Dirk-Oliver Heckmann: Schwerer Rückschlag für die Syrien-Verhandlungen in Genf. Der UNO-Sondergesandte hat gestern mitgeteilt, dass die Gespräche für drei Wochen ausgesetzt werden, nach wie vor ist man sich überhaupt nicht einig, wer überhaupt mit am Tisch sitzen soll. Zudem geht die Bombardierung von Anti-Assad-Kräften durch die russische Luftwaffe intensiv weiter. Auch in London steht die Lage in Syrien und den Anrainerstaaten oben auf der Agenda bei einer Geberkonferenz, zu der unter anderem Großbritannien und Deutschland eingeladen haben. Für die Kriegsopfer werden Milliarden Euro benötigt und Deutschland geht da jetzt voran.
Am Telefon ist jetzt Kristin Helberg, Nahost-Expertin, sie hat jahrelang selbst in Syrien gelebt. Schönen guten Tag, Frau Helberg!
Kristin Helberg: Guten Tag, Herr Heckmann!
Heckmann: Frau Helberg, die Staatengemeinschaft war in der Vergangenheit ja sehr zögerlich, was die finanzielle Unterstützung angeht für die Millionen Flüchtlinge, die sich in Syrien aufhalten, und auch für die, die außer Landes geflohen sind. Haben Sie die Hoffnung, dass sich das jetzt ändert?
Helberg: Ich denke, es wird tatsächlich mehr Geld zusammenkommen, und Geld ist tatsächlich die Grundlage erst mal für eine Verbesserung der Situation der Syrer. Wir müssen wegkommen – das wurde gerade schon angedeutet – von einer kurzfristigen Nothilfe, denn die Menschen leben ja zum Teil schon seit zwei, drei Jahren unter ganz schlimmen Bedingungen vor allem im Libanon, in Jordanien, auch zum Teil in der Türkei. Wir brauchen jetzt mittelfristige Strategien, wir müssen den Syrern vor allem eine Perspektive geben, das bedeutet, dass die Menschen Arbeit finden müssen, die Kinder in die Schulen gehen, wir brauchen auch Zugang zu den Universitäten, zu einer medizinischen Versorgung. Das heißt, die Menschen müssen jetzt in diesen Aufnahmeländern der Region wirklich integriert werden auch in einen Alltag und in ein normales Leben, damit sie sich eben nicht mehr auf den Weg machen nach Europa. Das ist ja unser großes Ziel bei dieser Geberkonferenz im Hintergrund. Dafür braucht es natürlich auch eine große auch finanzielle Anstrengung.
Heckmann: Was ist denn der Grund für Sie, aus Ihrer Sicht, dass die internationale Gemeinschaft bisher da so zögerlich war? Denn die Folgen – Sie sagen es ja –, diese riesigen Flüchtlingsbewegungen, die sind ja zu spüren?
Helberg: Man hat es unterschätzt, man hat sich an diesen Syrien-Konflikt gewöhnt und man ist erst aufgewacht, als die Syrer jetzt in Europa standen, vor allem eben nach Deutschland gekommen sind. Und was jetzt sehr wichtig ist und, ich glaube, was tatsächlich zu kurz kommt bei dieser Konferenz, ist, dass wir eigentlich die Gelder, die wir vergeben wollen, auch an politische Forderungen knüpfen müssen. Zum Beispiel im Libanon gibt es seit Januar 2015 ein Gesetz, wonach jeder Syrer, der seinen Aufenthalt verlängern möchte, einen Arbeitsvertrag vorlegen muss. Er darf aber gar nicht arbeiten im Libanon, wodurch Hunderttausende Syrer im Libanon illegal geworden sind. Das heißt, wir haben eine Familie in der Bekaa-Ebene, dort sind wilde Camps entstanden, dort leben Hunderttausende Syrer und diese Familie gibt mehrere Hundert Dollar aus, um sich aus Holz und Planen ein Zelt, ein Haus zu bauen. Dann kommt eine Nichtregierungsorganisation, baut dort noch eine Schule und drei Monate später kommt das libanesische Militär, erklärt das Gelände zum militärischen Sperrgebiet und alles wird zerstört und aufgelöst. Das ist staatliche Willkür, diese Gesetze muss man ändern. Und das ist glaube ich wichtig, dass man in Jordanien und im Libanon speziell, wo Syrer eben offiziell nicht arbeiten dürfen bisher, auch die Gesetzeslage verändert. Und der Libanon ist eben kein Rechtsstaat, das ist eigentlich gar kein funktionierender Staat, kein Präsident seit Jahren, insofern muss man auch da die Möglichkeiten schaffen und natürlich auch im Libanon die Möglichkeit schaffen, damit fertig zu werden. Wir haben die Zahlen gehört, natürlich haben vier Millionen Libanesen Angst vor so vielen Flüchtlingen, aber das ist glaube ich dringend, dass man nicht nur jetzt Geld hineinpumpt, sondern auch guckt, wie wird es sinnvoll eingesetzt.
