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Syrien droht zu einem zweiten Irak zu werden

Im Irak schwelt nach dem Abzug der US-Truppen der blutige Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten weiter und droht auf Syrien überzugreifen, warnt Markus Kaim. Dahinter stehe El Kaida, meint der Politologe - die Terrororganisation mache sich den syrischen Bürgerkrieg zunutze.

Das Gespräch führte Dirk Müller | 26.07.2012
    Dirk Müller: Wir reden über Syrien, über Ägypten, über Israel, schon weniger über Libyen inzwischen, aber was ist mit dem Irak, dort, wo ein Krieg nach dem anderen seit den 80er-Jahren getobt hat, zuletzt der Anti-Terror-Krieg der Amerikaner samt Koalition der Willigen, der offiziell längst beendet ist. Aber Meldungen über tödliche Anschläge gibt es nach wie vor regelmäßig, so auch in dieser Woche, und die Dimension der anhaltenden Gewalt zwischen Euphrat und Tigris ist wieder allzu deutlich geworden. Eine ganze Serie von explodierten Bomben fordern über 110 Menschenleben, insgesamt 27 Anschläge in 18 Städten. Das alles sieben Monate nach dem offiziellen Abzug der US-Truppen, ein Land an der Grenze zu Syrien. – Am Telefon ist nun Markus Kaim, Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Morgen nach Berlin!

    Markus Kaim: Schönen guten Morgen nach Köln.

    Müller: Herr Kaim, warum ist der Irak von der Agenda verschwunden?

    Kaim: Ich glaube, den Schlüsselpunkt haben Sie angesprochen: Nach dem Abzug der USA hat das westliche Interesse am Irak sichtbar nachgelassen und wir nehmen die Anschlagszahl nur noch am Rande wahr beziehungsweise nur noch dann, wenn es wirklich eklatante Anschläge wie in der vergangenen Woche gewesen sind. Ansonsten hat sich der Westen anderen Prioritäten zugeordnet und ich glaube, das reflektiert einfach, dass westliche Regierungen nur zwei bis drei Krisen gleichzeitig bearbeiten können, und der Euro und Syrien dominieren im Moment alles.

    Müller: Ist der Irak denn inzwischen so weit gefestigt, zumindest in seinen Grenzen nach außen, dass es nahezu irrelevant ist, aus internationaler Sicht, was im Irak passiert?

    Kaim: Nein, in der Tat nicht, weil, es gibt ja deutliche Zeichen, dass zum Beispiel die Selbstmordanschläge, die wir in Syrien zu verzeichnen haben seit dem Dezember des vergangenen Jahres, auf Gruppen zurückgehen, die aus dem Irak stammen beziehungsweise entsprechende Verbindungen zu irakischen El-Kaida-Gruppen haben. Das heißt, das was wir eigentlich vor wenigen Jahren in Irak hatten, also eine Art Bürgerkrieg entlang ethnisch-religiöser Bruchlinien, also vor allem der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, droht, jetzt auf Syrien überzuschwappen.

    Müller: Das heißt also, dieser Konflikt Sunniten-Schiiten, die Kurden haben ja auch noch im Norden eine gewisse Rolle gespielt, der ist nach wie vor präsent?

    Kaim: In der Tat.

    Müller: Und wer kämpft dort gegen wen?

    Kaim: Die zentrale Bruchlinie, die ja auch von entsprechenden Gruppen im Irak jetzt auch für Syrien nutzbar gemacht wird, ist die Bruchlinie zwischen Sunniten und Schiiten. Die syrische Gruppe sind die Alawiten, also die herrschende Kraft, die aber den Schiiten zuzuordnen ist. Diese Gruppierungen sind jetzt in einer Art Bürgerkrieg aufeinander losgegangen, wie wir das in Syrien bislang nicht gekannt haben, und das droht, einer Situation zu ähneln, wie wir das seit dem Jahr 2003 auch im Irak gehabt haben. Das heißt, der Konflikt in Syrien hat sich wegentwickelt von einem Machtkonflikt zwischen Regierung und Opposition, wie das noch im März vergangenen Jahres zu konstatieren war, und ähnelt mehr und mehr einer Situation im Irak 2003 und dem folgenden Jahr, und dementsprechend droht auch eine Situation des eskalierenden Bürgerkrieges, wie wir das dann auch im Irak gehabt haben.

    Müller: Ist auch umgekehrt denkbar, dass Kräfte in Syrien jetzt quasi ihre Macht beziehungsweise ihr Drohpotenzial, ihr Anschlagspotenzial in Richtung Irak exportieren?

    Kaim: Das sehen wir nicht. Die eigentliche Richtung ist, der Export dieses Konfliktes, ist vom Irak nach Syrien, und diese Gruppen El Kaida und Gruppen, die sich zu El Kaida zugehörig fühlen beziehungsweise verbinden, drohen, die syrische Revolution, wenn ich sie so nennen darf, zu kidnappen, und das passt insofern in ein Muster, wie wir es auch aus anderen Ländern gesehen haben, das ein existierender lokaler Konflikt innerhalb eines Landes von El Kaida oder El Kaida angeschlossenen Gruppen für ihre Zwecke nutzbar gemacht wird. Das haben wir in Somalia gesehen, das sehen wir gegenwärtig in Mali, in Tschetschenien und auch im Jemen und das illustriert eben – wie soll man sagen? – die Verbindung von einem lokalen Konflikt und global agierenden Akteuren. Das heißt, die Ebene von lokalen, nationalen, regionalen und globalen Konflikten verschwimmt hier zusehends.

