diese Koalition, haben Union und SPD mit ihrem Anliegen geliefert?
Perthes: Wissen Sie, für einen außenpolitischen Analysten und Ratgeber fällt vieles, was eine Regierung macht, immer hinter den Wünschen zurück. Aber ich glaube, wichtiger ist zu sagen, haben sie sich in die richtige Richtung bewegt. Und da, glaube ich, sind wir im europäischen Verbund schon dabei. Und da haben uns bestimmte Entwicklungen in unserer Umwelt, erstens keine andere Wahl gelassen, zweitens aber auch ein Stück weit zusammengeschweißt.
Remme: Beispiele?
Perthes: Beispiel: die zunehmende Konfrontation und Rivalität zwischen den USA und China, die ja fast ein neues Paradigma der internationalen Politik wird, nachdem wir 15 Jahre nur über den Kampf gegen den Terror gesprochen haben als den Rahmen, durch den zumindest die Amerikaner Weltpolitik betrachtet haben. Dazu gehört aber auch innerhalb Europas der Brexit, wo wir wussten, ein ganz starkes, ganz wichtiges Mitglied der EU ist auf dem Weg nach draußen. Und der dritte Faktor ist, dass wir innerhalb der einzelnen europäischen Staaten sehen, dass eine illiberale, populistische, nationalistische Tendenz den europäischen Konsens bedroht und das Bedrohungen liberaler Demokratie nicht nur aus China und Russland kommen, sondern zum Teil von innen. Und ich denke, alle haben begriffen, dass es nicht reicht, darüber zu lamentieren, sondern dass man tatsächlich fragen muss: Wo drückt denn den Bürgern der Schuh, die plötzlich glauben, nicht mehr repräsentiert zu sein, was muss man da anders machen?
Enges Verhältnis zwischen EU und Großbritannien is essentiell
Remme: Mit Blick auf die laufende Legislaturperiode werden jetzt viele Halbzeitbilanzen angestellt. Das ist wichtig – auch koalitionsintern – und das wird für unterschiedliche Themenfelder unterschiedlich ausfallen. Ist die Außen- und Sicherheitspolitik als Halbzeitbilanz der aktuellen Bundesregierung ein Pfund, mit dem sie wuchern kann?
Perthes: Ich denke, die Bundesregierung hat gezeigt, dass sie in bestimmten entscheidenden Fragen, auch vitalen europäischen Interesses, ein unverzichtbarer Spieler ist. Das gilt für Ukraine und die Diplomatie rund um die Ukraine. Das gilt für Afghanistan, wo viele andere abgezogen sind, die Deutschen aber nicht. Das gilt für Mali und den Sahel, wo vor zehn Jahren niemand erwartet hätte, dass vielleicht mal deutsche Soldaten mit französischen zusammen unterwegs sind. Das gilt für diplomatische Bemühungen etwa – darüber haben wir geredet –, bei Libyen sehr hilfreich zu sein, wenn sich sozusagen die lokalen Kräfte miteinander in ein Geflecht begeben, auf dem sie nicht mehr herauskommen. Das gilt durchaus auch für den Versuch, zusammen mit Frankreich eine Koalition, ein Netzwerk von multilateral gesinnten Staaten zu bauen. Das ist alles nicht so schlecht. Ich denke nur, bei der Halbzeitbilanz, die die Koalitionsparteien ziehen werden, ist das nicht die Priorität – und das bedauere ich immer ein bisschen –, sondern die Priorität werden innenpolitische, sozialpolitische Fragen sein.
Remme: Thema Brexit. Wir haben ja in den letzten Tagen und Wochen erstaunliche Irrungen, Wirrungen, Winkelzüge im britischen Unterhaus verfolgt, als wäre es das eigene Parlament, so will mir manchmal scheinen, in dem Detail, wie wir draufschauen. Unabhängig davon, wie dieses Drama ausgeht, ist ja Großbritannien nach der Entscheidung nicht von der Landkarte, auch nicht von der politischen Landkarte. Und ich frage mich, steht hier auch die Rolle Großbritanniens als außen- und sicherheitspolitischer Partner auf dem Spiel oder sehen Sie das als Konstante?
Perthes: Sie steht auf dem Spiel, aber das heißt ja nicht – wenn wir in der Metapher bleiben wollen –, dass man sie verloren hätte. Und ich glaube, es ist das gemeinsame Interesse der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten und Großbritanniens, wenn denn diese Brexit-Saga einmal hinter uns liegt, zu sagen: Wie bauen wir, stärken wir unsere Beziehungen, gerade auch im außen- und sicherheitspolitischen Bereich so, dass wir tatsächlich, wenn wir so Begriffe benutzen, wie strategische Autonomie oder europäische Souveränität, nicht von der strategischen Autonomie der Europäischen Union reden müssen, sondern von der strategischen Autonomie Europas reden können. Und ohne Großbritannien und ohne den diplomatischen Dienst Großbritanniens und ohne die Streitkräfte Großbritanniens, ist Europa auch in diesem sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich und im außenpolitischen Bereich sehr viel schwächer. Auch in der Entwicklungshilfe im Übrigen, auch in der Forschungs- und Entwicklungspolitik, unabhängig davon, was Großbritannien an Bruttosozialprodukt in die EU einbringt. Aber all diese Bereiche, die auch in Auseinandersetzungen mit China, über technologische Führerschaft, in der Frage, wie positioniert sich Europa, nicht nur die Europäische Union, sondern Europa zwischen den USA und China. Wenn die strategische Rivalität dort auf alle anderen Bereiche durchschlägt, ist es essentiell, dass die EU und Großbritannien ein ganz, ganz enges Verhältnis entwickeln.
Remme: Herr Perthes, ich bedanke mich sehr für das Gespräch.
Perthes: Vielen Dank.