Jasper Barenberg: Es hagelt Proteste, seit das Kölner Landgericht in der vergangenen Woche die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen für strafbar erklärte, seit die Richter das Recht auf Unversehrtheit des Kindes höher bewertet haben als das Recht auf freie Religionsausübung der Eltern. Heftige Kritik kommt vom Zentralrat der Juden in Deutschland, von Vertretern muslimischer Verbände, aber auch von Kirchen, von Politikern. Ist das Urteil ein unzulässiger Eingriff in die Religionsfreiheit?
Am Telefon ist der Historiker Michael Wolffsohn, in Tel Aviv geboren, viele Jahre war er Professor für neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, vor wenigen Tagen erst wurde er dort in den Ruhestand verabschiedet. Schönen guten Morgen, Herr Wolffsohn.
Michael Wolffsohn: Guten Morgen, Herr Barenberg.
Barenberg: Das Urteil aus Köln hat ja geradezu einen Sturm der Empörung ausgelöst, in Deutschland und darüber hinaus. Sind Sie von der Intensität dieser Debatte überrascht?
Wolffsohn: Nicht wirklich, denn es ist Teil einer Debatte, die seit Jahren geführt wird, ob und in welcher Intensität traditionelle religiöse Rituale, die nicht der christlichen Welt angehören, in die europäische Welt gehören – Stichwort Kopftuch, Stichwort Burka und so weiter. Also insofern ist dieses Beschneidungsurteil Teil dieser gesamteuropäischen und auch innerdeutschen Diskussion, die wir seit Jahren führen.
Barenberg: Anders verstehen konnte man ja den Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, der sich vehement gegen dieses Urteil ausgesprochen hat und es als einen strengen Eingriff, einen falschen Eingriff in die freie Religionsausübung bezeichnet hat. Da gehen Sie also nicht konform?
Wolffsohn: Ich gehe im Prinzip konform damit, aber damit ist ja noch nicht die inhaltliche Auseinandersetzung geklärt, denn zunächst einmal ist – und das zeigte auch Ihr Beitrag, den wir gerade gehört haben – die medizinisch-folkloristische Seite hierbei zu berücksichtigen – medizinisch völlig klar. Das zweite ist das Gebot der religiösen Toleranz. Insofern hat Herr Graumann völlig Recht, haben die Vertreter der Muslime völlig Recht, dass es nicht rechtens ist, dass sich Richter in religiöses Brauchtum einmischen.
Wiederum auf der anderen Seite – und hier kommt, wenn Sie so wollen, die Aufgabe des Nachdenkenden, oder wenn Sie diesen Ausdruck lieber haben, Intellektuellen rein – haben die traditionellen Rituale, seien sie christlich, jüdisch, muslimisch, in unserer Gegenwart noch die Kraft der Bindung, die sie früher hatten, und diese Frage zu stellen, halte ich für legitim und auch notwendig, völlig unabhängig von diesem Urteil.
Heckmann: Das heißt, auch religiöse Bräuche verändern sich, auch religiöse Gemeinschaften verändern ihre Bräuche. Das heißt, man darf und kann und soll möglicherweise durchaus kontrovers darüber diskutieren, ob diese Beschneidung eigentlich noch zeitgemäß ist heute?
Wolffsohn: Man muss natürlich, denn wenn nur die Beschneidung bei Juden oder bei Muslimen – und wir reden wohl gemerkt nur von Männern -, wenn also die Beschneidung das einzige Zeichen der Verbundenheit zwischen Gott und dem männlichen Menschen ist, dann steht es um diese Verbindung sehr schlecht. Also das kann es ja wohl nicht sein.
Wenn wir uns das religionshistorisch einmal ansehen, ist die Beschneidung Teil oder Symbol einer Entwicklung weg vom Menschenopfer, welches ja oft den Göttern oder auch dem Gott - denken Sie an die Geschichte von Abraham und Isaak - dargebracht worden ist. Das heißt, es sind entwicklungsgeschichtliche Etappen, die wir in dem religiösen Brauchtum finden, und dann stellt sich für uns natürlich die Frage, brauchen wir diesen Abschnitt, diese Distanzierung vom Menschenopfer? Nein, wir brauchen sie nicht mehr. Haben wir andere Verbindungen zu Gott, ob wir ihn Allah nennen oder Adonai oder Elohim oder wie auch immer, auch zweitrangig. Und daher muss diese Debatte geführt werden, wenngleich das Urteil mit seiner - ich füge hinzu - dummen Begründung sicherlich dieser Diskussion nicht weiterhilft.
