Syrien
Türkei gegen Autonomie: Zukunft der syrischen Kurden ungewiss

Nach dem Sturz Assads in Syrien schweigen in großen Teilen des Landes die Waffen. Im Norden greifen jedoch pro-türkische Milizen gezielt kurdische Gebiete an. Tausende Kurden sind bereits auf der Flucht. Können sie ihre Autonomie verteidigen?

    Tausende Kurden verlassen auf LKWS und in Autos ihre Heimatorte im Norden Syriens und ziehen Richtung Osten.
    Tausende Kurden in Syrien sehen sich gezwungen, ihre Heimatgebiete im Norden des Landes zu verlassen und Richtung Osten zu ziehen (IMAGO / NurPhoto / IMAGO / Rami Alsayed)
    Nach dem Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assads ist die Zukunft Syriens ungewiss. Während im Westen und Süden des Landes viele Menschen auf einen Neuanfang hoffen, ist der Nordosten, wo besonders viele Kurden leben, von Unsicherheit und Gewalt geprägt. Pro-türkische Milizen greifen gezielt die kurdischen Gebiete an. Mehr als 100.000 Kurden sind auf der Flucht in Richtung Osten. Die abnehmende Unterstützung internationaler Akteure wie der USA verschärft die Lage zusätzlich.

    Inhalt

    Welche Rolle spielen die Kurden in Syrien?

    Die Kurden bilden die größte ethnische Minderheit in Syrien. Während des Bürgerkriegs eroberten sie große Teile im Norden und Nordosten des Landes und errichteten dort autonome Strukturen. Diese Regionen, bekannt als Rojava (Westkurdistan), grenzen sich von den kurdischen Gebieten in der Türkei, dem Iran und dem Irak ab. Sie werden von der Partei der Demokratischen Union (PYD) verwaltet, die enge Verbindungen zur kurdischen Arbeiterpartei PKK in der Türkei unterhält.
    Die militärische Macht in den autonomen Gebieten liegt bei den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF), einem von Kurdenmilizen angeführten Bündnis. Die SDF kontrollierten zuletzt rund 30 Prozent des syrischen Staatsgebiets und waren ein zentraler Partner der US-geführten Koalition im Kampf gegen die dschihadistische Terrormiliz "Islamischen Staat" IS.
    Nach Assads Sturz hoffen die kurdischen Milizen auf einen politischen Neuanfang. „Diese Veränderung bietet eine Gelegenheit, ein neues Syrien aufzubauen auf der Grundlage von Demokratie und Gerechtigkeit“, erklärte der Kommandeur der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Maslum Abdi. Damit könnten „Rechte für alle Syrer garantiert“ werden.

    Warum greift die Türkei die kurdischen Gebiete in Nordsyrien an?

    Die Türkei verfolgt laut Politologe Ismail Küpeli zwei zentrale Ziele mit ihrem Vorgehen gegen die Kurden in Nordsyrien: die Schwächung der ideologisch verwandten kurdischen PKK im eigenen Land und die Verhinderung autonomer kurdischer Strukturen in der Region.
    Diese Haltung sei nicht neu, sagt Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey: „Die Türkei verfolgt ja schon zu Beginn des Bürgerkrieges in Syrien die Kurden und deren Fortschritte, die sie erlangt haben, einzuschränken, einzudämmen und die Strukturen, die zurzeit bestehen, komplett zu zerstören.“ Dieses Ziel wird durch die Unterstützung der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einem Bündnis islamistischer Milizen, vorangetrieben.
    „In der Tat hat diese sogenannte syrisch-nationale Armee, die von der Türkei unterstützt und ausgebildet wurde, die Städte Manbidsch und Tall Rifaat, die unter der Kontrolle der Kurden waren, westlich des Euphrats angegriffen und diese Städte eingenommen“, so Gürbey. Nach einer Waffenruhe kündigte der SDF-Kommandeur Maslum Abdi den Rückzug aus Manbidsch an. Dennoch könnten weitere Kämpfe in der Region ausbrechen, da die Türkei laut Experten die Kurdenmilizen weiter Richtung Osten drängen will, möglicherweise bis zur Grenzstadt Kobane.

    Vertreibung von Kurden

    Die türkischen Angriffe auf kurdische Gebiete in Nordsyrien haben laut Politikwissenschaftlerin Gürbey bis zu 100.000 Kurden zur Flucht in Richtung Osten gezwungen. „Diese Vertreibungen destabilisieren die Region zusätzlich,“ sagt sie.
    Die Türkei betrachtet die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete in Rojava als Bedrohung. "Solange Rojava, also diese kurdischen Selbstverwaltungsgebiete im Norden Syriens, bestehen bleiben, wird das türkische Vorgehen sich nicht grundsätzlich ändern“, ist sich Küpeli sicher. Ankara will jegliche Form Autonomie der Kurden verhindern und ihre militärischen Kräfte langfristig schwächen.
    Ob es zu einem längeren Krieg kommt, hängt laut Küpeli davon ab, wie sich internationale Akteure wie die USA und Russland verhalten werden. „Wenn man das türkische Vorgehen weiter dulden würde, dann wäre es sicherlich so, dass ein längerer Bodenoffensiv oder gar ein Krieg in Nordsyrien recht wahrscheinlich ist,“ so Küpeli.

