Ein Monat nach Assads Sturz
Syrien, die Rückkehr-Debatte und ihre Folgen

Seit dem Sturz von Langzeitmachthaber Assad wird in Deutschland über den Umgang mit syrischen Geflüchteten diskutiert. Kritiker warnen vor populistischen Forderungen - und Folgen für den deutschen Arbeitsmarkt.

    Syrer feiern auf dem Schillerplatz und der Ludwigstraße in Mainz den Sturz des Assad-Regime. Sie schwenken Fahnen und jubeln.
    Syrerinnen und Syrer in Deutschland feiern den Sturz des Assad-Regimes, kurz danach lief schon die Debatte um ihre Rückführungen an (picture alliance / dpa / Andreas Arnold)
    Seit Anfang Dezember 2024 ist die Assad-Diktatur in Syrien Geschichte. Auch in Deutschland bejubelten Tausende, zumeist Exilanten, den Fall des Langzeitmachthabers, mit Autokorsos und schwenkenden Flaggen. Doch das historische Ereignis ist auch ein Sturz ins Ungewisse. Die jahrzehntelange Herrschaft des Assad-Regimes und 13 Jahre Bürgerkrieg haben das Land tief gezeichnet. Weite Teile Syriens sind zerstört, 90 Prozent der Bevölkerung lebt in Armut, Millionen Menschen sind vom Hunger bedroht. Und noch ist völlig unklar, wie die neuen Machthaber, die islamistische Übergangsregierung um HTS-Chef Ahmed al-Scharaa, das Land künftig gestalten wollen.
    Trotzdem ist die Diskussion um die Zukunft der rund eine Million Syrer in Deutschland bereits voll entfacht. Es geht um Rückführungen, also Abschiebungen, und freiwillige Rückkehr. Anfang Januar 2025 stellte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ihren Plan für den Umgang mit Geflüchteten aus dem Land vor. Was bedeutet das für die Menschen, die hierzulande seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs Zuflucht gefunden haben? Wie reagieren die Parteien, wie argumentieren Kritiker? Und wie blicken Geflüchtete auf die aktuelle Debatte?

    Inhalt

    Was plant Innenministerin Faeser?

    Rund einen Monat nach dem Sturz von Baschar al-Assad in Syrien hat Innenministerin Faeser einen Plan für den Umgang mit Geflüchteten aus dem Land vorgestellt. Dieser sieht vor, dass ein Teil von ihnen unter bestimmten Bedingungen in ihr Heimatland zurückkehren muss. Wie Faeser den Zeitungen der Funke Mediengruppe sagte, werde das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) „Schutzgewährungen überprüfen und aufheben, wenn Menschen diesen Schutz in Deutschland nicht mehr brauchen, weil sich die Lage in Syrien stabilisiert hat“. Wer gut integriert sei, arbeite, Deutsch gelernt habe und „hier eine neue Heimat gefunden hat“ solle bleiben dürfen.
    Menschen, die freiwillig nach Syrien zurückkehren möchten, sollen unterstützt werden. Straftäter und Islamisten will Faeser schnellstmöglich abschieben. Die rechtlichen Möglichkeiten dafür seien stark erweitert worden und würden genutzt, sobald die Lage im Land dies zulasse. Auswärtiges Amt und Bundesinnenministerium arbeiteten gemeinsam daran, ein klareres Lagebild von Syrien zu gewinnen. Die Bundesregierung stimme sich zudem eng mit europäischen und internationalen Partnern ab. Nach den Worten der SPD-Politikerin gibt es erstmals nach mehr als einem Jahrzehnt des Terrors und der Gewalt in Syrien wieder Hoffnung auf Frieden. "Wenn diese Hoffnung auf Frieden Realität wird, dann können auch viele Geflüchtete zurückkehren."

    Wie viele Syrer leben in Deutschland?

    In Deutschland leben rund 975.000 Menschen mit syrischer Herkunft. Das geht aus Angaben des Bundesinnenministeriums mit Stand von Oktober 2024 hervor. Die meisten von ihnen kamen 2015 und 2016 infolge des syrischen Bürgerkriegs. Viele haben mittlerweile einen deutschen Pass: Mehr als 160.000 Syrerinnen und Syrer erhielten in den vergangenen zehn Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft.
    Rund 5.000 der syrischen Geflüchteten hierzulande sind Asylberechtigte – also Personen, die in ihrem Herkunftsland individuell politisch verfolgt werden und deshalb Schutz erhalten. 320.000 Menschen wurde die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, das heißt sie bekommen Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention. Etwa 330.000 haben einen subsidiären Schutztitel, wurden also nicht wegen einer individuellen Verfolgung aufgenommen, sondern wegen des Bürgerkriegs.
    Seit 2014 stellen Syrerinnen und Syrer regelmäßig die meisten Asylanträge in Deutschland. Laut Bamf waren es zwischen Januar und November 2024 rund 72.000 Erstanträge. Im selben Zeitraum wurden rund 91.000 Asylentscheidungen für syrische Staatsangehörige getroffen – die weitaus meisten, 83,6 Prozent, erfolgreich. Als Reaktion auf den Machtwechsel in Syrien hat das Bamf im Dezember einen sofortigen Entscheidungsstopp für Asylersuchen von Menschen aus dem Land erlassen. Die Lage sei "dynamisch, unübersichtlich und schwer zu beurteilen", so die Begründung.
    Ein Grafik-Diagramm zeigt die Asyl-Erstanträge von syrischen Staatsbürgern in Deutschland im Zeitverlauf
    Im Jahr 2016 erreichte die Zahl der Asylanträge von Syrern ihren Höhepunkt. (dpa / dpa-infografik GmbH)

    Wie ist ihre Arbeitssituation?

