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Sympathie für Sonderlinge

Melissa Laveaux ist kanadische Wahlpariserin mit haitianischen Wurzeln. Die Lieder ihres ersten Albums bestanden vor allem aus Stimme und Gitarre. Heute erscheint das zweite, und alles ist anders. Nur ihr Gesang ist nach wie vor unverkennbar und charismatisch.

Von Bernd Lechler | 16.08.2013
    Das Albumcover mit dem Hirschkalb in schwarzweiß wirkt so surreal wie der Titel: "Dying Is A Wild Night", eine Gedichtzeile aus dem 19. Jahrhundert von Emily Dickinson, die Melissa Laveaux nicht nur lyrisch beeindruckend findet.

    "”Frauen ihres Milieus sollten heiraten und Kinder kriegen und nicht groß mit anderen Frauen reden. Und sie war ledig, sprach über ihre Depressionen, kritisierte ihr Umfeld - das gefällt mir. Sie blieb unangepasst, ein Sonderling. Heute halten sich Leute ja schon mit einem Tattoo für speziell.""

    Es ist kein Zufall, dass sie sich mit den Sonderlingen identifiziert. Sie war selber einer: zu Hause galt die Kultur ihrer haitianischen Eltern, die französisch und kreolisch sprachen und ihre Tradition hochhielten. Kanada war vor der Tür, sagt Melissa. Drinnen: Haiti.

    "”It was at home everyday. And when I closed the door I’d be in Canada. And I would come back home, and home was Haiti.""

    Als Schwarze musst du immer noch ein Stück besser sein als die anderen, schärften ihr die Eltern ein und rangen ihr auch noch ein Bachelorstudium ab, aber parallel trat sie schon mit ihren Songs auf, schlug schließlich eine feste Stelle bei der Steuerbehörde aus und zog nach Paris, wo ihre Plattenfirma sitzt.

    "”’Ganz allein! Du wirst vergewaltigt werden!’ Meine Mutter dachte lange wirklich, ich ginge auf den Strich, weil man von Musik doch nicht leben kann! Deshalb im Song ‚Postman’ die Prostituierte, die auf einen Anruf ihrer Familie wartet.""

    Als Sängerin ist sie nicht weniger eigenwillig als auf ihrem Lebensweg - oder an ihrem Instrument. Schöne Anekdote am Rande: Als Kind verschlampte sie den Scheck für den Klavierlehrer, worauf die Stunden gestrichen waren. Brachte sie sich eben Gitarre bei und entwickelte ihren eigenen Stil. Aber wir waren ja beim Umzug nach Frankreich, als sie schon wieder Sonderling war - diesmal als Kanadierin.

    "Die französischen Kellner sind furchtbar! Überhaupt geht es unhöflicher zu als in Kanada, wo aggressives Auftreten verpönt ist. Wenn man in Frankreich freundlich zu den Leuten ist, finden sie einen komisch - oder denken, man will was von ihnen."

    Was sie bekam, war ein Publikum. Erfolg mit dem ersten, ganz akustischen Album, und fürs zweite nun mehr Budget und Musiker. Der Keyboarder von Air klinkte sich begeistert ein, holte Freunde dazu, die mehr waren als nur Mietmucker, und lud zum Experimentieren ein.

    "”Sie hatten ein altes Studio gekauft, wo zum Beispiel so große Trommeln rumstanden. Ich sagte: ‚Die sehen ja toll aus, dürfen wir die nehmen?’ Es lief alles sehr intuitiv und spielerisch.""

    Die neuen Arrangements verbinden sich ungemein atmosphärisch mit den zwar persönlichen, aber auch immer leicht unwirklichen Texten von Melissa. Im kreolisch gesungenen "Pié Bwa" erzählt sie Billie Holidays berühmtes "Strange Fruit" aus der Sicht des Baumes, der die Leichen erhängter Schwarzer trägt; "Calvatious" entsprang einem Traum, in dem sie ein Glatzkopf mit Superkräften war und "Generous Bones" handelt wieder ganz autobiografisch von ihrem "Partner", wie sie sagt.

    "Ich hatte lange den Glauben an meine Familie und an meine Religion verloren. Nach katholischer Vorstellung liebt Gott uns doch bedingungslos, aber meine Familie knüpfte Bedingungen an ihre Liebe. Und plötzlich zeigte mir jemand, dass es die bedingungslose Liebe doch gibt. Da war alles wieder gut."

    Erst ganz am Schluss erwähnt sie nebenbei, dass dieser Partner, dieser "jemand" eine PartnerIN ist, die sie kürzlich geheiratet hat und dann ist keine Zeit mehr zu fragen, was ihre Eltern dazu gesagt haben.