Jochen Spengler: Nun ist also das passiert, was zum Beispiel die USA und Russland mit hochrangigen Konsultationen versuchen, zu vermeiden, dass sie sich nämlich mit ihren Kampfjets im Einsatz über Syrien gegenseitig in die Quere kommen und gefährden. Nun haben zwar nicht die USA geschossen und ein russisches Kampfflugzeug getroffen, sondern die Türkei, aber auch die ist Mitglied der NATO.
Wie gefährlich ist so ein Zwischenfall? Wie hoch ist die Gefahr einer Eskalation? Was bedeutet das alles für die Koalition gegen den sogenannten Islamischen Staat? Fragen, die wir Walther Stützle stellen wollen, einem ausgewiesenen Sicherheitsexperten, ehemaligem Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium. Guten Tag, Herr Stützle.
Walther Stützle: Guten Tag, Herr Spengler.
Spengler: Die Türkei behauptet, der Jet habe sich über türkischem Luftraum befunden und sei deshalb mehrfach gewarnt worden. Russland behauptet, der Kampfjet sei über syrischem Gebiet geflogen. Wie entscheidend ist es denn, wo genau der Jet abgeschossen wurde?
Stützle: Der Abschuss zeigt, wie gefährlich, wenn nicht gar chaotisch die Situation im Krisengebiet im Nahen Osten ist, und die Diplomatie wird keine Zeit haben, die große Politik wird keine Zeit haben, die Frage, wer was wann genau gemacht hat, um diesen Konflikt, der nun sehr verschärft worden ist, zu lösen, zu befrieden. Es wird höchste Zeit, dass alle Beteiligten, die im Nahen Osten Verantwortung tragen, nicht nur in Wien an einen Tisch kommen, sondern sich sehr schnell darauf verständigen, dass diese nicht koordinierten Bombardierungsaktionen eingestellt werden, respektive, dass man zu einer Koordinierung kommt.
Spengler: Sie sagen, Herr Stützle, es ist eigentlich gar nicht so wichtig, ob es jetzt über türkischem oder über syrischem Luftraum war, es ist auch nicht wichtig, ob es mit Flugzeugen geschehen ist oder mit Raketen vom Boden; wichtig ist, dass solche Vorfälle generell vermieden werden.
Stützle: Der Charakter dieser Krise und die Merkmale des Eingreifens von außen haben erwarten lassen, dass so ein Unfall passieren kann. Das mag jetzt sehr altklug klingen, aber wenn mehrere militärische Mächte, in diesem Falle sogar Großmächte, Frankreich, Amerika und die Vereinigten Staaten, unkoordiniert in ein und demselben Gebiet Bombardierungen aus der Luft vornehmen zum Zwecke politischer Ziele, dann ist es im Grunde genommen programmiert, dass, wenn man nicht sehr viel Glück hat - und das Glück ist meistens kein Partner in solchen Situationen -, dass so ein Unfall passiert. Und es kommt jetzt alles darauf an, dass sowohl Moskau wie auch Washington wie auch Paris - das sind die Hauptakteure - vernünftig darauf reagieren und die politischen Instrumentarien einsetzen, die dafür vorhanden sind. Ich möchte daran erinnern, dass es einen NATO-Russland-Rat gibt - die Türkei ist ja immerhin NATO-Partner -, der dafür eingerichtet worden ist, so schwierige sicherheitspolitische Probleme nicht nur miteinander zu besprechen und sich miteinander auszutauschen, sondern politisch beizulegen. Der Konflikt im Nahen Osten ist politisch viel zu kompliziert, als dass er durch Luftbombardierungen gelöst werden kann.
"Es wird noch Jahre brauchen, um diesen Konflikt beizulegen"
Spengler: Der NATO-Russland-Rat wäre Ihrer Ansicht nach das richtige Gremium, solche Konflikte zu vermeiden, obwohl ja die NATO nicht offiziell jetzt bei der Anti-IS-Koalition beteiligt ist?
Stützle: Es wäre das richtige Gremium, um diejenigen wieder ins Gespräch miteinander zu bringen, die im Nahen Osten politische Verantwortung haben für die Beilegung des Konflikts, der uns ja noch viele, viele Jahre beschäftigen wird. Das Auftreten des sogenannten Islamischen Staates wird ja nicht in wenigen Wochen oder Monaten vorbei sein, sondern es wird noch Jahre brauchen, um diesen Konflikt beizulegen. Und wenn es überhaupt gelingen kann, kann es nur in gemeinsamer Arbeit derer gelingen, die nicht nur im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine entscheidende Rolle spielen, sondern die im Nahen Osten, insbesondere im syrischen Konflikt, im syrisch-irakischen Konflikt und im Konflikt mit dem sogenannten Islamischen Staat politische Ziele verfolgen, die ja gegenwärtig nicht miteinander kongruent sind. Russland unterstützt das syrische Regime von Assad, die Vereinigten Staaten und Frankreich vertreten eine andere Position und wollen den Assad sozusagen aus dem Amt bringen.