Barenberg: Aber warum bezeichnen Sie die Begründung des Urteils als dumm?
Wolffsohn: Na ja, also wenn hier von Verstümmelung beispielsweise die Rede ist, …
Barenberg: Von Körperverletzung!
Wolffsohn: Körperverletzung – ja gut, das ist eine freundliche Umschreibung des Gleichen, und da sind wir wiederum in einer hoch polemischen Diskussion der Gegenwart, die sich weniger auf die männliche Beschneidung, sondern im Hinterkopf und unausgesprochen auf die Beschneidung von Frauen in der muslimischen Welt bezieht. Also dann bin ich für Klartext. Und trotzdem: Das Urteil ist in der Notwendigkeit, darüber nachzudenken, gesamtgesellschaftlich, intellektuell reflektierend, durchaus begrüßenswert – nicht das Urteil, aber die Diskussion.
Barenberg: Und ich habe Sie eben richtig verstanden, dass Sie es begrüßen würden, wenn Juden in Deutschland, wenn Muslime in Deutschland stärker darüber nachdenken würden, ob das eigentlich noch angemessen ist?
Wolffsohn: Nicht nur die Beschneidung, sondern verschiedene grundsätzliche Rituale. Machen wir uns doch nichts vor, nehmen wir ein anderes Beispiel, das unterscheidet zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Das beliebteste und bekannteste Beispiel ist Schweinefleisch.
Dafür gibt es auch handfeste pragmatische Gründe, aber der religionshistorische in seinem Kern ist identisch mit der Beschneidung, nämlich die Unterscheidung, die erkennbare Unterscheidung zwischen der Gruppe A und der Gruppe B. Denn wenn ich als Mitglied der Gruppe A, Jude oder Moslem, kein Schweinefleisch mit einem Christen etwa essen kann, dann habe ich auch keine Gemeinschaft, keine Gemeinschaftsstiftung. Und der Höhepunkt der Gemeinschaftsstiftung ist natürlich die Sexualität als Bindung von Mann und Frau. Und wenn dann der jeweilige andere Teil schon an der Beschneidung sieht, der gehört zu einer anderen Gruppe, wird die Distanzierung größer. Das war die ursprüngliche Absicht dieser religiös-historisch-gesellschaftlichen Rituale. Und dann müssen wir uns in der gegenseitigen Diskussion fragen, unabhängig von Integration: Wollen wir diese, von Anfang an erkennbare Unterscheidung wirklich? Da kann man ja sagen oder nein. Aber mit den guten Argumenten und Empörung ist mit Sicherheit kein Ratgeber.
Barenberg: Es geht ja auch um Kinder, also um schutzbedürftige junge Menschen, und die Beschneidung lässt sich ja – das liegt auf der Hand – nicht rückgängig machen, sie lässt sich aber verschieben. Was spricht eigentlich dagegen, wenn es denn sein soll, diese Beschneidung auf einen Zeitpunkt, sagen wir, zum 14. Lebensjahr zu verschieben? Dann gelten Heranwachsende ja als religionsmündig, dann können sie selber entscheiden.
Wolffsohn: Also ob ein 14-Jähriger oder 13-Jähriger als wirklich erwachsen oder im modernen Sinne religionsmündig zu verstehen ist, lasse ich mal beiseite. Die Frage der Medizin kann ich nicht beantworten, weil ich Historiker und kein Mediziner bin. Aber die Erfahrung menschheitsgeschichtlich, kann man schon sagen, ist die, dass solche Eingriffe im Kleinstkindalter sehr viel harmloser als später sind, und auch dazu gibt es eine wunderbare makabere biblische Geschichte.
Es gab einen Mann, der sich für Dina, die Tochter von Jakob im alten Testament, interessierte, und die Brüder haben dann beschlossen, lieber Freund, das geht nur, wenn du und deine Glaubensgemeinschaft, deine Gruppe, deine Stadt, die Männer jedenfalls, sich beschneiden lassen. Das geschah dann, weil dieser Mann Dina liebte, und nachdem das geschehen war, haben die Söhne Jakobs ein Blutbad in der Gemeinschaft des Freiers angerichtet, weil die eben nicht wehrfähig waren. Das ist auch ein Symbol hier, wo selbst die biblische Botschaft zeigt: Ist das mit der Beschneidung denn wirklich so ein-eindeutig? Und das ist das Spannende am alten Testament, dass es diese Mehrdimensionalität gibt, die uns in der heutigen Diskussion offenkundig fehlt.
