Erst Aleppo und dann ging alles sehr schnell: Die islamistische Rebellen-Allianz unter Führung der islamistischen HTS hat die Hauptstadt Damaskus und inzwischen auch den Präsidentenpalast eingenommen. Syriens Präsident und Machthaber Baschar al-Assad war kurz zuvor aus Damaskus geflohen. Seit Sonntagabend ist bekannt, dass er und seine Familie sich in Moskau aufhalten. Putin gewähre ihm Asyl aus "humanitären Gründen", hieß es aus dem Kreml. Auch die strategisch wichtigen Städte Hama und Homs haben die Rebellentruppen nahezu kampflos unter ihre Kontrolle gebracht.
Die Rebellen rufen in Sozialen Medien Millionen Syrer zur Rückkehr auf. „Der Tyrann Baschar al-Assad ist geflohen“, schreiben sie. „An die Vertriebenen weltweit: Ein freies Syrien erwartet Euch.“ Augenzeugen berichten von jubelnden Menschen im Zentrum von Damaskus. Bilder in Sozialen Netzwerken zeigen, wie Anwohner auf Panzer klettern, einige singen, andere riefen: „Gott, segne das neue Syrien!“
Seit 2011 dauerte der Bürgerkrieg an. Nun sei das Assad-Regime, das seit über 50 Jahren an der Macht war, „offensichtlich wie ein Kartenhaus zusammengefallen“, sagt die Konfliktforscherin Sophia Hoffmann. „Es gehen 54 Jahre von Terror-Diktatur zu Ende.“ Die Assad-Familie habe „so viel Unglück über Syrien gebracht. Es ist völlig verständlich, dass die Syrer das Ende unglaublich feiern und unglaublich emotional darauf reagieren. Das ist ein großer Tag für die Freiheit.“
Doch wer sind die Rebellen? Und wie verschiebt sich nun das Machtgefüge in der Region, in der so viele Staaten wie beispielsweise Iran, Russland oder die Türkei in den Bürgerkrieg involviert sind?
Wer ist die Rebellen-Allianz unter Führung von Hajat Tahrir Al-Scham (HTS) und wie geht es mit Syrien weiter?
Die Allianz Aufständischer, die gegen den syrischen Machthaber Baschar Al-Assad gekämpft hat, setzt sich aus verschieden Gruppen zusammen. Es würden mindestens vier Assad-feindliche Armeen existieren, sagt Konfliktforscherin Sophia Hoffmann. Damaskus sei beispielsweise mindestens von zwei Seiten von verschiedenen Gruppen eingenommen worden.
Angeführt wurde die Offensive der Assad-Gegner von der Gruppe „Hajat Tahrir Al-Scham“ (HTS) unter der Führung des Kämpfers Abu Mohammed al-Dschulani: eine Gruppe, die schon seit mehreren Jahren in einen Teil Nordsyriens regiere, so Hoffmann. Dort habe sie „relativ erfolgreich“ eine Art Mini-Staat aufgezogen.
HTS gilt als Nachfolger der früheren Al-Nusra-Front, eines Ablegers der Terrororganisation Al-Kaida in Syrien. Nach Angaben von Behörden in den USA und Australien distanziert sich HTS seit 2016 von Al-Kaida. Doch verfolgt die Gruppe noch immer eine salafistisch-dschihadistische Ideologie, schreibt die US-Denkfabrik Center for Strategic and International Studies (CSIS).
Auch der Nahostexperte Michael Lüders, der dem erweiterten Vorstand des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) angehört, betont: „Diese Leute sind nicht gerade Hoffnungsträger einer besseren Welt, sondern es sind knallharte Dschihadisten.“
Konfliktforscherin Hoffmann blickt hoffnungsvoller auf „Hajat Tahrir Al-Scham“ (HTS): „Natürlich sind die Religiöse, aber man muss sie jetzt erst einmal an ihren Taten messen – und es hat bisher keine Massaker oder Überfälle auf nicht-sunnitische Gruppen gegeben.“
In einem Interview habe HTS-Führer Dschulani außerdem betont, dass er auf ein vielfältiges Syrien setze, in dem sich unterschiedliche religiöse Gruppen wohlfühlen können. Der Premierminister des Assad-Regimes sei beauftragt worden, eine Übergangsregierung zu formieren, sagt Hoffmann. „Das sind alles sehr gute Zeichen. Aber die Zukunft ist natürlich sehr offen.“
Warum gelang ausgerechnet jetzt der Umsturz?
