Aleppo gilt als zentrale Stadt im Syrienkonflikt. Um die Stadt bahne sich eine Entscheidungsschlacht an. Die Rückeroberung Ost-Aleppos durch die russische und syrischen Armee würde eine entscheidende Wende im syrischen Krieg darstellen. "Alle Hoffnungen, Assad von der Macht zu verdrängen, sind dann Vergangenheit", sagte der Politik- und Islamwissenschaftler Michael Lüders im Deutschlandfunk.
Mit der Rückeroberung der Stadt sei dann fast die gesamte Hauptverkehrsachse von der türkischen bis zur jordanischen Grenze in Händen der Regierungstruppen. Dadurch könnte der Nachschub für die Terroristen vollens abgeschnitten werden. "Das ist von großer strategischer Bedeutung", betonte Lüders.
Über 30 verschiedene Gruppierungen hätten sich dort verschanzt. "In Aleppo sind es fast ausnahmslos Islamisten, die den Ton angeben – die Nusra-Front und der Islamische Staat", sagte Lüders. Man könne hier nicht von Rebellen sprechen, sondern es handle sich um eine Form des Widerstandes, der geprägt sei von Islamisten. "Es sind in erster Linie Islamisten, die mindestens mit der selben Brutalität vorgehen, wie es die Truppen von Assad auch tun." Lüders rechnet mit einer länger dauernden und auch "sehr blutigen" Rückeroberung, die für die Bevölkerung eine tragische Wende nehmen könnte.
In Aleppo sind 300.000 Menschen eingekesselt. Inzwischen sollen sieben Korridore für humanitäre Hilfe eingerichtet worden sein. Nach russischen Berichten haben etwa 400 Menschen die humanitären Korridore zur Flucht genutzt. "Das Hauptproblem scheint weniger zu sein, dass die syrische Regierung und die Regimetruppen die Flüchtlinge nicht ausreisen lassen, sondern die Islamisten sie nicht ziehen lassen, weil sie ein Faustpfand – ihre Geiseln – verlieren", so Lüders. Diese Korridore habe es zum ersten Mal gegeben, es sein nicht ungefährlich sie zu benutzen.
Das Interview in voller Länge:
Thielko Grieß: Die Situation in Aleppo, in der Kämpfe wieder aufgeflammt sind, heftiger geworden sind wohl in den letzten Tagen, die wollen wir jetzt analysieren und thematisieren mit Michael Lüders, dem Nahostexperten in Berlin. Herr Lüders, guten Abend!
Michael Lüders: Schönen guten Abend, hallo!
Grieß: Es heißt, wer Aleppo beherrscht, der hat gute Chancen auf einen Sieg in diesem syrischen Bürgerkrieg. Stimmt das noch?
Lüders: Zum Teil ist das durchaus richtig. Aleppo ist die ehemalige Wirtschaftsmetropole Syriens und es gibt seit Jahren Kämpfe. Aleppo war eine geteilte Stadt, der Westen wurde von den Regierungstruppen kontrolliert, der Osten von verschiedenen islamistischen Rebellengruppen. Und nunmehr bahnt sich eine Entscheidungsschlacht um diese zentrale und wichtige syrische Stadt an. Wenn es der syrischen Armee und ihren russischen Verbündeten gelingt, Ost-Aleppo zurückzuerobern, dann bedeutet das eine entscheidende Wende im syrischen Krieg. Damit ist alle Hoffnung, Assad doch noch irgendwie von der Macht zu verdrängen, dann erst einmal Vergangenheit.
Grieß: Weite Teile dieser Stadt, so nehmen wir es wahr hier in Deutschland, liegen in Schutt und Asche, sind zertrümmert, zerbombt. Warum ist so ein Trümmerhaufen ... Ich will nicht zynisch klingen, aber warum ist so ein Trümmerhaufen immer noch strategisch wertvoll?
Lüders: Wer Aleppo kontrolliert, kontrolliert einen großen Teil der Zufahrtswege im Norden Syriens, kontrolliert die Wege in Richtung türkische Grenze und natürlich auch die Zufahrtsstraßen in Richtung Damaskus und weiter in Richtung Jordanien.
