"Wir unterstützen und begrüßen, dass die Türkei nun endlich auch militärisch und politisch gegen den IS kämpft", erklärte Röttgen. Dies habe man zuletzt immer gefordert. Zuvor war bekannt geworden, dass syrische Rebellen mit Unterstützung türkischer Truppen den "Islamischen Staat" aus der strategisch wichtigen Grenzstadt Dscharablus im Norden Syriens vertrieben haben. Die Türkei hatte erstmals eine Bodenoffensive in Syrien gestartet. Dabei geht es ihr auch darum, den weiteren Vormarsch syrischer Kurden zu verhindern.
"Türkei nicht öffentlich bloßstellen"
Es gebe einen Dissens, der darin bestehe, dass Ankara in Syrien eine andere Prioritätenliste habe als der Westen, meinte Röttgen. Für den Beschuss kurdischer Stellungen durch die türkische Armee gebe es keine rechtliche Grundlage. "Die Türkei konterkariert damit auch die Strategie des Westens", sagte der CDU-Politiker. Daraus ergebe sich ein Konflikt, den man jedoch politisch und diplomatisch lösen müsse und nicht dadurch, dass man die Türkei öffentlich bloßstelle.
Röttgen zeigte sich davon überzeugt, dass auch die Kurden ihren Kampf gegen den "Islamischen Staat" fortsetzen werden. Sie hätten "bereits enorme Fortschritte erzielt". Die Konfliktlage mit Ankara sei den Kurden dabei bewusst. Gleichzeitig sei "die Türkei als NATO-Mitglied für den Kampf gegen den IS an der syrischen Grenze und an anderer Stelle wichtig", betonte Röttgen.
Tobias Armbrüster: Ist das jetzt schon wieder ein neues Kapitel im Krieg in Syrien? Seit gestern Morgen ist die türkische Armee einer der Kriegsteilnehmer dort. Türkische Panzer haben Ziele unter Beschuss genommen, die Angriffe haben sich gerichtet gegen Stellungen des Islamischen Staates, aber auch gegen Kampfverbände der syrischen Kurden. Und die wiederum, die Kurden, die haben sich ja in den vergangenen Monaten immer als effektivste Widersacher des IS erwiesen. Unter anderem haben sie mehrere Städte im Norden Syriens vom IS zurückerobert - alles mit Unterstützung des Westens. Jetzt werden diese kurdischen Kämpfer von der Türkei zurückgedrängt. Der Grund ist klar: Die Türkei will vermeiden, dass die Kurden ein eigenes Gebiet erhalten, einen kurdischen Staat sozusagen vor der türkischen Haustür. - Am Telefon jetzt Norbert Röttgen von der CDU, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Guten Morgen, Herr Röttgen.
Norbert Röttgen: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Herr Röttgen, erst waren die syrischen Kurden unsere große Hoffnung; jetzt lassen wir zu, dass die Türkei genau diese Kurden bombardiert. Wie ist das möglich?
Röttgen: Wir unterstützen und begrüßen zunächst, alle in der NATO, auch Deutschland, dass die Türkei nun endlich - das haben wir ja auch immer gefordert - auch militärisch und politisch gegen den IS kämpft. Das tun sie, das haben wir immer gefordert, das ist richtig. Aber Sie haben recht: Genau im gleichen Atemzug werden auch ganz ausdrücklich kurdische Einheiten angegriffen aus dem von Ihnen genannten Grund, und das ist eindeutig zu kritisieren.
Armbrüster: Warum macht die Bundeskanzlerin das nicht?
Röttgen: Ich glaube, wir beide wissen nicht, was die Bundeskanzlerin in ihren Gesprächen anspricht. Das ist erst seit gestern der Fall. Aber ich habe keinen Zweifel, dass das, was ich gerade als kritikwürdig bezeichnet habe, auch von der Bundesregierung intern kritisiert wird. Ich lese auch die Nachrichten so, dass der amerikanische Vizepräsident klar über die wertvollen Beiträge, die entscheidenden militärischen Beiträge, die die syrischen Kurden gegen IS geleistet haben, gewürdigt hat, und zwar in Ankara, in der Türkei.
Armbrüster: Aber er sagt nicht öffentlich, dass er es nicht in Ordnung findet, wenn Ankara die syrischen Kurden jetzt bombardiert. Wie ist das möglich?
Röttgen: Ich glaube, dass er es für politisch-diplomatisch wirkungsvoller hält, wenn er es den Verantwortlichen in der Türkei, dem Regierungschef, dem Staatspräsidenten unmittelbar sagt, anstatt es öffentlich zu sagen. Und ich glaube, das ist eine nachvollziehbare Einschätzung.