Barenberg: Der Historiker Michael Wolffsohn heute Morgen in den "Informationen am Morgen". Besten Dank für das Gespräch, Herr Wolffsohn.
Wolffsohn: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Am Telefon ist der Historiker Michael Wolffsohn, in Tel Aviv geboren, viele Jahre war er Professor für neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, vor wenigen Tagen erst wurde er dort in den Ruhestand verabschiedet. Schönen guten Morgen, Herr Wolffsohn.
Michael Wolffsohn: Guten Morgen, Herr Barenberg.
Barenberg: Das Urteil aus Köln hat ja geradezu einen Sturm der Empörung ausgelöst, in Deutschland und darüber hinaus. Sind Sie von der Intensität dieser Debatte überrascht?
Wolffsohn: Nicht wirklich, denn es ist Teil einer Debatte, die seit Jahren geführt wird, ob und in welcher Intensität traditionelle religiöse Rituale, die nicht der christlichen Welt angehören, in die europäische Welt gehören – Stichwort Kopftuch, Stichwort Burka und so weiter. Also insofern ist dieses Beschneidungsurteil Teil dieser gesamteuropäischen und auch innerdeutschen Diskussion, die wir seit Jahren führen.
Barenberg: Anders verstehen konnte man ja den Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, der sich vehement gegen dieses Urteil ausgesprochen hat und es als einen strengen Eingriff, einen falschen Eingriff in die freie Religionsausübung bezeichnet hat. Da gehen Sie also nicht konform?
Wolffsohn: Ich gehe im Prinzip konform damit, aber damit ist ja noch nicht die inhaltliche Auseinandersetzung geklärt, denn zunächst einmal ist – und das zeigte auch Ihr Beitrag, den wir gerade gehört haben – die medizinisch-folkloristische Seite hierbei zu berücksichtigen – medizinisch völlig klar. Das zweite ist das Gebot der religiösen Toleranz. Insofern hat Herr Graumann völlig Recht, haben die Vertreter der Muslime völlig Recht, dass es nicht rechtens ist, dass sich Richter in religiöses Brauchtum einmischen.
Wiederum auf der anderen Seite – und hier kommt, wenn Sie so wollen, die Aufgabe des Nachdenkenden, oder wenn Sie diesen Ausdruck lieber haben, Intellektuellen rein – haben die traditionellen Rituale, seien sie christlich, jüdisch, muslimisch, in unserer Gegenwart noch die Kraft der Bindung, die sie früher hatten, und diese Frage zu stellen, halte ich für legitim und auch notwendig, völlig unabhängig von diesem Urteil.
Heckmann: Das heißt, auch religiöse Bräuche verändern sich, auch religiöse Gemeinschaften verändern ihre Bräuche. Das heißt, man darf und kann und soll möglicherweise durchaus kontrovers darüber diskutieren, ob diese Beschneidung eigentlich noch zeitgemäß ist heute?
Wolffsohn: Man muss natürlich, denn wenn nur die Beschneidung bei Juden oder bei Muslimen – und wir reden wohl gemerkt nur von Männern -, wenn also die Beschneidung das einzige Zeichen der Verbundenheit zwischen Gott und dem männlichen Menschen ist, dann steht es um diese Verbindung sehr schlecht. Also das kann es ja wohl nicht sein.
Wenn wir uns das religionshistorisch einmal ansehen, ist die Beschneidung Teil oder Symbol einer Entwicklung weg vom Menschenopfer, welches ja oft den Göttern oder auch dem Gott - denken Sie an die Geschichte von Abraham und Isaak - dargebracht worden ist. Das heißt, es sind entwicklungsgeschichtliche Etappen, die wir in dem religiösen Brauchtum finden, und dann stellt sich für uns natürlich die Frage, brauchen wir diesen Abschnitt, diese Distanzierung vom Menschenopfer? Nein, wir brauchen sie nicht mehr. Haben wir andere Verbindungen zu Gott, ob wir ihn Allah nennen oder Adonai oder Elohim oder wie auch immer, auch zweitrangig. Und daher muss diese Debatte geführt werden, wenngleich das Urteil mit seiner - ich füge hinzu - dummen Begründung sicherlich dieser Diskussion nicht weiterhilft.
Barenberg: Aber warum bezeichnen Sie die Begründung des Urteils als dumm?
Wolffsohn: Na ja, also wenn hier von Verstümmelung beispielsweise die Rede ist, …
Barenberg: Von Körperverletzung!
