Massaker an Zivilisten
Syrien zwischen Gewalt, Angst und Hoffnung

Die Berichte über Massaker an der alawitischen Minderheit in Syrien trüben die Hoffnung auf einen raschen Übergang in eine friedliche Zukunft. Wie sicher sind ethnische Minderheiten im Land?

    In einem Verkehrsstau Richtung Qardaha, Syrien, sind bewaffnete Kämpfer zu erkennen, die sich aus dem Autofenster lehnen. Im Hintergrund sind Rauchschwaden zu erkennen. Sie stammen mutmaßlich von den Kämpfen im Westen Syriens.
    Welle der Gewalt in Syrien: Bewaffnete Gruppen auf dem Weg nach Qardaha (IMAGO / Xinhua)
    Die neuen Machthaber in Syrien – die islamistische "Allianz zur Befreiung der Levante", Haiat Tahrir al-Scham (HTS) und ihr Chef Abu Mohammed al-Dschulani, mit bürgerlichem Namen Ahmed al-Scharaa – üben seit fast 100 Tagen die Macht in Damaskus aus. Aber der von den Vereinten Nationen geforderte politische Übergangsprozess blieb bislang aus. Die wirtschaftliche Situation ist desolat, die Sicherheitslage fragil.
    Dazu war es im März im Westen des Landes zu den bisher heftigsten Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Anhängern des gestürzten Machthabers Baschar al-Assad gekommen. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden mindestens 1.383 Zivilistinnen und Zivilisten getötet, die meisten davon Angehörige der religiösen Minderheit der Alawiten, der auch Assad angehört. Ein Überblick:

    Inhalt

    Wie kam es zu den Gewaltexzessen?

    Hierzu gibt es unterschiedliche Erzählungen, die sich nicht vollständig unabhängig überprüfen lassen. Nach Darstellung der neuen Machthaber in Damaskus überfielen bewaffnete Anhänger der gestürzten Assad-Regierung Sicherheitskräfte in der Küstenprovinz Latakia. Ein Hinterhalt, bei dem mindestens 15 Einsatzkräfte getötet wurden. Die Übergangsregierung reagierte mit einer Militäroperation, bei der auch Artillerie und Panzer eingesetzt wurden.
    Die syrische Regierung ließ sich zudem von verschiedenen islamistischen Milizen und ausländische Dschihadisten unterstützen. Diese sind zwar mit der Regierung verbündet, aber nicht vollständig unter ihrer Kontrolle. Mutmaßlich sind sie verantwortlich für die Tötung alawitischer Zivilisten. Die Verantwortlichen sollen von einer Sonderkommission ermittelt und bestraft werden.
    Ganz anders stellen Angehörige der Alawiten den Ablauf dar. Sie sprechen von einer gezielten ethnischen Säuberung. Kämpfer seien von Tür zu Tür gegangen und hätten danach gefragt, wer alawitischen Glaubens sei. Diese Menschen seien dann sofort getötet worden, ganz egal wie sie zu Ex-Diktator Assad standen. Dlf-Korrespondent Moritz Behrendt liegen zahlreiche Nachrichten von mutmaßlich Verfolgten aus dem Westen Syriens vor, die ein solches Vorgehen schildern. Einiges spreche für eine „genozidale Absicht“ mancher Kämpfer. 
    Warum richtet sich die Gewalt gegen Alawiten?
    Die Alawiten sind gleich aus zwei Gründen Zielscheibe für Gewalt durch Islamisten. Zum einen sind Alawiten eine religiöse Minderheit, die hauptsächlich an der Mittelmeerküste im Westen des Landes lebt. Sie stammen vom schiitischen Islam ab, haben allerdings eigene Glaubensvorstellungen und Rituale. Für Dschihadisten, die der sunnitischen Glaubensrichtung anhängen, gelten Alawiten nicht selten als „Abtrünnige“. Die Sunniten stellen mit einem Bevölkerungsanteil von etwa 70 Prozent die große Mehrheit in Syrien.
    Zum anderen gehörten Ex-Herrscher Assad und seine Familie der alawitischen Gemeinschaft an. Über fünf Jahrzehnte regierten sie Syrien mit brutaler Gewalt. In dieser Zeit waren Alawiten ihre Machtbasis, sie hatten überproportional viele wichtige Posten im Militär und in der Regierung inne. Der Eindruck, sie würden bevorzugt behandelt und seien allesamt Unterstützer des Regimes verfestigte sich.


    Wie reagieren die anderen ethnischen Minderheiten in Syrien?