"Die Kurden hinten runterfallen zu lassen, ist inakzeptabel"
Armbrüster: Oder kann es sein, dass vielen westlichen Regierungen ganz einfach die Türkei wichtiger ist als die Kurden?
Röttgen: Das kann es nicht sein. Das glaube ich nicht. Was man sehen muss ist, dass es einen Konflikt gibt, und jetzt muss man mit diesem Konflikt umgehen. Es gibt auch einen fundamentalen Dissens. Der besteht darin, dass die Türkei ganz offensichtlich und seit langem eine ganz andere Prioritätenliste hat als die Europäer oder auch die Amerikaner. Für die Türkei war und ist das Top Thema Nummer eins, die Selbstständigkeits- und Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden in der gesamten Region zu unterbinden. Für den Westen hat die Bekämpfung des Islamischen Staates Priorität Nummer eins. Das ist ein Konflikt, den wir mit der Türkei haben. Ich bin dafür, dass wir diesen Konflikt auch offen benennen, dass wir mit der Türkei darüber sprechen, auch versuchen, alles zu tun, damit der Konflikt wieder in eine friedliche Basis in der Türkei kommt. Aber das geht nicht nur durch öffentliche Bloßstellung der türkischen Regierung und anderer, sondern da müssen unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Mitteln arbeiten. Aber man muss es tun, man muss dieses Ziel verfolgen, und die Kurden hinten runterfallen zu lassen, ist inakzeptabel.
Armbrüster: Sie sagen inakzeptabel. Aber was glauben Sie denn, wie kommt das bei den kurdischen Verbänden an, wenn die da gestern die Nachrichten verfolgt haben und auch die Äußerungen des amerikanischen Außenministers, wo es einfach nur heißt, die Kurden mögen sich bitte zurückziehen auf Stellungen östlich des Flusses Euphrat und nicht weiterkämpfen?
Röttgen: Ich glaube, dass den Kurden sehr bewusst ist, dass sie diese Konfliktlage haben, und sie wissen auch, dass es schwierig ist, damit umzugehen, weil die Türkei auch ein real existierender Faktor ist, ein NATO-Mitglied ist und, wie wir gestern gesehen haben, für den Kampf gegen den IS nicht nur an der syrisch-türkischen Grenze, sondern auch an anderer Stelle wichtig ist. Und weil die Kurden politisch viel Erfahrung haben, wissen sie, dass es ein Konflikt ist, damit umzugehen, aber ich glaube, dass die Kurden auch wissen, dass sie enorme Fortschritte erreicht haben, und zwar militärisch und politisch, und diesen Kampf militärisch und politisch werden sie auch fortsetzen. Davon muss jeder ausgehen.
Armbrüster: Aber können wir denn wirklich davon ausgehen, dass die Kurden da sozusagen für den Westen die Kohlen aus dem Feuer holen und gegen den Islamischen Staat kämpfen, wenn sie ja merken, dass sie gleichzeitig immer wieder so vor den Kopf gestoßen werden?
Röttgen: Na ja, das, was, glaube ich, auch richtigerweise gestern der amerikanische Vizepräsident versucht hat, und ich glaube, das ist auch richtig, dass er auch versucht hat, dass eine direkte militärische Konfrontation zwischen syrischen Kurden und türkischen militärischen Einheiten vermieden wurde. Ich glaube, das ist auch erst mal richtig, dass man einen Beitrag leistet, dass es nicht zu militärischer Eskalation kommt. Aber darüber hinaus muss klar sein, dass, wenn die Türkei jenseits ihrer Grenze kurdische Stellungen angreift, sie dazu erstens keine Rechtfertigung hat in rechtlicher Hinsicht und zweitens die Strategie des Westens und der Anti-IS-Koalition konterkariert. Denn in dieser Strategie sind die syrisch-kurdischen Einheiten ein ganz wesentlicher Bestandteil. Das muss klar gemacht werden. Ich glaube auch, es ist klar gemacht worden.
"Das muss vor allen Dingen auch Staatspräsident Erdogan beenden"
Armbrüster: Was fordern Sie dann als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag? Was fordern Sie von der Türkei im Umgang mit den syrischen Kurden?