    Wie stark sind die kurdischen Milizen?

    Die kurdischen Milizen in Syrien, vor allem die SDF, haben sich als militärisch stark erwiesen und spielten eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung des radikalislamischen IS. Ihre militärische Kraft wurde durch die Unterstützung der USA stark ausgebaut.
    Die kurdische Verteidigungseinheit YPG und die Fraueneinheit YPJ sind zentrale Milizen innerhalb der SDF. Die jungen Frauen der YPJ schlugen die IS-Kämpfer mit ihrer eigenen Ideologie. Frauen sind laut der Dschihadisten unrein, deshalb fürchteten die dschihastischen Terroristen die Kämpferinnen besonders. Wer von einer Frau getötet wird, kommt gemäß des Glaubens der Dschihadisten nicht mehr in den Himmel.
    Die Kurden haben nicht nur die Kontrolle über große Teile Nordsyriens übernommen, sondern diese auch relativ stabil gehalten. „Jetzt ist die große Frage, ob selbst eine so recht gut ausgestattete und ausgebildete Miliz gegenüber der Türkei bestehen kann“, sagt Politologe Küpeli.

    Wie stehen die Kurden zu den anderen Rebellengruppen in Syrien?

    Das Verhältnis der Kurden zu anderen Rebellengruppen in Syrien, insbesondere dschihadistischen Gruppierungen wie Hayat Tahrir al-Scham (HTS), ist von tiefen ideologischen und politischen Gegensätzen geprägt. HTS, die derzeit die Übergangsregierung stellt, verfolgt eine radikal-islamistische Agenda, während die Kurden in Rojava eine säkulare, pluralistische Selbstverwaltung anstreben.
    Die HTS, die aus der Al-Nusra-Front hervorgegangen ist, behauptet zwar, keine Verbindungen mehr zu Al-Kaida zu haben. Ihr Anführer Mohammed al-Dschaulani präsentiert sich moderat, doch viele westliche Staaten, darunter die USA, stufen die Miliz weiterhin als Terrororganisation ein.
    Mohammed al-Baschir, Chef der syrischen Übergangsregierung in Damaskus, sagte in einem Interview: „Gerade weil wir islamisch sind, werden wir die Rechte aller Menschen und aller Glaubensrichtungen in Syrien garantieren.“ Experten stellen die Glaubwürdigkeit solcher Aussagen jedoch infrage.
    Neben den Konflikten mit HTS und der SNA sehen sich die Kurden auch Angriffen aus dem Süden durch arabische Milizen gegenüber, darunter ehemalige Verbündete aus den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF), die sich von der YPG abgewandt haben und teils vom IS und seinen aktiven Schläferzellen unterstützt werden.

    Wie beeinflussen die USA und Israel die Entwicklung der kurdischen Gebiete?

    Internationale Akteure wie Russland, die USA, Israel und die Türkei sind jeweils mit eigenen Interessen in Syrien militärisch präsent und beeinflussen damit auch die Zukunft der kurdischen Gebiete. Ihre politischen und militärischen Entscheidungen prägen die Machtverhältnisse vor Ort.
    Die USA haben die Kurdenmilizen, insbesondere die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), lange unterstützt und dabei auch deren militärische Stärke ausgebaut. Washington hat selbst seit 2016 einen Stützpunkt in der Region Al-Tanf. Allerdings ist die amerikanische Unterstützung klar von eigenen strategischen Interessen geprägt: „Ob die Kurden dann eine gewisse, eine Art von Autonomie erhalten werden in einer Zukunftsfigurierung, das ist eine Frage von sekundärer Bedeutung für die Amerikaner", meint Politikwissenschaftlerin Gürbey. Priorität für die USA bleibe der Kampf gegen den IS, während kurdische Autonomiebestrebungen nachrangig seien.

    Israel stellt sich klar auf die Seite der Kurden

    Israel hat sich offen auf die Seite der Kurden gestellt, was ihre Position stärken, aber auch neue Spannungen in der Region weiter verschärfen könnte. „Der Aufstieg der islamistischen Kräfte in Syrien ist weder im Interesse der jüdischen Kurden noch im Interesse Israels. Dass man da versucht, dem entgegenzuwirken, ist verständlich“, sagt Küpeli. Derzeit seien Kooperation mit Israel im Nahen und Mittleren Osten unbeliebt. Dies könnte als Vorwand dienen, um die Kurden politisch zu diskreditieren oder militärisch anzugreifen.

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