"Assad ist in einer Position der Stärke"
Heckmann: Wie muss man sich denn insgesamt die Lage in den Flüchtlingslagern derzeit vorstellen? Es gab ja diese Kürzung der Lebensmittelration, weil ja die internationalen Geldgeber ihre Versprechen nicht umgesetzt haben. Wie ist da derzeit der Stand?
Helberg: Das ist unterschiedlich. In Jordanien haben wir riesige Wüstencamps mit mehreren Hunderttausend Menschen, die zwar funktionieren wie kleine Städte, aber auch dort hält man es aus einige Monate, womöglich ein Jahr, aber Menschen, die jetzt keine Hoffnung haben, in den nächsten fünf Jahren in ihr Land zurückzukehren – und die Hoffnungen sind eigentlich so gut wie gestorben –, die wollen auch dort nicht ausharren. Im Libanon gibt es gar keine Lager nicht mal, sondern diese wilden Camps, die ich beschrieben habe, in der Türkei sind die Menschen auch nicht in Lagern, die erstaunlich gut sind in der Türkei, sondern sie schlagen sich durch in den Großstädten, indem sie betteln, indem sie Hilfsjobs annehmen für wenige Dollar pro Stunde. Das ist eine Ausbeutung, ein System der Ausbeutung, das auch noch entstanden ist. Das heißt, darum geht es jetzt, den Menschen wirklich eine Perspektive zu geben und nicht einfach nur schönere Lager zu bauen.
Heckmann: Müssen wir uns trotzdem darauf einstellen, dass sich mehr Menschen, wieder mehr Menschen auf den Weg machen nach Europa?
Helberg: Wenn nicht ein politischer Druck entsteht, womöglich ein militärischer Druck, entscheidende Dinge in Syrien zu verändern, dann müssen wir uns darauf einstellen. Und es ist interessant, dass die 90 internationalen Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, die in London gerade einen Appell verfasst haben, an zweiter Stelle die Forderung stellen: Schutz von Zivilisten in Syrien, ein Ende der Bombardierung von Krankenhäusern, Schulen und Wohngebieten, ein Ende dieser Strategie der Abriegelungen, die vor allem vom Assad-Regime ausgeht, und den Zugang für humanitäre Hilfe. Wissen Sie, das sind die gleichen Forderungen, die wir seit Wochen und Monaten hören, es sind die gleichen Forderungen, zu denen es UNO-Resolutionen gibt, die nicht umgesetzt werden, und das sind die gleichen Forderungen, die übrigens die Opposition in Genf gestellt hat, um überhaupt einen politischen Prozess in Gang zu bringen. Weil ...
Heckmann: Wollte ich gerade sagen: In Genf sind die Verhandlungen jetzt abgebrochen worden, zumindest für drei Wochen, und zwar wegen dieser militärischen Aktion auch des Assad-Regimes, unterstützt durch russische Kräfte. Wie alarmierend sind diese Meldungen aus Genf für Sie?
Helberg: Das ist einerseits alarmierend, Staffan de Mistura, der UNO-Sondergesandte sagt zu Recht, es ist nicht das Ende der Verhandlungen, es ist auch nicht das Scheitern der Verhandlungen. Aber es ist klar geworden, dass unter den jetzigen Bedingungen Gespräche keinen Sinn machen. Denn man kann nicht von einer Opposition verlangen, sich an einen Tisch zu setzen mit dem Regime und so zu tun, als gäbe es Diskussionen über einen politischen Übergang, wenn im Land nach wie vor Zivilisten sterben unter den Bomben Assads und Russlands und Menschen ausgehungert werden. Das sind die Forderungen. Und die UN, Staffan de Mistura hat selbst gesagt: Das sind legitime Forderungen, die dürfen gar nicht Verhandlungsmasse sein, die müssen eigentlich erfüllt werden. Und deswegen ist jetzt entscheidend der Druck, der entstehen muss auf Russland und auf das Assad-Regime, zu sagen: Wenn ihr verhandeln wollt, müsst ihr erst mal aufhören, Zivilisten zu bombardieren, und humanitäre Hilfslieferungen zulassen.
