Christiane Kaess: Wir schauen nach Syrien. Zuerst fiel die Zustimmung im UN-Sicherheitsrat, es solle eine 30-tägige Feuerpause für die umkämpften syrischen Rebellengebiete geben. Die wird bisher nicht umgesetzt. Etwas konkreter wurde es dann gestern doch noch, weil Russlands Präsident Putin eine Waffenruhe für Ost-Ghuta Nahe Damaskus ankündigte. Seit heute Morgen sollen die Waffen schweigen und es den Zivilisten in der belagerten Enklave ermöglichen, über einen Korridor zu fliehen. Zumindest soll das bis 14 Uhr möglich sein und in diesen Zeiten auch in den kommenden Tagen.
Darüber kann ich jetzt sprechen mit dem Nahost-Experten Michael Lüders. Guten Tag, Herr Lüders.
Michael Lüders: Schönen guten Tag, Frau Kaess. – Hallo!
Kaess: Dass diese Feuerpause überhaupt beschlossen wurde, ist das denn ein Schritt in Richtung einer Lösung des Konflikts in Syrien, der sich ja im Moment vor allem auf diese Rebellengebiete fokussiert?
Lüders: Na ja. Eine Lösung, das ist sicher zu viel gesagt. Aber es wäre sicherlich gut, wenn ein Großteil der Bevölkerung evakuiert werden könnte. Diese Kämpfe um Ost-Ghuta sind aus strategischer Sicht wichtig, denn es ist die vorletzte Region in Syrien, neben Idlib im Norden des Landes, die noch gehalten wird von islamistischen Aufständischen, insbesondere von Kämpfern aus dem Umfeld der Jaysh al-Islam, wie wir gerade gehört haben.
Das ist der syrische Ableger von El-Kaida. Und diese Dschihadisten will die syrische Armee, will auch der russische Verbündete besiegt sehen, und wenn das gelingt, dann ist der syrischen Regierung, dem syrischen Regime unter Assad es gelungen, einen Großteil Syriens wieder unter die eigene Kontrolle zu bringen, mit Ausnahme einiger entlegener Wüstengebiete und der Kurden-Gebiete im Norden des Landes entlang der türkischen Grenze.
"Islamisten haben kein Interesse daran, diese Leute nun abziehen zu lassen"
Kaess: Jetzt haben wir gerade auch in dem Bericht gehört, dass der Korridor in Ost-Ghuta offenbar kaum genutzt wird. Haben Sie eine Vermutung, warum?
Lüders: Na ja. Es ist natürlich schwierig für die Leute, diese Region zu verlassen, denn die Kämpfer der Islamisten haben kein Interesse daran, diese Leute nun abziehen zu lassen, denn es sind ja gewissermaßen Schutzschilde. Wenn es die nicht mehr gibt, dann wird natürlich das Bombardement noch zunehmen.
Kaess: Das würde sich decken mit den russischen Angaben, die auch davon ausgehen, dass die Extremisten, die auch – so wird es gesagt von russischer Seite – Verbindungen zum Terrornetzwerk El-Kaida haben, und auch einige Rebellengruppen, dass die die Zivilisten daran hindern zu fliehen. Das halten Sie für plausibel?
Lüders: Ja, das ist auf jeden Fall plausibel. Natürlich wird es auch viele Menschen geben in dieser Region, die Angst davor haben, in die Gebiete zurückzukehren, die von Assad kontrolliert werden. Aber andererseits muss man auch sachlich feststellen, dass nach der Rückeroberung Ost-Aleppos im Dezember 2016 im Verlaufe der ersten sechs Monate 2017 rund 300.000 Menschen wieder zurückgekehrt sind in das zerstörte Ost-Aleppo, und sie haben vonseiten des Regimes keine Verfolgung erfahren.
Dessen ungeachtet muss man ganz klar sagen, die Gefechtslage in Syrien ist natürlich komplex und unübersichtlich. Wir neigen dazu, diesen Konflikt überwiegend in einem Gut-Böse-Schema wahrzunehmen, und dieses Gut-Böse-Schema führt nicht weiter. Es gibt keine Guten in diesem Krieg in Syrien. Alle Kriegsparteien, ob innersyrisch oder Kriegsparteien, die von außen einwirken, verfolgen ihre eigene Agenda ohne Rücksicht auf Verluste in der Zivilbevölkerung.
"In Syrien erleben wir auch einen Stellverteter-Krieg"
Kaess: Das ist wahrscheinlich eine sehr schwierige Frage, die ich Ihnen aber trotzdem stellen möchte. Was glauben Sie denn, wie eng die Verflechtung von islamistischen Terroristen in diesen Rebellengebieten und der Bevölkerung ist? Kann man das überhaupt irgendwie auseinanderhalten?
Lüders: Das kann man ganz schwer von außen ermessen. Aber die meisten dieser islamistischen Kämpfer sind Kämpfer, die entweder aus dem Ausland, namentlich aus dem Irak eingesickert sind, oder es sind Leute ohne Perspektive, vor allem verarmte Sunniten, die sich haben anheuern lassen. All diese dschihadistischen Milizen, die es in Syrien gibt, sind ja nicht aus dem Nichts entstanden. Sie haben in der syrischen Bevölkerung eher weniger Resonanz. Bis zu Kriegsbeginn war Syrien ein weitgehend säkularer Staat. Aber Länder wie die Türkei oder Saudi-Arabien haben viel Geld gepumpt in den syrischen Widerstand gegen das Assad-Regime, haben Löhne gezahlt, haben Waffen geliefert und somit die Kämpfe am Leben erhalten.