Wenn es der syrischen Armee gelingt, Aleppo zurückzuerobern, dann ist quasi fast die gesamte Hauptverkehrsachse von der türkischen bis zur jordanischen Grenze wieder unter Kontrolle der Regierungstruppen. Und das bedeutet, dass das Regime entsprechend dem Widerstand, den Aufständischen, den Terroristen je nach Perspektive den Nachschub vollends abschneiden kann. Es ist also von großer strategischer Bedeutung. Wenn es der syrischen Armee gelingen sollte, den Osten Aleppos zurückzuerobern – und das wird ihr über kurz oder lang gelingen, da alle Zufahrtswege abgeriegelt sind –, dann ist im nächsten Schritt die Rückeroberung Rakkas, der Hauptstadt des Islamischen Staates, wahrscheinlich das nächste Projekt und sehr realistisch.
"Es wird länger dauern und sehr blutig werden"
Grieß: Danach wollte ich gerade fragen, zumindest nach der Konditionalität. Sie haben gesagt, wenn es der syrischen Armee gelingt, und dann, dass das wohl nur eine Frage der Zeit sei. Also, worauf muss man sich einstellen? Monate? Wochen? Oder doch nur wenige Tage? Was denken Sie?
Lüders: Das hängt davon ab, wie sich die Lage der Zivilbevölkerung darstellt. Es gibt etwa 300.000 Menschen, die im Osten Aleppos leben, und die islamistischen Kämpfer, die sich dort verschanzt haben – es sind insgesamt über 30 verschiedene Gruppierungen und Grüppchen, die stärksten Fraktionen sind die Nusra-Front, die mit Al Kaida bis vorgestern liiert war und jetzt mit Al Kaida gebrochen hat angeblich, und der Islamische Staat –, wenn also diese Gruppierungen nicht bereit sein sollten, die Zivilbevölkerung ziehen zu lassen, dann wird es lange dauern und auch sehr blutig werden.
Die Islamisten haben natürlich kein Interesse daran, die Zivilbevölkerung ziehen zu lassen, denn dann würden Russen und die syrische Armee den Osten Aleppos in Schutt und Asche legen und damit wäre der Krieg dann entschieden, zumindest in Aleppo. Also wird es wohl wahrscheinlich länger dauern und sehr blutig werden und für die Bevölkerung eine tragische Wendung nehmen.
"Zivilisten sind Faustpfand der Islamisten"
Grieß: Das heißt, diese Fluchtkorridore, die angeboten worden sind von russischer Seite, von syrischer Seite, das sind eigentlich glaubwürdige Angebote gewesen?
Lüders: Es hat zum ersten Mal diese Fluchtkorridore gegeben. In der Vergangenheit war das syrische Regime sehr unwillig, die einzurichten, aber der Druck der Russen war sehr groß auf die syrische Führung, hier nun Entgegenkommen zu zeigen.
Ob diese Korridore nun wirklich immer der Weisheit letzter Schluss sind, ist natürlich eine andere Frage, es ist auch nicht ungefährlich, sie zu benutzen.
Aber das Hauptproblem im Augenblick scheint weniger zu sein, dass die syrische Regierung und die Regimetruppen die Flüchtlinge nicht ausreisen lassen wollten, als vielmehr der Umstand, dass die Islamisten sie nicht ziehen lassen, weil sie damit ein Faustpfand, wenn man so will, ihre Geiseln verlieren.
Grieß: Damit wären wir bei medialer Wortwahl: Sollten wir, Herr Lüders, wenn wir über die Gegner der syrischen Armee und der Russen sprechen, nicht von Rebellen sprechen, sondern von Islamisten?
Lüders: Auf jeden Fall. Wir sind ein bisschen in der westlichen Wahrnehmung Opfer unserer eigenen Glaubensinhalte. Es war immer die Rede von einer gemäßigten syrischen Opposition, die auch in Syrien kämpfen würde. Das mag am Anfang auch so der Fall gewesen sein, ist aber seit Jahren nicht mehr so.