"Der Druck muss von den USA und den Freunden Syriens ausgehen"
Heckmann: Wie kann dieser Druck aussehen?
Helberg: Der Druck muss von den USA und den sogenannten Freunden Syriens ausgehen. John Kerry hat immerhin jetzt gesagt, dass er in erster Linie das Regime und Russland gerade in der Verantwortung sieht für diesen Abbruch der Gespräche, wegen der anhaltenden Luftangriffe. Militärisch werden Fakten geschaffen, weil Assad in einer Position der Stärke ist, seit der russischen Intervention hat er entscheidende Gebiete zurückgewonnen, jetzt gerade im Norden die Provinzen Idlib und Aleppo. Aleppo droht aus Sicht der Opposition eingekesselt zu werden, dieser oppositionskontrollierte Teil, das sind schwere Verluste. Und da kann man natürlich nicht von den gleichen Rebellenführern, die jetzt in Genf waren, verlangen, mit Assad zu verhandeln, während sie am Boden gerade massiv bekämpft werden.
Heckmann: Das stimmt, aber Sie sagen selber: Assad ist in der Position der Stärke. Weshalb also sollte er von der Strategie abrücken, seine Militäroperation fortzusetzen und weiterzukämpfen?
Helberg: Er wird nicht davon abrücken, solange er mit Russlands Unterstützung und der Unterstützung des Irans im Land mehr oder weniger machen kann, was er will. Dazu brauchen wir ein Gegengewicht, wir brauchen einen Druck, der entsteht, auch einen militärischen Druck, und der muss vom Westen, von den USA und eben diesen ... eigentlich den Ländern ausgehen, die die Opposition vermeintlich unterstützen und die jetzt aber in der aktuellen Lage nicht bisher diesen Druck haben spüren lassen, auch selbst Russland nicht. Und insofern braucht es da ein gewisses wahrscheinlich auch militärisches Engagement, um womöglich auch Zivilisten zu schützen im Land. Das fordern ja auch die zivilgesellschaftlichen Gruppen seit Langem, das fordern eben auch diese 90 Hilfsorganisationen in London. Insofern schließt sich da der Kreis. Solange wir die Menschen in Syrien nicht schützen, womöglich mit Flugverbotszonen, womöglich mit Bombenverbotszonen, werden die Menschen weiter fliehen und dann bringen uns auch 8,3 Milliarden Euro, die gerade versprochen werden, nichts, wenn wir Fluchtursachen wirklich effektiv bekämpfen wollen.
Heckmann: Sie fordern mehr Druck, mehr Druck auf Syrien, aber auch Druck auf Russland. Aber was sind die Druckmittel?
Helberg: Die Druckmittel wären, dass zum Beispiel die USA Herrn Lawrow sagen: Wir wollen gemeinsam den Terror bekämpfen, den IS in Syrien – können wir gemeinsam definieren, wo wir angreifen und wo wir nicht mehr bombardieren? Und dann muss man Gebiete festlegen, in denen Rebellen zwar gegen das Assad-Regime kämpfen, diese Kämpfe müssen auch eingestellt werden, ganz wichtig für Waffenstillstände, und in denen darf dann weder das Assad-Regime noch die russische Luftwaffe Bombenangriffe fliegen, weil vor allem Zivilisten sterben und eben Rebellengruppen angegriffen werden, die eigentlich Partner sein sollen im Kampf gegen den IS. Das muss man den Russen abringen, eine solche Definition von Gebieten, und die erklärt man zu Bombenverbotszonen. Das ist das, was seit Längerem diskutiert wird, wozu sich aber keiner bereitgefunden hat. Und wenn wir jetzt sehen, dass in Genf diese Friedensgespräche gar nicht begonnen haben tatsächlich, sondern eben an diesen Forderungen gescheitert sind zum jetzigen Zeitpunkt, und wenn wir sehen, dass das, was womöglich in London versprochen wird, gar nicht viel nützt, weil, wenn von 8,3 Milliarden Euro nicht ein Cent ankommt bei den Menschen, die hungern in den abgeriegelten Gebieten in Syrien, dann läuft eben auch was falsch bei dieser ganzen humanitären Geschichte.