Das syrische Regime hatte zwei mächtige Verbündete: Russland und Iran. Beide halfen Assad dabei, Dschihadisten und andere Aufständische zurückzudrängen – mithilfe der russischen Luftwaffe und schiitischen Milizionären.
Beide Länder sind aber derzeit geschwächt: Russland kämpft in der Ukraine, der Iran ist durch den Konflikt der libanesischen Hisbollah mit Israel militärisch eingespannt. Der Zeitpunkt, zu dem HTS und andere dschihadistische Milizen ihre Offensive gestartet haben, dürfte bewusst gewählt sein.
Wie verändert sich das geopolitische Machtgefüge?
Mit dem Sturz Assads verschiebt sich nun das Machtgefüge in der Region, in der Länder wie Russland, Iran und die Türkei eigene Interessen verfolgen und auch Israel indirekt involviert ist.
„Syrien ist geostrategisch unglaublich wichtig für die Region“, sagt Konfliktforscherin Sophia Hoffmann. Zwar hat das Land keine eigenen Ressourcen. Aber es dient als Transitstrecke. „Für Iran war Syrien eine wichtige Nachschublinie für die Hisbollah in den Libanon.“ Auch Russland besitzt eine wichtige Flottenstation in Tartus am Mittelmeer in Syrien.
Nun gilt es abzuwarten, was sich außenpolitisch in Syrien formiert. „Aber natürlich ist davon auszugehen, dass die neue Regierung anti-iran sein wird.“ Das würde bedeuten, dass „ein ganz wichtiger Pfeiler“ der Achse des Widerstands, die von Iran gegen Israel geleitet wird, wegfalle.
Welche Rolle spielt die Türkei?
Die Islamisten in Syrien haben, so sagen Beobachter, sehr gute Beziehungen zur Türkei. Außerdem legen Berichte nahe, dass Ankara möglicherweise grünes Licht für die Offensive gegeben hat.
Offiziell behauptet die Regierung in Ankara, sie habe mit dem Handeln der Aufständischen in Syrien nichts zu tun. Die türkische Armee hält in Nordsyrien Grenzgebiete zur Türkei besetzt – als Folge mehrerer Militäreinsätze gegen die von Kurden dominierten Volksverteidigungseinheiten (YPG).
Die Türkei unterstützt Dschihadisten, die sie sonst bekämpft? Für Michael Lüders ist das kein Widerspruch. Die Türkei betrachte die Allianz der Rebellen als „nützliche Idioten". Sie sollen dabei helfen, "die Kurden im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei in Schach zu halten“, so der Nahostexperte.
Manche Beobachter deuten die Offensive auch als eine Art Rache. Der Hintergrund: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat mehrfach versucht, mit Assad Verhandlungen aufzunehmen. Dabei soll es um eine Rückführung der vielen syrischen Flüchtlinge gehen.
In der türkischen Politik gelten diese Geflüchteten als große Belastung. Assad hatte solche Verhandlungen immer abgelehnt. Er forderte hingegen, die Türkei solle sich vollständig aus Nordsyrien zurückziehen.
Nun, nach dem Sturz des Assad-Regimes, werde Erdogan darauf hoffen, dass viele der syrischen Flüchtlinge sich nach Hause aufmachen oder sogar abgeschoben werden können, so Konfliktforscherin Sophia Hoffmann.
Wie ist nun die Lage der Kurden in Syrien?
Vor allem die Kurden in Syrien haben nichts Gutes zu erwarten. Sie fürchten Gräueltaten von der dschihadistischen Allianz. Gleichzeitig fürchten sie um ihr Einflussgebiet im Norden des Landes.
Ob die kurdische autonome Region durch den Umsturz allerdings geschwächt wird, ist noch offen. Erste Äußerungen der Aufständischen deuten eher darauf hin, dass autonome Gruppen sich weiterhin selbst verwalten können.
Deswegen gehen die Kämpfe zwischen der sogenannten Syrischen Nationalarmee – eine Rebellengruppe, die von der Türkei gesteuert wird – und den Kurden in Nordsyrien auch weiter. „Da passieren im Moment die schlimmsten Kämpfe, die auch Zivilistinnen und Zivilisten betreffen“, sagt Konfliktforscherin Sophia Hoffmann.
jma, lkn