    Müller: Wir haben ja trotz aller Zurückhaltung, Herr Kaim, in den vergangenen Jahren, auch Monaten über die neue Regierung berichtet, wir haben über das neue politische System berichtet, mit dem Tenor: mehr Freiheit, mehr Demokratie im Irak, mit dem Tenor einer neuen Verfassung im Irak. Wie wichtig, wie einflussreich ist die Regierung?

    Kaim: Technisch oder formal ist sie natürlich nicht nur im Amt, sondern auch die wichtigste Kraft im Lande und sie verfügt ja auch über weite Teile des Landes mit den entsprechenden Autonomieregelungen, die existieren, insbesondere für die Kurden im Norden, die Sie auch angesprochen haben. Tatsächlich gehört aber auch dazu, dass Demokratie in diesem Land verwurzelt ist, wie wir das auch aus anderen Ländern gesehen haben, dass Demokratie eben nicht nur ein technisch formaler Prozess ist, sondern dass es einer demokratischen Kultur bedarf. Das muss jetzt erst einmal im Irak noch zunehmend wachsen und vor allen Dingen angesichts dieser ethnisch-religiösen Spannung, die ich angesprochen habe, scheint das sehr, sehr schwierig zu sein. Solange die religiösen Gruppen im Irak die überwölbende Kraft der Zentralregierung nicht akzeptieren, vor allem die befriedende Kraft der Sicherheitskräfte, solange wird die Situation nach wie vor fragil bleiben.

    Müller: Schiiten, Sunniten und umgekehrt Sunniten gegen Schiiten – welche Rolle spielt dabei der Iran?

    Kaim: Der Iran tatsächlich spielt eine zentrale Rolle hinter den Schiiten. Ich glaube, alle Konflikte, die wir gerade angesprochen haben, sei es Syrien, sei es Irak, seien es andere Konflikte in der Region, hinter diesen Konflikten stehen ja häufig Stellvertreter: in der Regel auf der sunnitischen Seite Saudi-Arabien, auf der schiitischen Seite Iran. Und das illustriert meinen Punkt, dass es eine reine Identifizierung eines lokalen oder nationalen Konfliktes in dieser Region gar nicht zutreffend ist, sondern tatsächlich politisch, militärisch, finanziell genießen diese Gruppen zu unterschiedlichen Graden die Unterstützung von externen Akteuren, und das ist vor allen Dingen wie angesprochen Iran und Saudi-Arabien.

    Müller: Haben die Amerikaner noch Einfluss?

    Kaim: Ich glaube, wir neigen dazu, den Einfluss der USA zu überschätzen, und tatsächlich stellen wir auch fest, wenn die USA so einflussreich wären, wie wir häufig glauben, dann müssten diese Konflikte entweder eine andere Form annehmen, oder schneller befriedet sein. Ich glaube, sie sind nicht so einflussreich, wie wir das glauben, aber sie sind einflussreicher als zum Beispiel die Europäer und sie sind in der Lage, bestimmte Konflikte so zu begleiten und so einzuhegen und entsprechende Instrumente in Stellung zu bringen, dass sie gegebenenfalls handlungsfähig sind. Was ich konkret meine ist, dass sie zum Beispiel jetzt in der Situation Syrien mit Drohnen, mit geheimdienstlichen Erkenntnissen, zumindest eine gewisse Handlungsfähigkeit für den Tag eines Regierungswechsels bewahren. Davon sind die Europäer leider weit entfernt.

    Müller: Schauen wir noch, Herr Kaim, neben der politischen Dimension noch einmal auf die ökonomische Dimension, die wir jetzt noch nicht thematisiert haben. Wie weit ist die Wirtschaft im Irak gekommen?

    Kaim: Nach all dem, was wir wissen, sind tatsächlich die Öleinnahmen wieder in Gang gekommen, und das ist einer der wichtigsten Stützen der irakischen Wirtschaft, und die irakische Regierung hat sich in den vergangenen Jahren auch enorm bemüht, ausländische Investitionen ins Land zu bringen, sodass ich glaube, das ist einer der Teile, über den wir uns am wenigsten Sorgen machen müssen. Nach all dem, was bekannt ist, wird der Irak auch nicht zuletzt aufgrund der Öleinnahmen tatsächlich eine der prosperierendsten Volkswirtschaften des Nahen und Mittleren Ostens sein, oder, anders formuliert, hat zumindest das Potenzial dazu.

    Müller: Könnte demnach die Wirtschaftsperspektive günstig, wie Sie jetzt gerade sagen, auch den positiven Einfluss dann haben auf eine politische Stabilisierung?

    Kaim: Wie so häufig in diesen Ländern ist es eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Wir haben ja viele Länder in der internationalen Politik, die von Rohstoffen enorm gesegnet sind und wir eigentlich von außen betrachtet sagen müssten, diesen Ländern und diesen Gesellschaften müssten es ganz hervorragend gehen. Das häufig anzutreffende Problem ist, dass dieser Reichtum in den Händen weniger verbleibt beziehungsweise in dunklen Kanälen versickert, Stichwort Korruption und anderes, und das ist, glaube ich, die entscheidende Frage in Ländern wie dem Irak, tatsächlich wie viele gesellschaftliche Gruppen und wie gerecht sie an diesem Wohlstand partizipieren.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Markus Kaim, Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Kaim: Gerne.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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