In Aleppo sind es fast ausschließlich Islamisten, die den Ton angeben, wie gesagt, die Nusra-Front und der Islamische Staat. Und hier von Rebellen zu sprechen ... Gut, im abstrakten Sinne sind sie das, aber es sind in erster Linie Islamisten, die nach allem, was wir wissen, auch nach Berichten, die Amnesty International vorgelegt hat, mindestens mit derselben Brutalität und Grausamkeit gegen die Bevölkerung vorgehen, wie es die Truppen von Assad auch tun. Es handelt sich hier um eine Form des Widerstandes, der geprägt ist von, ja, man muss sagen: islamistischen Terroristen. Und eigentlich, nüchtern besehen muss man sagen, dass es auch im Sinne des Westens ist, wenn der Vormarsch des Islamischen Staates auch in Aleppo gestoppt wird. Da aber dieser Sieg – in Anführungsstrichen –, wenn er denn eintreffen sollt, der syrischen Regierung, dem syrischen Regime und den Russen zuzuschreiben wäre, hält man sich natürlich im Westen damit sehr bedeckt.
"Gemäßigte Rebellen sind in Aleppo so gut wie nicht mehr vorhanden"
Grieß: Also, wir halten fest: Gemäßigte Rebellen gibt es nicht mehr?
Lüders: In Aleppo jedenfalls sind sie so gut wie nicht mehr vorhanden. Und auch in den anderen Landesteilen spielen sie keine Rolle mehr in militärischer oder in politischer Hinsicht.
Es ist so, dass diejenigen Kräfte, die jetzt in Syrien noch gegen das Regime von Baschar al-Assad kämpfen, zu überwiegender Mehrzahl oder fast ausschließlich aus islamistischen Rebellengruppen bestehen, die zu einem erheblichen Teil aus dem Ausland, aus der Türkei, Saudi-Arabien, Jordanien und den USA finanziert werden, wobei es die absurde Konstellation gibt, dass teilweise aus den USA Gruppen finanziert werden, die sich gegenseitig bekämpfen, weil die verschiedenen Dienststellen nicht genau wissen, wen sie da eigentlich finanzieren.
Über 1.000 Gruppen und Grüppchen kämpfen in Syrien und der Kampf wird noch lange, lange weitergehen, denn es gibt zu viele Akteure von außen, die überhaupt kein Interesse daran haben, dass der Konflikt sich wieder beruhigt und am Ende Assad und seine russischen und iranischen Verbündeten de facto als Sieger dastehen.
"Es ist ein sehr schmutziges Geschäft, das hier in Syrien gespielt wird"
Grieß: Machen wir das noch mal konkret: Wer hat kein Interesse daran, dass dieser Konflikt endet?
Lüders: Es gibt sehr, sehr viele Akteure, die dieses nicht wollen. Die Türken wollen mithilfe des Islamischen Staates nach wie vor die Kurden im Norden Syriens schwächen, die Saudis wollen das Regime von Baschar al-Assad gestürzt sehen, das will auch die israelische Seite beispielsweise, die gleichzeitig erkennen lässt, dass sie den Islamischen Staat in Syrien für das geringere Problem hält als das Regime von Baschar al-Assad, weil dieses mit dem Iran liiert ist, und jede Schwächung des Irans diene den Interessen Israels und des Westens.
Es gibt darüber hinaus die Amerikaner, die Regierung Obama, die irgendwie noch immer einen Sturz von Assad will, aber längst verstanden hat, das ist nicht mehr zu machen, Außenminister Kerry macht eigentlich sehr pragmatische Deals mit den Russen, die dürfen aber nicht zu sehr in die Öffentlichkeit getragen werden, um den Republikanern keine Steilvorlage im Wahlkampf zu liefern.
Es ist also ein sehr schmutziges Geschäft, das hier in Syrien gespielt wird, und den Preis zahlt die syrische Bevölkerung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.