    Zahlen zur Arbeitssituation von Syrern in Deutschland hat das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Im September 2024 waren hierzulande demnach 287.000 syrische Staatsangehörige beschäftigt, davon 82 Prozent sozialversicherungspflichtig. Die durchschnittliche Beschäftigungsquote lag bei 42 Prozent. Allerdings steigen Erwerbstätigkeit und Beschäftigung mit der Aufenthaltsdauer deutlich an, laut IAB-Zahlen auf 61 Prozent sieben Jahre nach dem Zuzug.
    Viele Syrer arbeiten in systemrelevanten Berufen und in Branchen mit Fachkräftemangel. Wie ein Bericht des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt, waren im Zeitraum von Juni 2023 bis Mai 2024 etwa 80.000 syrische Fachkräfte in Engpassberufen tätig, also in Stellen, die laut IW besonders schwierig zu besetzen sind. Dazu zählen etwa Kfz-Technik und klimarelevante Handwerksberufe wie die Bauelektrik, aber auch Gesundheits- und Sozialberufe. So bilden Syrer zum Beispiel die größte Gruppe ausländischer Ärzte in Deutschland. Zu den Engpassberufen, in denen viele syrische Beschäftigte arbeiten, zählen zudem: Zahnmedizin, Kinderbetreuung und -erziehung sowie Gesundheits- und Krankenpflege.

    Welche Reaktionen gibt es aus der Politik?

    Vier Wochen nach dem Machtwechsel in Syrien und rund anderthalb Monate vor der Bundestagswahl Ende Februar 2025 ist der Umgang mit syrischen Geflüchteten längst ein zentrales Wahlkampfthema. Kaum war Assad weg, wurden aus den Reihen von Union, AfD und BSW erste Rückkehrforderungen laut. Seitdem debattieren deutsche Politiker über Rückführungen, also Abschiebungen, darüber, wie Menschen zur freiwilligen Rückkehr bewegt werden können - und wer bleiben darf.
    Anfang Januar sagte Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck: Wenn Syrien sicher sei, verlören diejenigen ihren Schutzstatus, die aus Angst um ihre Sicherheit aus dem Land geflohen seien. Allerdings müsse die Lage zunächst weiter beobachtet werden. Wie Faeser benannte der Wirtschaftsminister Arbeit als zentrales Kriterium für eine Bleibeperspektive: „Diejenigen, die hier arbeiten, die können wir gut gebrauchen. Diejenigen, die hier nicht arbeiten, werden - wenn das Land sicher ist - wieder in die Sicherheit zurückkehren können oder auch müssen.“
    Andrea Lindholz (CSU) forderte, Straftäter sofort abzuschieben und freiwillige Rückkehrer zu unterstützen. Wer gut integriert sei, solle aber bleiben können. Auch Stephan Thomae (FDP) plädierte für eine Bleibemöglichkeit von gut integrierten Menschen. Für andere entfalle der Schutz, wenn sich die Verhältnisse in Syrien stabilisierten. Die Grünen-Politikerin Lamya Kaddor warnte hingegen vor voreiligen Schritten: Es gebe noch keine stabile politische Lage, so Kaddor. "Wir kennen die neuen Machthaber und werden sie an ihren Taten messen müssen."

    Wer kritisiert die Debatte und warum?