Röttgen: An allererster Stelle, dass auch von der türkischen Seite die militärische Eskalation im Kurden-Konflikt beendet wird und man wieder zu einem friedlichen Prozess zurückkehrt. Das ist das ganz Entscheidende. Im letzten Jahr hat das begonnen zwischen den und um die Wahlkämpfe in der Türkei herum und die PKK hat auch mit dem Terror wieder begonnen. Das hat Staatspräsident Erdogan ausgenutzt, um wieder zu einer militärischen Eskalation dieses Konfliktes zu kommen. Das muss vor allen Dingen auch Staatspräsident Erdogan beenden. Das ist die Kernforderung.
Armbrüster: Und an die Kurden in Syrien die Forderung, sich östlich des Flusses Euphrat auf diese Stellung zu beschränken und dort zu bleiben, die ist in Ordnung?
Röttgen: Nein. An die Kurden muss man genau die Forderung richten, den PKK-Terror einzustellen. Es werden terroristische Attacken ausgeübt auf dem Gebiet der Türkei. Das muss genauso eingestellt werden, das darf auch nicht weitergehen. Das ist eine fürchterliche Gewaltanwendung, die stattfindet. Und die syrischen Kurden, die gegen den IS kämpfen, bleiben weiterhin politisch-militärisch wichtig. Die Bundesrepublik Deutschland leistet übrigens gegenüber den Kurden im Irak Ausbildungshilfe, auch militärische Ausstattung. Das heißt, wir sind auch als Unterstützer der Kurden im Irak als Deutschland aktiv mit dabei. Und ich glaube, man muss die Präsenz der Kurden in Nordsyrien an der türkischen Grenze zu einem Teil der politischen Lösung des Kurden-Konflikts mit der Türkei machen.
Armbrüster: Aber wenn ich das noch mal kurz zusammenfassen darf? Die Kurden, sagen Sie, mögen sich bitte bereit halten für weitere Bitten des Westens, gegen den IS zu kämpfen, aber jetzt erst mal bitte nur auf Sparflamme?
Röttgen: Nein, die Kurden kämpfen weiter. Alle sind Würdige in diesem Einsatz, im militärischen Einsatz. Es ist auch nicht so, dass die Kurden das nur auf Bitten von anderen tun, sondern sie kämpfen, sie sind deshalb auch so erfolgreich, weil sie die am besten motivierte Einheit sind, weil sie nämlich für ihre Selbstständigkeit, vielleicht sogar ihre staatliche, für ihren eigenen Staat, mindestens für Autonomie kämpfen. Das heißt, sie kämpfen für das große politische Unabhängigkeits- und Selbstständigkeitsziel ihres Volkes. Das motiviert sie, nicht die Bitte der Amerikaner oder anderer. Und auch der Westen muss versuchen, den damit verbundenen Konflikt mit der Türkei nun nicht in eine militärische Bahn weiterzulenken, sondern in eine politische Lösung zu führen. Das ist das, was wir tun sollten.
"Die Kurden brauchen eine eigene autonome Einheit in der Region"
Armbrüster: Und können wir diesen Wunsch der Kurden nach einem unabhängigen Staat unterstützen?
Röttgen: Das würde ich nicht sofort sagen, weil das würde ja die politische Lösung schon unmöglich machen, wenn von Europa oder dem Westen sofort etwas zugestanden würde, was die Türkei so jedenfalls von Anfang an nicht akzeptieren würde. Wenn man wirklich politische Lösungen will, dann kann man nicht zu 100 Prozent Partei ergreifen.
Armbrüster: Dann will ich Sie mal so fragen. Können Sie diesen Wunsch der Kurden verstehen?
Röttgen: Ja, das ist ein bisschen komplizierter, weil es geht darum: Die Kurden erstrecken sich über mindestens drei Staaten, nämlich die Türkei, Syrien und Irak. Und übrigens im Irak hat man eine Lösung von Autonomie gefunden gegenüber der Türkei, mit der die Türkei gut leben konnte. Da ist es eher ein innerirakisches Problem. Dass die Kurden mit ihrem Wunsch nach Autonomie und Selbstständigkeit Anerkennung und Respekt finden sollten, aber so, dass es Teil einer friedlichen Lösung ist, das glaube ich, unterstütze ich persönlich sehr und das sollte auch die europäische und westliche Position sein. Die Kurden brauchen eine eigene autonome Einheit in der Region. Wie man sie auch territorial gestaltet, mit welchen Autonomierechten ausgestattet, das ist Teil der politischen Lösung.
Armbrüster: Hier bei uns im Deutschlandfunk war das Norbert Röttgen von der CDU, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Vielen Dank, Herr Röttgen, für Ihre Zeit.
Röttgen: Ich danke Ihnen, Herr Armbrüster.
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