Spengler: Aber man hatte doch den Eindruck, Herr Stützle, dass in den letzten Wochen durch die Syrien-Konferenz, die ja schon zweimal getagt hat, man eigentlich auf einem vielleicht nicht guten Weg, aber auf einem Weg ist, wo man vorsichtigen Optimismus haben konnte.
Stützle: Das ist richtig. Umso wichtiger ist es, dass diese politischen Prozesse, die ja schwer genug sind und kompliziert genug sind, nicht durch nationalstaatliche einzelne militärische Nebenluft gestört werden oder gar zu Fall gebracht werden. Es zeigt sich, wie klug der außenpolitische Ausschuss des britischen Parlaments gehandelt hat, als er auf das Begehren des britischen Premiers, Großbritannien solle sich an den Luftschlägen auch beteiligen, geantwortet hat, das macht Großbritannien nicht, jedenfalls nicht mit Zustimmung des britischen Parlaments, solange es keine gemeinsame politische Strategie gibt.
Spengler: Aber wir wissen, dass Premierminister Cameron drauf und dran ist, genau diesen Beschluss zu kippen. Da versucht er jedenfalls alles. - Ich möchte etwas aufgreifen. Wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, haben Sie zweimal von einem Unfall gesprochen. Kann man das so sagen, ein Unfall? Könnte es nicht auch tatsächlich eine bewusste Handlung unter Präsident Erdogan sein, der Türkei, die ja nun auch die russischen Flieger schon mehrmals gewarnt hat?
Stützle: Ihre Frage deutet ja darauf hin, wie schwierig die Situation unter anderem dadurch ist, dass die türkische Politik nicht sehr einsichtig und sehr klar ist. Der Eintritt der Türkei in diesen Konflikt vor den Wahlen in der Türkei, wo Erdogan die Kurden sozusagen zum Staatsfeind Nummer eins erklärt hat, war ja die erste politische Störung der Friedensbemühungen zur Beilegung des Syrien-Konflikts, und es ist natürlich höchste Zeit, auch die Türkei mit einzubinden in eine politische Lösung, und dabei scheint mir interessant und nicht gerade sehr lobenswert, dass die atlantische Allianz bisher jedenfalls nicht für außenstehende Beobachter erkennbare Bemühungen unternommen hat, sich politisch in diesen Konflikt einzuschalten und dafür zu sorgen, dass die Türkei als NATO-Partner sich an diesen Friedensbemühungen politisch, nicht militärisch beteiligt.
"Russland wieder ins Spiel bringen"
Spengler: Herr Stützle, François Hollande fährt heute in die USA. Übermorgen wird er in Moskau sein. Wird der französische Staatspräsident vermitteln müssen, um eine Eskalation zu verhindern?
Stützle: Der französische Staatspräsident gehört, wie ich beurteile, zu den klugen Politikern, die seit langer Zeit versuchen, Russland wieder ins Spiel zu bringen, nachdem Russland sich durch das militärische Auftreten im Syrien-Konflikt selber wieder zu Wort gemeldet hat und seine Interessen und seine Verantwortung eingefordert hat, und ich glaube, es ist höchste Zeit, dass man diese Rückkehr Russlands in die internationale Politik nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern positiv wendet und gemeinsam mit Russland auf eine Lösung des Konflikts hinarbeitet. Das heißt, diese Verschärfung des Konflikts durch den Abschuss des russischen Flugzeuges sollte eine Mahnung sein, die Isolierung, die Isolierungsversuche gegenüber Russland aufzugeben. Erste Äußerungen von Kerry, dem amerikanischen Außenminister, deuten ja darauf hin, dass in Washington vielleicht doch ein Umdenken im Gange ist und das unsinnige Wort von Präsident Obama, bei Russland handele es sich nur um eine Regionalmacht, wieder in den Hintergrund gedrängt wird. Aber das sind alles Hoffnungen; das sind noch keine Ergebnisse.
Spengler: Danke schön! - Das war Walther Stützle, ehemaliger Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium. Danke, dass Sie Zeit für uns hatten, Herr Stützle.
Stützle: Ich danke Ihnen, Herr Spengler.
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