Wolffsohn: Körperverletzung – ja gut, das ist eine freundliche Umschreibung des Gleichen, und da sind wir wiederum in einer hoch polemischen Diskussion der Gegenwart, die sich weniger auf die männliche Beschneidung, sondern im Hinterkopf und unausgesprochen auf die Beschneidung von Frauen in der muslimischen Welt bezieht. Also dann bin ich für Klartext. Und trotzdem: Das Urteil ist in der Notwendigkeit, darüber nachzudenken, gesamtgesellschaftlich, intellektuell reflektierend, durchaus begrüßenswert – nicht das Urteil, aber die Diskussion.
Barenberg: Und ich habe Sie eben richtig verstanden, dass Sie es begrüßen würden, wenn Juden in Deutschland, wenn Muslime in Deutschland stärker darüber nachdenken würden, ob das eigentlich noch angemessen ist?
Wolffsohn: Nicht nur die Beschneidung, sondern verschiedene grundsätzliche Rituale. Machen wir uns doch nichts vor, nehmen wir ein anderes Beispiel, das unterscheidet zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Das beliebteste und bekannteste Beispiel ist Schweinefleisch.
Dafür gibt es auch handfeste pragmatische Gründe, aber der religionshistorische in seinem Kern ist identisch mit der Beschneidung, nämlich die Unterscheidung, die erkennbare Unterscheidung zwischen der Gruppe A und der Gruppe B. Denn wenn ich als Mitglied der Gruppe A, Jude oder Moslem, kein Schweinefleisch mit einem Christen etwa essen kann, dann habe ich auch keine Gemeinschaft, keine Gemeinschaftsstiftung. Und der Höhepunkt der Gemeinschaftsstiftung ist natürlich die Sexualität als Bindung von Mann und Frau. Und wenn dann der jeweilige andere Teil schon an der Beschneidung sieht, der gehört zu einer anderen Gruppe, wird die Distanzierung größer. Das war die ursprüngliche Absicht dieser religiös-historisch-gesellschaftlichen Rituale. Und dann müssen wir uns in der gegenseitigen Diskussion fragen, unabhängig von Integration: Wollen wir diese, von Anfang an erkennbare Unterscheidung wirklich? Da kann man ja sagen oder nein. Aber mit den guten Argumenten und Empörung ist mit Sicherheit kein Ratgeber.
Barenberg: Es geht ja auch um Kinder, also um schutzbedürftige junge Menschen, und die Beschneidung lässt sich ja – das liegt auf der Hand – nicht rückgängig machen, sie lässt sich aber verschieben. Was spricht eigentlich dagegen, wenn es denn sein soll, diese Beschneidung auf einen Zeitpunkt, sagen wir, zum 14. Lebensjahr zu verschieben? Dann gelten Heranwachsende ja als religionsmündig, dann können sie selber entscheiden.
Wolffsohn: Also ob ein 14-Jähriger oder 13-Jähriger als wirklich erwachsen oder im modernen Sinne religionsmündig zu verstehen ist, lasse ich mal beiseite. Die Frage der Medizin kann ich nicht beantworten, weil ich Historiker und kein Mediziner bin. Aber die Erfahrung menschheitsgeschichtlich, kann man schon sagen, ist die, dass solche Eingriffe im Kleinstkindalter sehr viel harmloser als später sind, und auch dazu gibt es eine wunderbare makabere biblische Geschichte.
Es gab einen Mann, der sich für Dina, die Tochter von Jakob im alten Testament, interessierte, und die Brüder haben dann beschlossen, lieber Freund, das geht nur, wenn du und deine Glaubensgemeinschaft, deine Gruppe, deine Stadt, die Männer jedenfalls, sich beschneiden lassen. Das geschah dann, weil dieser Mann Dina liebte, und nachdem das geschehen war, haben die Söhne Jakobs ein Blutbad in der Gemeinschaft des Freiers angerichtet, weil die eben nicht wehrfähig waren. Das ist auch ein Symbol hier, wo selbst die biblische Botschaft zeigt: Ist das mit der Beschneidung denn wirklich so ein-eindeutig? Und das ist das Spannende am alten Testament, dass es diese Mehrdimensionalität gibt, die uns in der heutigen Diskussion offenkundig fehlt.
Barenberg: Der Historiker Michael Wolffsohn heute Morgen in den "Informationen am Morgen". Besten Dank für das Gespräch, Herr Wolffsohn.
Wolffsohn: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.