Wenn uns die türkische Regierung mit dem Kurztrip vermitteln wollte, dass sie in Afrin für Ordnung und Sicherheit sorgt, ist das nur bedingt gelungen. Schwer bewaffnete Panzerfahrzeuge vor und hinter unseren Bussen sowie zahlreiche Checkpoints vermitteln nicht gerade das Gefühl von Normalität.
Unser kleiner Konvoi wählt auch nicht die Hauptstraße von der türkischen Grenze über Azzaz nach Afrin, sondern eine Nebenstrecke. Den Grund erfahren wir später von einheimischen Soldaten: ein Anschlag in Azzaz mit vier Toten. In Afrin detonierte drei Tage zuvor ein Sprengsatz, bestätigt uns Mohammend Khaled, 31 Jahre alt, Agraringenieur und Mitglied des neugewählten Staatsrats. Trotzdem sagt er:
"Es ist akzeptabel, hier zu leben. Tag für Tag wird es besser."
Berichte von den Wohltaten der türkischen Streitkräfte
Überall wimmelt es im Stadtzentrum von Sicherheitskräften - mal mit und mal ohne Uniform, aber stets mit schwerer Waffe, unter ihnen Araber, Kurden, Turkmenen, aber auch türkische Soldaten. Doch das soll sich nun ändern, erklärte Kahraman Haliscelik, Medienberater des türkischen Außenministers:
"Sie werden sehr schnell begreifen, dass Unterstellungen, die Türkei wolle dieses Land besetzen, nicht der Wahrheit entsprechen. So werden die türkischen Einheiten jetzt damit beginnen, das Stadtzentrum zu verlassen und in die Hände der örtlichen Sicherheitskräfte zu übergeben."
Wie lange dieser Prozess in Anspruch nehmen wird und in welcher Entfernung zum Stadtzentrum die türkischen Soldaten dann stationiert werden - dazu gab es keine Auskunft. Stattdessen zählte der Leiter des türkischen Presseamtes, Mehmet Akarca, die Wohltaten der Türken in Afrin auf:
"Die zerstörten Straßen wurden repariert, die Trümmer beseitigt, die Häuser repariert. Im Nachbarort Jinderes wurden die Bäckereien instand gesetzt und wieder in Betrieb genommen. Mehl und Hefe kommen zurzeit noch aus der Türkei, das Wasser aber von hier."
"Hier ist es viel besser geworden"
Akaraca steht vor dem zentralen Verwaltungsgebäude der Stadt, über ihm wehen zwei Flaggen: Die der freien syrischen Armee und die türkische. Auf dem Platz vor dem Verwaltungsgebäude herrscht so etwas wie Normalität. Die kleinen Läden sind geöffnet, Es gibt Medikamente, Konserven, Obst, Gemüse und lebende Hühner. Bezahlt werden kann in syrischem Pfund oder türkischer Lira, sagt der junge kurdische Verkäufer. Zehn Lira kostet ein Huhn, umgerechnet zwei Euro. Seit die Türkei Afrin eingenommen habe, sei hier vieles besser geworden:
"Hier ist es viel besser geworden. Danke dafür an die türkischen Soldaten, danke an Erdogan, an unseren Präsidenten. Die PKK, das sind Terroristen. Immer, wenn sie hier waren, haben sie uns unser Geld abgenommen."
So ähnlich hören wir das von den meisten Menschen auf dem Platz, den wir allerdings nicht verlassen dürfen. Tut man es doch, ist schnell ein Bewaffneter zur Stelle - aus Sicherheitsgründen, versteht sich. Abdul, ein Mann um die 40, übt dann doch überraschend Kritik an den türkischen Sicherheitskräften:
"In der Türkei ist das Schlagen von Verdächtigen verboten, und das geht hier nicht. Würden die Sicherheitskräfte jeden Dieb oder Terroristen bei der Festnahme so lange schlagen, bis er ein Geständnis ablegt, dann hätten wir hier weniger Probleme und weniger Terror hier."
Folter mit oder ohne Zustimmung der Türkei?
Wie es den Menschen in Afrin wirklich geht und welche Rolle die türkischen Sicherheitskräfte spielen, ist vor Ort unter diesen Bedingungen nicht zu erfahren. Ein Anruf bei der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen bringt mehr Klarheit als die türkische Propaganda. Kamal Sido ist Nahostreferent der Organisation, stammt aus Afrin und spricht unter anderem von Folter und Misshandlungen.
"Die Propaganda der Türkei oder der türkischen Kurden in der Region behaupten, dass diese Folger, dass diese Morde nicht mit Zustimmung der Türkei geschehen, sondern ohne die Zustimmung des türkischen Militärs. Nach unseren Angaben werden aber, immer wenn Menschen verhaftet werden, sind türkische Polizisten oder Armeeangehörige dabei. Also ohne Zustimmung der Türkei geschieht in Afrin gar nichts!"
Von den einst 400.000 Einwohnern, die Afrin hatte, haben etwa 250.000 die Region verlassen. Nidal Mustou, Arzt im örtlichen Krankenhaus, sagt, gut die Hälfte seien inzwischen zurückgekehrt, vor allem aus anderen Gebieten Syriens und etwa 10.000 aus der Türkei - und aus Deutschland? Dr. Mustou muss lachen:
"Was? Nein, ich glaube nicht. Dort herrschen menschliche Zustände. Hier nicht."
Kampf um die Rückkehr ins eigene Haus
Aber auch islamistische Rebellen aus Ost-Ghouta - dem wochenlang hart umkämpften Vorort von Damaskus, wurden in Afrin angesiedelt. Türkische Regierungsvertreter sprechen von 5.000-6.000, wollen sich aber nicht festlegen, es könnten auch mehr sein.
"Wenn sie hier herkommen, können sie eine Wohnung von Einheimischen mieten. Aber viele von ihnen kommen auch in den Camps unter."
Soweit die türkische Darstellung. Die Realität sieht nach Angaben vom Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker anders aus.
"Ein Kurde kehrte zurück in sein Dorf, und da waren Siedler aus Ost-Ghouta. Dann hat er gesagt, Leute, geht weg - das ist mein Haus! Aber die wollten dann nicht weggehen. Also, nach meinen Informationen besetzen die Menschen aus Ost-Ghouta die Häuser, ohne die Miete zu zahlen."
Etwa anderthalb Stunden durfte sich die Journalistengruppe auf dem zentralen Platz in Afrin bewegen und mit den dort Anwesenden sprechen. Dann ging es begleitet von Panzerfahrzeugen zurück zur türkischen Grenze.