Wie nur kann ein studierter Augenarzt sehenden Auges so blindlings ins Verderben laufen? Diese Frage stellte sich so mancher, der sich in den vergangenen Jahren mit Syriens Staatschef Bashar al-Assad beschäftigte - und mit den Unruhen im Nahen Osten und in Nord-Afrika: Tunesiens Ben Ali und Ägyptens Hosni Mubarak: Gestürzt. Libyens Muammar al-Gaddafi: ebenfalls gestürzt und unter fragwürdigen Umständen getötet. Und: Jemens Abdallah Saleh: Zwar durch einen faulen Kompromiss - aber eben doch am Ende entmachtet. Da lag 2013 noch lange der Gedanke nahe, dass es bloß eine Frage der Zeit sein dürfte, bis auch Syriens Autokrat Bashar al-Assad weg wäre, irgendwie.
Zitat Guido Westerwelle (FDP): "Es werden keine deutschen Waffen geliefert, die syrische Opposition wird unterstützt."
Die Regierungen der westlichen Staaten, die immer erklärten, dass Assad gehen müsste, verhedderten sich lange in Diskussionen um dieses irgendwie: Wie könnten sie die politische Opposition stärken? Oder den Untergrundkämpfern Waffen liefern - und wenn ja, welche Waffen? Und welchen Untergrundkämpfern überhaupt? Einige von denen traten immerhin von Anfang an offen als Islamisten vom Schlage Al-Kaidas auf.
Zitat Westerwelle: "Waffen können leicht in falsche Hände geraten."
Für Assad Argument genug, seinen Kampf gegen all jene, die aufbegehren, als "Kampf gegen den Terrorismus" zu bezeichnen. Je länger die westlichen Staaten zögerten, desto mehr Zulauf erhielten diese militanten Islamisten - möglicherweise sogar von Assad gefördert - in jedem Fall auf Kosten der sogenannten moderaten Rebellen. Assad kämpft heute tatsächlich gegen eine Vielzahl islamistischer Terroristen. Ja, diese Islamisten sind mittlerweile so stark, dass der Westen wohl ganz froh ist, Assad noch an der Spitze Syriens zu sehen. Allen voran die USA. Assad ist ein Bindemittel. Bekämpft er in seinem Land die Islamisten, sind die fern von Washington, London, Berlin - und auch fern von Saudi Arabien oder Katar. Damit sorgt Assad - regional gesehen - für eine gewisse Stabilität. Niemals war die Grenze zwischen Syrien und Israel sicherer als unter Bashar al-Assad. Gleichzeitig werden seine Verbündeten - Iran und die libanesische Hisbollah - geschwächt. Weil sie immer mehr Hilfe nach Syrien pumpen: Geld und Kämpfer.
Zitat Bashar al-Assad: "Wir haben Freunde."
Assad ist - ganz einfach gesagt - ein verlässlicher Gegner; jede Alternative zu ihm wäre unberechenbar. Und solange sich die syrische Opposition nicht einig zeigt, solange die Untergrundkämpfer immer weiter ins islamistische Lager tendieren, solange auch wird der Westen Assad halten. Getreu der alten Regel: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
Zitat aus den Nachrichten: "Die Regierungstruppen sollen Giftgas eingesetzt haben."
Niemals wurde es deutlicher als im Sommer: Im August kamen in al-Ghouta, westlich von Damaskus mehrere Hundert, vielleicht tausend Menschen um. Durch den Einsatz von chemischen Kampfstoffen. Tage langgingen Bilder von verkrümmten Leichen um die Welt; Interviews mit Überlebenden.
Die Präsidenten der USA und Frankreichs drohten Assad, dem sie den Chemiewaffeneinsatz vorwarfen, mit Strafe, mit Militärschlägen. Die Spannungen stiegen; die Zeichen standen Wochen lang auf Krieg. Dann die überraschende Wendung: US-Außenminister John Kerry erklärte - wie er später betonte: "rhetorisch" -, dass Assad einen Angriff nur verhindern könnte, wenn er all seine C-Waffen verschrotten ließe. Ein wichtiger Verbündeter der syrischen Führung, die russische Regierung, nutzte die Steilvorlage und drängte Assad den Vorschlag anzunehmen. Danach setzte Entspannung ein. Der Westen begann wieder mit Assad zu verhandeln; ging mit ihm auf UN-Ebene Verträge ein.
Das hat Assad erneut eine gewisse Legitimität innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft verschafft. Er ist selbst bei Leuten, die ihn bis September noch als Kriegsverbrecher verteufelten, sozusagen wieder hoffähig. Im Gegenzug muss Assad sich nur in einem gewissen Rahmen bewegen: Chemie-Waffenexperten ins Land lassen, sich kooperativ zeigen; Islamisten darf - ja, soll er vielleicht sogar jagen, aber seine Feinde nicht mit geächteten Kampfstoffen umbringen.
Sollte plötzlich eine Alternative zu Assad auftauchen, könnte sich diese Politik auch ganz schnell ändern. Aber wenn nicht, festigt Assad seine Herrschaft wieder. Derzeit wirkt es so, als liefe der Augenarzt nicht blindlings in sein Verderben, sondern als betriebe er eine für sich hellsichtige Politik. Er ist einer der Gewinner des Jahres 2013. Ein Trend, der sich bei der Syrien-Konferenz in Genf fortsetzen könnte.