Die Fitzroy Road ist eine ruhige und beschauliche Straße im Norden von London. In den frühen Abendstunden trifft man hier nur noch wenige Menschen, vorzugsweise in den umliegenden Pubs. Die meisten haben sich in ihre hübschen Wohnungen zurückgezogen, bereiten das Abendessen zu, schauen fern oder bringen die Kinder ins Bett. Nichts deutet daraufhin, dass sich am Morgen des 11. Februar 1963 in dem Haus mit der Nummer 23 eine Tragödie abspielte. Eine junge Frau von 30 Jahren dichtete die Fenster und Türen ihrer Küche mit Handtüchern und Klebeband ab, steckte ihren Kopf in den Backofen und drehte den Gashahn auf. Während ihre beiden Kinder schliefen, erstickte nur ein Stockwerk unter ihnen die amerikanische Schriftstellerin Sylvia Plath.
"Wenn ich klein bin, schade ich nicht.
Wenn ich nicht rumrenne, stoß ich nichts um. So sprach ich,
Unter einem Topfdeckel hockend, winzig und reglos wie ein Reiskorn.
Sie drehen die Brenner hoch, Ring für Ring.
Wir sind voller Stärke, meine kleinen weißen Gefährten. Wir wachsen.
Es tut weh zuerst. Die roten Zungen werden die Wahrheit lehren."
Wenn ich nicht rumrenne, stoß ich nichts um. So sprach ich,
Unter einem Topfdeckel hockend, winzig und reglos wie ein Reiskorn.
Sie drehen die Brenner hoch, Ring für Ring.
Wir sind voller Stärke, meine kleinen weißen Gefährten. Wir wachsen.
Es tut weh zuerst. Die roten Zungen werden die Wahrheit lehren."
Vieles ist seitdem über Sylvia Plath geschrieben worden. Ihr Tod markiert die Geburtsstunde einer Legende und den Beginn einer jahrzehntelangen Vereinnahmung ihrer Person, die mitunter bizarre Züge annahm. Man stritt über die Rechte an ihrem Werk, das von ihrem Mann, dem englischen Schriftsteller Ted Hughes, vertreten, aber lange Zeit nicht in der von ihr gedachten Weise veröffentlicht worden war. Man stritt über den Namenszug auf ihrem Grabstein, den mancher nicht mit dem Ehenamen Hughes in Verbindung gebracht sehen wollte. Man stritt sogar um die Anbringung jener blauen Plakette, die in England an bedeutsame Persönlichkeiten erinnert. Schließlich brachte man sie nicht in der Fitzroy Road an, in der Plath nur acht Wochen ihres Lebens verbrachte hatte, sondern an der Mauer ihrer ersten Londoner Wohnung, am Chalcot Square 3. Dort hatte Plath ihren einzigen Roman "Die Glasglocke" geschrieben und in dieser Zeit, nämlich 1960, wurde auch "The Colossus" veröffentlicht, der einzige Gedichtband, der zu Lebzeiten der Dichterin erscheinen sollte, ihre erste Buchveröffentlichung überhaupt. 50 Jahre nach ihrem Freitod erscheint der "Koloss" nun auch auf Deutsch im Suhrkamp Verlag, übersetzt von der Schriftstellerin Judith Zander.
"Vielleicht hältst du dich für ein Orakel,
Sprachrohr der Toten oder des einen oder anderen Gottes.
Dreißig Jahre hab ich nun geschuftet,
Um den Schlick aus deiner Kehle zu baggern.
Ich bin kein bisschen klüger."
Sprachrohr der Toten oder des einen oder anderen Gottes.
Dreißig Jahre hab ich nun geschuftet,
Um den Schlick aus deiner Kehle zu baggern.
Ich bin kein bisschen klüger."
Schon im Titelgedicht bekommt der Leser einen Vorgeschmack auf jenen infernalisch-anklagenden Tonfall aus den späteren Ariel-Gedichten, die Plath berühmt machen sollten. Sylvia hatte ihren Vater Otto Plath früh verloren, ihn später idealisiert, mystifiziert und sich schreibend immer wieder auf ihn bezogen, am verstörendsten in ihrem Gedicht "Daddy", in dem sie den Vater zum Nazi, sich selbst zum Opfer stilisiert. Im "Koloss", der an den Koloss von Rhodos denken lässt, krabbelt das lyrische Ich "wie eine Ameise in Trauer / Über die verkrauteten Äcker" der väterlichen Stirn und kauert "im Füllhorn" seines Ohrs, dem Ohr einer Statue, die das lyrische Ich versucht, vor dem Zerfall zu retten.
Aber begibt man sich nicht auf allzu dünnes Eis, wenn man die Bücher eines Schriftstellers auf seine Biografie zurückführt? Sylvia Plath, die ein Leben lang von dunkelsten Depressionen heimgesucht wurde, hätte unter anderen biografischen Vorzeichen wohl auch ganz andere Gedichte geschrieben. Man wird ihr jedoch nicht gerecht, wenn man diese nur als Auswurf ihrer seelischen Qualen betrachtet und die hohe Kunstfertigkeit der Autorin außer Acht lässt. Allzu oft fällt in diesem Zusammenhang auch der Begriff "Confessional Poetry", also Bekenntnislyrik, mit dem alles gesagt zu sein scheint.