Und das ist ja nicht nur ein innersyrischer Konflikt, der hier stattfindet in Syrien, sondern in Syrien erleben wir auch einen Stellvertreterkrieg. Dieser Stellvertreterkrieg, der ist mittlerweile zumindest für den Moment "gewonnen" worden von dem syrischen Regime, von Russland und von dem Iran, im Hintergrund auch China. Sie haben es geschafft, dass das Assad-Regime nicht gestürzt wurde, womit die Versuche der USA, der Europäischen Union, Saudi-Arabiens und der Türkei gescheitert sind, neue Verhältnisse in Syrien zu schaffen und dort vor allem den Iran und dessen wachsenden Einfluss zu schwächen.
Kaess: Herr Lüders, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann würden Sie tatsächlich sagen, im Moment beschränkt sich der Widerstand gegen das Assad-Regime in der Bevölkerung nur noch auf die Rebellengebiete, die Sie genannt haben, beziehungsweise die Kurden-Gebiete im Norden des Landes.
Lüders: Die meisten Syrer versuchen, angesichts der Tragödie, die sich in ihrem Land in den letzten Jahren ereignet hat, vor allem zu überleben. 23 Millionen Einwohner hat das Land. Davon sind die Hälfte geflüchtet. Rund fünf Millionen sind syrische Binnenflüchtlinge. Sie haben sich in die Gebiete geflüchtet, die unter Assads Kontrolle stehen.
Es gibt natürlich nach wie vor große Unzufriedenheit über das Assad-Regime, aber vielen Syrern erscheint die Pest dessen, was sie seit Jahren und seit Jahrzehnten kennen, doch erträglicher als die Cholera dessen, was möglicherweise folgen könnte. Es würde ja in Syrien nach einem Sturz des Assad-Regimes nicht Freiheit und Demokratie obsiegen, sondern andere Gruppierungen an die Macht bringen, vor allem radikale Islamisten, die ihrerseits kurzen Prozess machen würden mit den Widersachern, allen voran den religiösen Minderheiten.
Das ist auch der entscheidende Grund dafür, warum diese religiösen Minderheiten, darunter auch die Christen, nach wie vor Assad unterstützen. Es ist sachlich nicht richtig zu behaupten, dass die gesamte syrische Bevölkerung einen verzweifelten Freiheitskampf gegen das syrische Regime führen würde. Das tut vielleicht die Hälfte der Bevölkerung. Sie lehnt dieses Regime ab. Aber der Rest steht dahinter, nach wie vor, aus Mangel an Alternativen, und eine zivile Alternative ist im Augenblick nicht in Sicht.
"Wie so häufig in solchen Fällen gibt es schmutzige Deals"
Kaess: Dann gibt es aber auf der anderen Seite trotzdem immer noch den offenen Widerstand der Rebellen. Wir haben jetzt immer wieder eine Diskussion über den Abzug und sicheres Geleit eventuell für die Widerstandskämpfer. Wohin sollten die denn eigentlich gehen, selbst wenn sie aus diesen Rebellenhochburgen rauskämen?
Lüders: Die Frage ist sehr berechtigt und natürlich wissen die Dschihadisten, die in Ost-Ghuta sitzen, dass sie quasi in der Falle sind. Sie können ihren Krieg nicht gewinnen und wie so häufig in solchen Fällen gibt es schmutzige Deals. Diese Rebellen werden über kurz oder lang abziehen können, wahrscheinlich in die Region Idlib. Die Region Idlib, dorthin sind auch die Kämpfer abgezogen worden, die in Ost-Aleppo verlassen haben. Aber sobald Ost-Ghuta erobert sein wird – das ist eine Frage von wenigen Wochen, das wird passieren -, danach wird das syrische Regime sich die Region Idlib vorknöpfen und wird die dortigen Dschihadisten, die noch da sind (man schätzt die Zahl auf etwa 10.000) versuchen, militärisch niederzuschlagen.
Das wird ebenfalls wieder viele Tote bedeuten. Die Schmutzigkeit der Deals kann man daran ermessen, dass diese Dschihadisten in Idlib, aber auch in Ost-Ghuta maßgeblich von Saudi-Arabien und der Türkei unterstützt werden. Aber um diese Aufständischen bekämpfen zu können, braucht man natürlich das Okay der Türkei. Vor allem die Russen brauchen das, weil sie ja mit der Türkei zusammenarbeiten. Der Deal läuft darauf hinaus zu sagen, okay, ihr, liebe Türken, könnt in Nord-Syrien, in den Kurden-Gebieten machen, was ihr wollt, aber gebt uns freie Hand, gegen die Terroristen in Idlib oder in Ost-Ghuta vorzugehen, und die USA haben das ohnehin schon abgesegnet, dieses Vorgehen der Türkei gegenüber den Kurden.
"Assad wird an der Macht bleiben"
Kaess: Noch kurz zum Schluss, Herr Lüders. Sie sagen, Assad sitzt wieder fest im Sattel? Der Krieg in Syrien ist eigentlich entschieden?
Lüders: Im Prinzip ist der Krieg insoweit entschieden, als der Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und den Russen auf der anderen Seite und dem Iran entschieden worden ist zugunsten von Baschar al-Assad. Er bleibt an der Macht, er wird an der Macht bleiben. Aber die nächsten Konfliktlinien zeichnen sich ab. Die werden auch in Syrien wahrscheinlich ausgetragen werden. Das ist der sich anbahnende Konflikt zwischen den USA, Israel und Saudi-Arabien einerseits und dem Iran und Russland andererseits. Der wird sich noch verschärfen und zunehmen.
Kaess: … sagt der Nahost-Experte Michael Lüders. Danke für Ihre Einschätzungen heute Mittag.
Lüders: Vielen Dank.
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