Archiv

Sylvie Schenk: "Eine gewöhnliche Familie"
Wenn Geschwister zu Rivalen werden

Tante und Onkel sterben hochbetagt und kinderlos. Sie hinterlassen echte und geheuchelte Trauer - und eine satte Million. Dabei liefert der Erbstreit in Sylvie Schenks Roman "Eine gewöhnliche Familie" den Anlass, um auf kluge Art über Herkunft, soziale Zugehörigkeit und Vergänglichkeit nachzudenken.

Von Melanie Weidemüller |
    Buchcover: Sylvie Schenk: "Eine gewöhnliche Familie"
    In Sylvie Schenks "Eine gewöhnliche Familie" werden die seelischen Untiefen einer französischen Großfamilie ausgeleuchtet - eine Art Familienaufstellung mit literarischen Mitteln (Buchcover: Carl Hanser Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
    Einen Familienroman kann man betulich erzählen oder eiskalt, im besten Falle aber so ambivalent wie Sylvie Schenk es tut:
    "Eine Familie ist eine Wiege, ein Gefängnis, ein Giftschrank, ist ein Hafen. Nichts ist real. Auf nichts ist Verlass."
    Wenn es um Familie geht, geht es zwangläufig um jene Beziehungen, die uns unfreiwillig und von Geburt an stärker prägen als alle anderen Beziehungen. Die von klein auf erlernte Rollenverteilung, Beziehungsmuster, eine bestimmte Atmosphäre: All‘ das hat sich uns eingeschrieben, selbst wenn wir irgendwann das Weite suchen. Und auch wenn die Liebe da ist: Wer hätte nicht die Erfahrung gemacht, wie schnell das Gefühl von Heimat und Zugehörigkeit in Enttäuschung und Entfremdung kippen kann?
    Durchschnittliches Unglücksaufkommen
    So gesehen ist der Clan der Geschwister Cardin, von dem Sylvie Schenks neuer Roman erzählt, tatsächlich eine schrecklich gewöhnliche Familie, mit durchschnittlichem Unglücksaufkommen und unter die Oberfläche verbannten Familiengeheimnissen. Als dramaturgischer Aufhänger dient der Autorin ein Schlüsselereignis mit maximalem Konfliktpotenzial: eine Erbauseinandersetzung. Jene Situation also, in der bei der Frage nach der gerechten Aufteilung von Familienbesitz gern auch emotional abgerechnet wird, Verwandte zu Rivalen werden und Familien nicht selten endgültig zerbrechen.
    Wie schon Sylvie Schenks letzte Familiengeschichte ist auch ihr neuer Roman autobiografisch grundiert, doch wir wollen ihn als Fiktion lesen. Er beginnt in einer Zeitfalte des Nicht-Hier-Nicht-Dort-Seins: Mit einer Bahnfahrt am frühen Morgen im überfüllten TGV von Frankfurt nach Lyon. Céline, Schenks Hauptfigur, Anfang sechzig und von Beruf Dolmetscherin, reist in ihre alte Heimat zur Beerdigung von Tante Tamara und Onkel Simon. Die Zweitgeborene ist die Intellektuelle unter den vier Geschwistern Cardin, ging früh weg aus ihrem Heimatdorf in den französischen Alpen, um einen Deutschen zu heiraten. Auf der Trauerfeier wird sie nach Jahren die Familie wiedersehen, und plötzlich sind sie wieder da, die Kindheitserinnerungen.
    "Sie schließt die Augen, und, ach, da kommen sie doch alle auf einmal, ihr Bruder Philippe in gelber Latzhose, ihre Schwester Pauline auf einem kaputten Roller, Aline, die einen von der Mutter gestrickten Pulli anprobiert. Was sich jetzt vor ihr herumwälzt, ist ein Knäuel von zappeligen, gebräunten Kinderbeinen mit aufgeschürften Knien, sie selbst ist acht oder neun, sie raufen sich im Gras, plötzlich ein Bellen, ein schwarzer Hund fällt die Kinder an, Célines Wade erwischt er, Indianer weinen nicht, aber schreien wie am Spieß, der kleine Philippe sucht im Gras das Stückchen Fleisch, das an der Wade fehlt, vergiss es, der Hund hat es gefressen. Céline hinkt ins Haus. Philippe und Pauline rennen voran: Der Hund hat Céline gefressen!"
    Ja, so war das, damals. Der ungezogene Hund gehörte Tante Tamara und Onkel Simon, die so viel cooler, intelligenter und lebensfroher waren als die eigenen Eltern. Tante und Onkel starben hochbetagt und kinderlos im Abstand von nur drei Stunden. Sie hinterlassen echte und geheuchelte Trauer bei den Hinterbliebenen, ein Vermögen von einer satten Million und zwei Testamente. Darin hatten sie Nichten und Neffen zu gleichen Teilen als Erben eingesetzt, weil aber eines der Originale verschwunden ist, fiele das komplette Erbe nun juristisch an Tamaras nächste Verwandte: Bernard und seine durchgeknallte, 87-jährige Mutter Catherine. Kurz: ein Schlamassel, der schon in der Trauerhalle die alten Konfliktlinien neu aufleben lässt. Der Roman erzählt auf knappen 160 Seiten die Ereignisse und Begegnungen dieses einen Tages, und in vielen Rückblenden ein ganzes Familienepos.
    Psychogramm einer französischen Großfamilie
    Das ist fein gebaut, und klugerweise verzichtet die Autorin darauf, den Erbstreit zur Hauptsache zu machen. Faszinierend ist vielmehr die Genauigkeit, mit der Sylvie Schenk die Tiefenpsychologie eines Beziehungssystems ausleuchtet. Da ist der immer schon vorhandene Graben zwischen der bescheidenen eigenen Familie aus der Alpenkleinstadt und der bourgeoisen Verwandtschaft in Lyon, zwei Familienzweige, die sozialer Status, Milieu und Bildung trennt.

