Maja Ellmenreich: Alljährlich im Frühsommer ist ein Besuch in Klagenfurt am Wörthersee obligatorisch für die deutschsprachige Literaturszene. Wenn zum Wettlesen geladen wird nach Kärnten; wenn Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor einer erfahrenen Runde aus Kritikern, Literaturwissenschaftlerinnern und Publizisten frische Texte vortragen und sich der Diskussion der Jury stellen. All das seit 1977 im Rahmen der Tage der deutschsprachigen Literatur, an deren Ende der Ingeborg-Bachmann-Preis vergeben wird – seit zwei Jahren auch der Deutschlandfunk-Preis.
Der Besuch in Klagenfurth – für die Teilnehmenden Mutprobe, Fiasko oder großer Durchbruch – alles ist möglich! Heute und Morgen stattet das Literarische Colloquium Berlin – gemeinsam mit dem Österreichischen Kulturforum - Klagenfurt einen Besuch ab: "Klagenfurt revisited" ist ein Symposium überschrieben. Aus Anlass des 30jährigen Wendejubiläums sollen in Gesprächen und Vorträgen die Klagenfurter Jahrgänge der unmittelbaren Vorwendezeit in Erinnerung gerufen werden.
Thomas Geiger ist Programmkurator im LCB und zeichnet verantwortlich für "Klagenfurt revisited".
Meine erste Frage an ihn lautete: Warum lohnt es sich, den Jahrgängen 1986 bis 1989 nochmal besondere Aufmerksamkeit zu schenken? Was macht diese Jahre so besonders?
Thomas Geiger: Das Besondere ist, dass in diesen vier Jahren vier Autorinnen und Autoren ausgezeichnet wurden, die alle aus der DDR stammten. Sie lebten da nicht mehr alle: Katja Lange-Müller, eine davon, war schon ausgereist.
Und es waren Kritiker seit 1987 aus der DDR in der Kritikerrunde dabei: Helga Schubert und Werner Liersch. Und das ist eine ziemliche Sensation gewesen zu damaligen Zeiten, dass sich der westdeutsche und der österreichisch-schweizerische Literaturbetrieb mit Autoren und Kritikern direkt aus der DDR direkt an einem Tisch befanden. Und das war wahrscheinlich nur deswegen möglich, weil Österreich ein neutrales Land war.
Ellmenreich: Ich wollte gerade fragen: War Klangenfurt so etwas wie der neutrale Boden? Die deutsche Sprache war das Verbindende jenseits der oftmals trennenden politischen Struktur?
Geiger: Die deutsche Sprache war das Verbindende – ganz klar! Österreich war die Möglichkeit. Es gab besondere Beziehungen zwischen der DDR und Österreich. Das war ein neutrales Land, es gehörte nicht zum anderen Block. Und Marcel Reich-Ranicki war nicht mehr der Juryvorsitzende, sondern schon Peter Demetz. Unter Marcel Reich-Ranicki wäre das wahrscheinlich auch nicht möglich gewesen, weil er für die sozialistischen Staaten eine Persona non grata gewesen war.
Außenpolitik und Kulturpolitik in Bewegung
Ellmenreich: Das heißt, die Größen der DDR-Politik waren offen genug für den Austausch, solange die richtigen Personen involviert waren??
Geiger: Das war immer ein Mordseiertanz, was da möglich war und was da nicht möglich war. Sowohl die Außenpolitik der DDR als auch die Kulturpolitik nach innen und nach außen war ja nicht ständig gleich, sondern war auch Bewegungen unterlegen. Und gegen Ende der 1980er Jahre war es sicher so, dass mehr möglich war als etwa in den 50er Jahren. Und dem gehen wir nach während der beiden Tage. Ich bin gespannt, was wir alles zu hören bekommen.
Ellmenreich: Nun ja, die Einladungen sind das eine, die Anreisen sind das eine – aber die Auszeichnungen sind das andere. Die Texte der DDR-Autoren und auch der ehemaligen DDR-Autoren, wenn wir an Katja Lange-Müller denken, wurden also ausgezeichnet. Waren diese Texte politisch? Haben die politisch Stellung bezogen und wurden womöglich auch dadurch besonders attraktiv?
Geiger: Zumindest ist allen Texten eine Staatlichkeit eigen. Das heißt, dass in irgendeiner Form der Umgang des Individuums mit einem Staat im Mittelpunkt stand. Und ich glaube, dass diese Texte zum Teil für die westdeutschen und Schweizer und österreichischen Kritiker durchaus exotisch waren. Und von daher waren die Texte natürlich politisch.
"Die ersten Risse in den Systemen"
Ellmenreich: Herr Geiger, würden Sie soweit gehen und sagen, dass die Literatur der Politik in den Jahren 1986 bis 89 eigentlich einen Schritt voraus war?
Geiger: Das ist natürlich immer leicht im Nachhinein zu sagen. Aber man hat fast den Eindruck. Man hat fast den Eindruck, dass diese Möglichkeiten die ersten Risse in den Systemen waren und dass es Möglichkeiten gab, miteinander auf andere Weise zu kommunizieren. Das ist ja eine der Wesentlichkeiten von Literatur, dass man mit Subtexten arbeitet und Subtexte sich treffen können jenseits der offiziösen Sprache. Von daher kann ich mir das vorstellen, aber das wäre nun wirklich philologische Feinarbeit.
Ellmenreich: In diesen Wochen wird ja vielerorts im Kalender 30 Jahre zurückgeblättert. So machen Sie das auch. 30 Jahre Wende ist also Anlass für viele, an 1989 zu erinnern. Wenn wir jetzt mal das historische Gedenken weglassen, was kann man vielleicht auch heute noch lernen von diesen Vorwendejahren in Klagenfurt?
Geiger: Für mich war überraschend, wie experimentell die Texte waren. Die Texte waren nicht einfach zu rezipieren. Und Angela Krauß‘ Text ist sehr poetisch, Katja Lange-Müller ist absurd, Wolfgang Hilbig hat einen Sprachstil, der wahrscheinlich einmalig ist und der auch da in seinem Text schon nachlesbar war. Ich fand, das war eine starke Zeit der Literatur, der deutschsprachigen Literatur!
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