    Ähnlich wie die Alawiten fürchten auch andere Minderheiten im von vielen verschiedenen Volksgruppen bewohnten Syrien um ihre Sicherheit. Allen voran die Drusen. Auch ihre Religionsgemeinschaft ist eine Abspaltung der schiitischen Glaubensrichtung und galt unter dem Assad-Regime als privilegiert. Rund 700.000 Drusen leben in Syrien, vor allem im gebirgigen Südwesten des Landes um die Stadt Suweida.
    Mehrere bewaffnete drusische Milizen wurden in den vergangenen Jahren gegründet, um ihre Gemeinden vor der Terrorgruppe Islamischer Staat oder vor Drogenbanden zu schützen. Sie zögern jetzt, ihre Waffen niederzulegen. Trotz des Misstrauens signalisieren die Drusen ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Regierung.
    Sorgen gibt es auch bei den rund 300.000 Christen. Nach Informationen der Menschenrechtsorganisation Christian Solidarity International wurden auch viele Christen getötet. Häuser von Christen in den Dörfern im "Tal der Christen", Wadi Nazarah, seien niedergebrannt, Bewohner teilweise ermordet worden, hieß es in einer Mitteilung des griechisch-orthodoxen Patriarchates von Antiochien.
    Schon zu Zeiten des Bürgerkriegs gab es Hinrichtungen von Christen durch die islamistische al-Nusra-Front, die in der heutigen HTS-Miliz aufgegangen ist, die wiederum nun in Damaskus das Sagen hat.
    Es gibt aber auch ein hoffnungsvolles Signal für den Umgang mit Minderheiten in Syrien. Zeitgleich mit dem Gewaltausbruch wurde ein Abkommen der Übergangsregierung mit den Kurden geschlossen, die im Nordosten Syriens beheimatet sind. Die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) einigten sich mit der neuen Führung in Damaskus auf eine komplette Eingliederung der Kurden in die staatlichen Institutionen des Landes. Die von den USA unterstützten SDF erklärten sich bereit, die Regierung bei der Bekämpfung von Überresten des gestürzten Regimes von Machthaber Baschar al-Assad und jeglicher Bedrohung der Sicherheit und Einheit Syriens zu unterstützen.

    Was bedeutet das für die Entwicklung in Syrien?

    Die Eskalation ist ein großes Problem für die HTS-Übergangsregierung in Damaskus, die Sicherheit und Stabilität versprochen hatte und das Land vereinen möchte. Drei Monate nach der Machtübernahme steht sie nun innen- und außenpolitisch unter Druck.

    So hat der UN-Sicherheitsrat die mutmaßlichen Massaker an Zivilisten im Westen Syriens verurteilt und die Übergangsregierung zum Schutz der gesamten Bevölkerung aufgerufen, unabhängig von ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit. Kritisiert wurden vor allem die "Massaker an Zivilisten", insbesondere an der Minderheit der Alawiten.
    Präsiden Ahmed al-Scharaa bedauerte die Angriffe auf Zivilisten, für die er verschiedene Gruppen verantwortlich macht. "Es wurde zu einer Gelegenheit für Rache" für jahrelang aufgestauten Unmut, sagte er. Gleichzeitig kündigte er an, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. "Syrien ist ein Rechtsstaat. Das Gesetz wird seinen Lauf nehmen", betonte al-Scharaa in einem Interview. Eine Kommission zur "Untersuchung des Geschehens in den Provinzen am Meer" wurde eingerichtet. Da die Richter in diesem Ausschuss eine gewisse Distanz zu den neuen Machthabern haben, sei das ein hoffnungsvolles Signal, meint die Nahostexpertin Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung.
    Nach der langen Geschichte der Gewalt in Syrien sei das Misstrauen unter den verschiedenen Volksgruppen groß. Es sei eine „gewaltige Aufgabe“ für die Übergangsregierung diese Spannungen abzubauen, erklärt Scheller. Noch sei es nicht gelungen, die bewaffneten Gruppen im Land soweit zu bringen, dass sie sich der Kontrolle von Damaskus unterstellen. Viele sowohl regimetreue als auch dschihadistische Gruppen entziehen sich. Die Einigung mit der kurdischen SDF sei deswegen ein wichtiger Schritt. Desweiteren brauche es eine Aufarbeitung der massiven Verbrechen zur Zeit des Assad-Regimes. Nur so könne revanchistisches Denken eingedämmt werden, so Nahostexpertin Scheller.
    Für Interimspräsident Al-Scharaa sind die Gewaltexzesse auch außenpolitisch ein Rückschlag. Seit seiner Machtübernahme versucht er, die USA und Europa davon zu überzeugen, noch gegen Assad verhängte Sanktionen aufzuheben, um den Weg für einen wirtschaftlichen Aufschwung zu ebnen. Mitte Februar hatte die EU der Lockerung einiger dieser Sanktionen zugestimmt.
    Bei der jüngsten Geberkonferenz für Syrien in Brüssel wird das Land durch Außenminister Al-Schaibani vertreten, der immer wieder eine vollständige Aufhebung der Sanktionen gefordert hatte, die den Wiederaufbau des Landes blockierten. Syrien sei "open for business", erklärte er.

    jk