    In Schenks Darstellung sozialer Hierarchien und Einstellungen klingt Gesellschaftskritik an, das erzählerische Hauptaugenmerk liegt indes auf den mit verblüffender Präzision gezeichneten Geschwisterbeziehungen. Im Laufe des einen Beerdigungstages, den die ungeklärte Erbfrage überschattet, brechen nach der ersten Wiedersehensfreude alte Wunden, Rivalitäten und Eifersüchteleien zwischen den Geschwistern auf, die im Grunde alle vier sehr unterschiedlich sind. Aline, die verschlossene älteste, die immer etwas abseits stand; die jüngere Schwester Pauline, für die Céline sich bis heute verantwortlich; der quecksilbrige Bruder Philippe, der das Leben stets leichter nahm als seine Schwestern, die sich gern einen Wettbewerb um die größte Unglücksmedaille liefern. Schließlich die Hauptheldin Céline, klug, geschieden, kinderlos und affektgehemmt. Dass der Roman aus ihrer Perspektive erzählt wird, ist ein kleiner Kunstgriff: Als Dolmetscherin ist sie bereits beruflich zu Genauigkeit und Neutralität verpflichtet, eine professionelle Brückenbauerin, geübt darin, als "Übersetzerin" über Sprachgrenzen hinweg Verständigung zu ermöglichen. Mit dieser Haltung gelingt es Céline, sich empathisch in die anderen Familienmitglieder hineinzuversetzen, auch ihrer Perspektive Geltung zu verschaffen – sprechen doch auch Gefühle manchmal eine "Fremdsprache", die übersetzt werden will. Dazu gibt es eine weitere erzählerische Instanz, die sich als eine Art übergeordnetes kollektives "Wir" gelegentlich einschaltet, Célines Darstellung konterkariert und besonders dann amüsiert, wenn sie das Innenleben einer Figur schonungslos böse ausplaudert.

    "Wir denken, dass Pauline wahrscheinlich die Nase voll hat von Célines Überlegenheit, die nie aufgehört hat, ihr den richtigen Weg zeigen zu wollen. Der Trost, die Ratschläge, die Art, freundlich zuzuhören, sich selbst zu verleugnen, ihr behilflich zu sein, ekelhaft! Ich pfeife auf dein Verständnis. Ich pfeife auf deine telefonische und mailhafte Solidarität, du, die du so weit weg bist von meinem Leben, die du in der deutschen Metropole zweisprachig lebst und dich um den Onkel und die Tante so wenig kümmerst, du willst mir eine Lektion in Bescheidenheit und Zurückhaltung geben? Es riecht brenzlig in Paulines Herzen, da lodert die Hassliebe, die Missgunst, die Eifersucht, ein alter Groll, der ihre Beziehung zur Schwester irgendwann versengen könnte."
    Es geht um weit mehr als um den konkreten Verlust
    Was bedeutet Herkunft, warum werden Beziehungen oft wichtiger, je älter wir werden? Diese Fragen reflektiert Sylvie Schenk in ihrem Roman, in dem es nicht zuletzt um Trauer und endgültigen Verlust als existenzielle Erfahrung geht. Tante und Onkel haben die Familie zusammengehalten, und als die kühle Céline beim letzten Blick auf die beiden verschrumpelten Toten im Sonntagsstaat schließlich doch noch hemmungslos weint, geht es um weit mehr als um den konkreten Verlust: Es geht ihr auch um die verstorbenen, zeitlebens eher unglücklichen Eltern, die eigene Vergänglichkeit, die Entfremdung zwischen den Geschwistern, vielleicht auch um die toxische Wirkung des Geldes auf menschliche Beziehungen. "Eine gewöhnliche Familie" ist ein nachdenklicher und sehr lesenswerter Roman: Klug, böse, liebevoll, ironisch und von seltener Ehrlichkeit.
    Sylvie Schenk: "Eine gewöhnliche Familie"
    Hanser Verlag, München. 160 Seiten, 18 Euro.