"London vermittelt in gewisser Weise Optimismus"
Heckmann: Frau Helberg, eine Frage zum Abschluss: Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen stellt die Behauptung auf, der sogenannte Islamische Staat sei in der Lage, Chemiewaffen herzustellen, und habe mutmaßlich Senfgas in Syrien und im Irak eingesetzt. Haben Sie dafür irgendwelche Hinweise oder halten Sie das für möglich und wahrscheinlich?
Helberg: Es gibt, glaube ich, einen Bericht schon dieser Organisation, der eben nachgewiesen hat, dass an einem Ort, glaube ich, war es, Senfgas eingesetzt wurde, wo der IS angegriffen hatte. Es gibt daneben übrigens einige Orte, in denen Saringas und Senfgas (Anmerkung der Redaktion: Frau Helberg merkt an, dass sie Chlorgas gemeint habe) nach wie vor eingesetzt wird durch das Regime, auch das ist belegt. Wir haben diese Belege immer durch Berichte von Aktivisten und Ärzten in den Gebieten, also, unabhängige Beobachter kommen nicht rein nach Syrien, wir müssen uns auf das verlassen, was vor Ort eben Gruppen, Ärzte und so etwas transportieren. Ich halte es für möglich, ich halte es für wahrscheinlich und ich halte es für tatsächlich belegt, dass diese chemischen Waffen nach wie vor zur Anwendung kommen, überwiegend durch das Assad-Regime, aber auch schon in Einzelfällen durch den IS.
Heckmann: Und was könnte dagegen unternommen werden?
Helberg: Das muss natürlich aufhören, auch da gibt es UN-Resolutionen. Es gibt eine eigene UN-Resolution, die besagt, dass Saringas (Anmerkung der Redaktion: Frau Helberg merkt an, dass sie Chlorgas gemeint habe) auch unter dieses Chemiewaffengesetz fällt, wenn es eben in kriegerischer Absicht eingesetzt wird. Diese UN-Resolution muss man erst mal umsetzen. Dazu ist bislang keiner bereit und das ist aus Sicht der Syrer komplett unverständlich. Für sie hat die internationale Gemeinschaft schon lange komplett die Glaubwürdigkeit verloren.
Heckmann: Insgesamt gehen Sie jetzt optimistischer in die nächsten Wochen oder sehen Sie keinen Grund für Optimismus, was die Lage in Syrien angeht?
Helberg: Ich denke, London vermittelt in gewisser Weise Optimismus, weil die Menschen verstanden haben, wie man in der Nachbarschaft Syriens helfen muss, wie man da den Syrern helfen kann. Ich hoffe, dass die nötigen Gelder nicht nur gezahlt werden, sondern auch entsprechend sinnvoll eingesetzt werden in diesen Nachbarländern. Das gibt Hoffnung. Ich habe wenig Hoffnung, was die Lösung dieses Konfliktes betrifft, wenn wir nicht bis zum 25. Februar – da soll es weitergehen in Genf – die Bereitschaft sehen des Westens, Russland so weit unter Druck zu setzen und das Assad-Regime, dass tatsächlich erst mal Bombenangriffe eingestellt werden und humanitäre Hilfslieferungen zugelassen werden. Es gibt ja seit Wochen die Forderung, 1,7 Millionen Menschen in Syrien zu versorgen. Stephen O'Brien, der Nothilfekoordinator der UNO hat das gefordert, es ist kein einziger Konvoi bisher genehmigt worden. Deswegen die Forderung, auch ohne Genehmigung der Regierung in Damaskus diese Konvois auf den Weg zu schicken und notfalls Hilfe aus der Luft abzuwerfen. Denn wir brauchen keine Genehmigung von Damaskus, denn es gibt ja UNO-Revolutionen.
Heckmann: Die Syrien-Expertin Kristin Helberg war das live hier im Deutschlandfunk. Frau Helberg, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Helberg: Ja, ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.