Doch so einfach ist es nicht, denn große Kunst gelingt nur da, wo eine Verwandlung vonstattengeht. Keine Frage: Sylvia Plath greift in ihren häufig über zwei Seiten langen Gedichten mit Vorliebe auf autobiografische Erfahrungen zurück. In dem Gedicht "Das Augenstäbchen" fliegt dem lyrischen Ich ein Sandkorn ins Auge. Aus den Briefen an ihre Mutter wissen wir, dass Sylvia tatsächlich zwei Jahre vor Entstehen des Gedichts ein solches Korn aus dem Auge operiert werden musste. In ihren Versen wird das eher harmlose Erlebnis dann aber maßlos überhöht. Die eben noch bewunderten Pferde erscheinen fremdartig wie Kamele oder Einhörner, das Gedicht wird zur Bühne eines persönlichen Dramas archaischen Zuschnitts.
"Was ich zurückwill, ist, was ich gewesen,
Bevor das Bett und die Messerschneide,
Bevor die Broschennadel, die Salbe
Mich einspannten in diese Parenthese;
Was dem Sinn – Pferde fließend im Wind,
Ein Ort, eine Zeit – entschwand."
Bevor das Bett und die Messerschneide,
Bevor die Broschennadel, die Salbe
Mich einspannten in diese Parenthese;
Was dem Sinn – Pferde fließend im Wind,
Ein Ort, eine Zeit – entschwand."
Dem Leser wird einiges abverlangt, denn die Dichterin neigt dazu, weit auseinanderliegende Bildbereiche miteinander zu verschmelzen. Immer wieder erscheint die Natur als Abbild des Menschen, werden antike Mythen bemüht, Metaphern aneinandergereiht und auch an sperrigen Wortneuschöpfungen herrscht kein Mangel. Kurzum: eine Herausforderung für jeden Übersetzer. Judith Zander meistert sie mit Bravour. Als Lyrikerin besitzt sie ein Gespür für den richtigen Tonfall und indem sie den Gedichten der Plath ihren Atem leiht, Anklänge und Reime gekonnt nachbildet und auch den freien Vers in Schwingung versetzt, schafft sie es, nicht nur einzelne Zeilen, sondern ganze Gedichte zu übertragen. Weder verschleiert sie deren Sprödigkeit noch glättet sie ihren Furor, Lakonie und Drastik reichen sich die Hand. Die Anmerkungen der Übersetzerin helfen zudem über manche sprachliche Mehrdeutigkeit hinweg.
Da verstimmt es umso mehr, dass einem Nachwort kein Platz eingeräumt wurde, zumal, wenn man die Autorin im Klappentext als berühmteste amerikanische Dichterin des 20. Jahrhunderts preist. Ob sie das nun wirklich war, sei einmal dahingestellt. Die Intensität ihrer Ansprache suchte jedenfalls, zumal Anfang der 60er-Jahre, ihresgleichen. Am stärksten ist die Dichterin da, wo sie sich auf ihre inneren Bilder verlässt, wo sie für das persönlich erlittene Leid eine Form findet, die ihre Not in einen größeren Zusammenhang stellt.
"Dies ist die Stadt, in der Menschen geflickt werden.
Ich liege auf einem großen Amboss.
Der flache blaue Himmelskreis
Flog davon wie ein Puppenhut,
Als ich aus dem Licht fiel."
Ich liege auf einem großen Amboss.
Der flache blaue Himmelskreis
Flog davon wie ein Puppenhut,
Als ich aus dem Licht fiel."
So beginnt der siebente Teil des Langgedichts "Gedicht für einen Geburtstag". Immer wieder sind es die Dämonen, die die Zunge lösen. Die Elektroschockbehandlungen, die die Autorin aufgrund ihrer Depressionen über sich ergehen lassen musste, haben sich ihrem Gedächtnis ebenso eingebrannt wie das mühsame Ins-Leben-Zurückkämpfen nach ihrem ersten Selbstmordversuch. Die einst so ehrgeizige und von Selbstzweifeln zerfressene Literaturstudentin, die jahrelang wie besessen um ihren beruflichen Erfolg rang, die von einer amerikanischen Familienidylle träumte und dabei zusehen musste, wie mit dem Scheitern ihrer Ehe ihr ohnehin fragiles Glück nach und nach zerbrach. Diese starke und dennoch zarte junge Frau konnte der Dunkelheit ihres Lebens nicht entkommen.
Am Ende fiel sie tatsächlich aus dem Licht. In ihrem Roman "Die Glasglocke" und mehr noch in ihrem Gedichtband "Ariel", dessen vollständiges Manuskript man nach dem Tod der Schriftstellerin auf ihrem Schreibtisch fand, hatte sie ihre Stimme gefunden, die, so klar wie Eis, doch mitten aus der Hölle zu kommen schien. In den Gedichten ihres nun endlich auch auf Deutsch vorliegenden Debüts prägte sie diese Stimme erst aus, sie wirkt darin bisweilen noch gezügelt durch den starken Formwillen der akademisch geschulten Dichterin. Doch der erste Schritt in die Unterwelt war getan, "Der Koloss" bildet dazu die Portalfigur.
Literaturangaben:
Sylvia Plath: "Der Koloss - Gedichte", englisch und deutsch, Übertragen von Judith Zander, Suhrkamp Verlag Berlin, 163 Seiten, Preis: 22,95 Euro
Sylvia Plath: "Der Koloss - Gedichte", englisch und deutsch, Übertragen von Judith Zander, Suhrkamp Verlag Berlin, 163 Seiten, Preis: 22,95 Euro