    Kritiker warnen vor den Folgen möglicher Rückführungen etwa für die deutsche Wirtschaft. So zum Beispiel Verdi-Chef Frank Werneke, der die Bedeutung von syrischen Geflüchteten etwa im Versandhandel, im Bereich der Zustellung oder in der Pflege betonte. Rückführungen im großen Stil wären Werneke zufolge gegen die Interessen der Menschen und der Arbeitswelt in Teilen Deutschlands. 
    Auch laut dem deutschen Institut für Wirtschaft wird in der Diskussion der Beitrag syrischer Geflüchteter für den hiesigen Arbeitsmarkt unterschätzt. Das Institut rechnet damit, dass Syrerinnen und Syrer wegen des demografischen Wandels und dem Fachkräftemangel vor allem in Engpassberufen noch wichtiger werden und warnt vor Versorgungsengpässen. „Die über Jahre mühsam erbrachte Integrationsleistung vieler Syrer und der deutschen Unternehmen sollte wertschätzend anerkannt werden“, mahnt IW und fordert eine sichere Bleibeperspektive für Erwerbstätige, auch wenn ihr subsidiäre Schutzstatus enden sollte.
    Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa kritisiert zudem die Botschaft, die mit der Rückkehr-Debatte gesendet wird und mahnt vor populistischen Forderungen und vorschnellen Abschiebeplänen. "Die populistische Verschärfung der Remigrations-Tonalität im Wahlkampf schürt falsche Vorurteile und beschädigt nachhaltig die Grundlagen einer Willkommenskultur für ausländische Fachkräfte", so Welskop-Deffaa im Tagesspiegel. Die Caritas-Präsidentin verwies auf die Gesundheits- und Sozialberufe, in denen viele Syrerinnen und Syrer eine große Hilfe seien.
    Alarmiert zeigen sich auch Ärzte- und Pflegeverbände. Syrische Ärzte arbeiten oft in kleineren Krankenhäusern in ländlichen Regionen. Sollten viele Deutschland verlassen, wäre dies „ein ziemlicher Stresstest für unsere medizinische Versorgung“, sagt etwa Friedrich München, Geschäftsführer der sächsischen Krankenhausgesellschaft. Wartelisten könnten länger und Eingriffe verschoben werden.
    Uwe Köhler, Vizepräsident der sächsischen Ärztekammer, äußerte jedoch auch Verständnis für freiwillige Rückkehr-Entscheidungen. Schließlich sei in Syrien medizinische Hilfe dringend geboten. Aus Sicht von Hani Harb, Juniorprofessor für Infektionsimmunologie in Dresden und Leiter der Deutsch-Syrischen Forschungsgesellschaft, braucht es deshalb eine „echte politische Debatte“ darüber, „wie wir die deutsch-syrischen Akademiker nutzen, um Brücken nach Syrien zu bauen und dort den Wiederaufbau zu gestalten".

    Wie reagiert die syrische Community?

    Innerhalb der syrischen Community in Deutschland ist die Enttäuschung angesichts der Rückkehr- und Rückführungsdebatte groß, sagt Tareq Alaows von Pro Asyl, selbst aus Syrien und inzwischen deutscher Staatsangehöriger. Die Diskussion sei rechtlich wie moralisch fragwürdig und verunsichere die Geflüchteten hierzulande. Diese wünschten sich politische Gespräche und Hilfe bei der Aufarbeitung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Stattdessen werde die Situation zu Wahlkampfzwecken instrumentalisiert und diene dazu, Stimmen am rechten Rand zu fischen.
    Das kritisieren auch die syrische Jurastudentin Lubna al Aswad und der Aktivist Omar Alkadamani. „Diese Debatte vor den Bundestagswahlen zu führen, kann nur weiteren Hass schüren, kann nur die rechten Stimmen lauter machen und legitimieren“, sagt al Aswad. Zwar sei Syrien befreit von der Diktatur, das bedeute aber nicht, dass es jetzt ein sicheres Land sei, in das man Menschen abschieben könne, die sich in Deutschland ein Leben aufbauten. Auch Alkadamani ist überzeugt, Syrien sei zum jetzigen Zeitpunkt weder sicher, noch politisch oder wirtschaftlich stabil. Den Plan der Innenministerin zum Umgang mit Geflüchteten hält der Aktivist für Stimmenfang. Gerade in der Vorwahlzeit sei er ein falsches politisches Signal und befeuere eine "rechte Debatte".
    Ähnlich sieht das die Studentin al Aswad. Ihrer Ansicht nach zeugt die aktuelle Diskussion um die Rückkehr und Rückführung syrischer Geflüchteter von Entmenschlichung. Sie habe das Gefühl, „dass nicht nach unseren Personen geguckt wird, nicht nach unseren Geschichten. Geguckt wird nicht nach unseren Träumen und persönlichen Entwicklungen, sondern nur nach unserem wirtschaftlichen Profit.“ Es brauche als Gesellschaft ein gemeinsames Verständnis, wie mit Schutzsuchenden umgegangen werde, dass sie als Mensch behandelt würden, nicht als Objekte.

    Freiwillige Rückkehr

    Wie viele Geflüchtete perspektivisch nach Syrien zurückkehren wollen, scheint derzeit nicht absehbar. Die Vereinten Nationen schätzen, dass im ersten Halbjahr 2025 eine Million Syrerinnen und Syrer in ihr Land heimkehren könnten. Dabei gehe es nicht um eine „erzwungene“ Rückkehr, betont das Flüchtlingshilfswerk UNHCR.
    Aus der Türkei, dem Libanon und Jordanien haben sich bereits viele auf den Weg gemacht - allein aus der Türkei waren es offiziellen Angaben zufolge bis Ende Dezember etwa 35.000 Menschen. Die Mehrheit wird wohl jedoch erst einmal abwarten, wie sich die Lage weiterentwickelt. Und auch das Flüchtlingshilfswerk rät wegen der schlechten Sicherheitslage von einer freiwilligen Rückkehr nach Syrien aktuell ab.

    irs