Angefangen hatte alles im März 2011, nachdem Jugendliche in der syrischen Stadt Dara ein paar regierungskritische Parolen auf eine Hauswand geschrieben hatten. Das syrische Regime unter Machthaber Baschar al-Assad ließ sie einsperren. Beflügelt von der Wirkmacht des "Arabischen Frühlings" gingen zuerst nur einige Menschen in Dara, später Tausende in Damaskus und Homs gegen die Regierung auf die Straße.
Aus diesem kleinen Aufstand wurde ein Bürgerkrieg, später ein Stellvertreterkrieg, schließlich folgte das Eingreifen Russlands im September 2015 auf Seiten Assads. Heute, mehr als elf Jahre später, ist die Situation für die Bevölkerung schlimmer denn je. 14,6 Millionen Menschen brauchen humanitäre Unterstützung, zwölf Millionen sind von Hunger bedroht, 90 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze, so UN-Generalsekretär Antonio Guterres. Ein Ende der Kampfhandlungen ist nicht in Sicht.
Wo verlaufen die Konfliktlinien in Syrien?
Der Konflikt in Syrien ist eingefroren, das Land ist geteilt. Dank russischer Unterstützung hat Machthaber Baschar al-Assad seine Macht wieder gefestigt, auch wenn seine Truppen nur einen Teil des Landes - die Rede ist von rund zwei Dritteln - kontrollieren.
Der Nordwesten des Landes, rund um die Stadt Idlib, gilt als letzte verbleibende Hochburg der dschihadistischen Milizen in Syrien. Der mächtigste Akteur hier ist der islamistische Zusammenschluss Hayat Tahrir al-Scham (HTS).
Im Nordosten kontrolliert das kurdisch geführte Militärbündnis Demokratische Kräfte Syriens (SDF) weite Teile des Landes, seit es mit US-Unterstützung die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates (IS) vertrieben hat.
An der Grenze zur Türkei im Norden halten mit der Türkei verbündete Milizen seit 2019 eine sogenannte “Sicherheitszone”, weil Ankara den Einfluss kurdischer Gruppen entlang der Grenze eindämmen will. In vielen Teilen des Landes gibt es zudem bis heute Schläferzellen des IS, die immer wieder tödliche Anschläge verüben.
An dieser Situation dürfte sich bis auf Weiteres wenig ändern. Der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, äußerte sich angesichts des schleppenden Fortschritts von Friedensgesprächen im Oktober pessimistisch: Eine militärische Entscheidung sei eine Illusion. Frieden könne nur eine politische Lösung bringen. “Leider sind wir derzeit weit entfernt von diesem Ziel”, sagte Pedersen.
Machthaber Assad - isoliert oder akzeptiert?
In der internationalen Gemeinschaft mehren sich die Stimmen, die eine Normalisierung mit dem Regime in Damaskus erwägen, auch wegen der dramatischen Lage der Zivilbevölkerung. Obwohl die Regierung unter Baschar al-Assad in der Vergangenheit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschenrechte begangen hat und es auch weiterhin tut - es gibt beispielsweise weiterhin Berichte über Folter in staatlichen Gefängnissen - gibt es Rufe nach einem “pragmatischen” Umgang mit dem syrischen Regime.
“Russlands Präsident Wladimir Putin arbeitet seit Jahren daran, dieses Regime international zu rehabilitieren”, sagte die Journalistin und Syrien-Expertin Kristin Helberg im Deutschlandfunk. Besonders die arabischen Staaten in der Region seien dafür offen.
In diesem Jahr reiste Präsident Assad zu seinem ersten offiziellen Staatsbesuch in einem arabischen Land seit 2011 in die Vereinigten Arabischen Emirate. “Gerade die Nachbarn sagen: Wenn er nicht abtritt, dann holen wir ihn besser in unseren Geltungsbereich zurück, statt Syrien auf Dauer dem Einfluss anderer wie dem Iran, Russland oder der Türkei zu überlassen”, sagte Helberg. Die Arabische Liga erwäge daher eine Wiederaufnahme des Landes. Im November 2011 hatte die Arabische Liga Syriens Mitgliedschaft in der Organisation suspendiert – eine Reaktion auf das brutale Vorgehen der Assad-Regierung gegen die Proteste in Syrien.
Situation der syrischen Flüchtlinge
Trotz der anhaltenden Kämpfe und der katastrophalen humanitären Lage haben einzelne Staaten begonnen, Flüchtlinge nach Syrien zurückzuschicken, darunter die Türkei und der Libanon. Beide Länder haben seit 2011 die meisten Menschen aus Syrien aufgenommen. Ankara will eine Million Syrer zurückschicken und auch in europäischen Staaten wird darüber diskutiert, wann die Lage für Abschiebungen sicher genug sein könnte.
Zusätzlich zur politischen Verfolgung drohen zurückgeschickte Flüchtlinge in Syrien in eine dramatische humanitäre Krise zu geraten. Laut UN sind mehr als 14 Millionen Menschen im Land auf humanitäre Hilfe angewiesen, 90 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze und zwölf Millionen sind von Hunger bedroht. Hitzewellen und Dürreperioden sowie ein schwelender Konflikt mit der Türkei um das Wasser des Euphrats drohen, den einst als Kornkammer bekannten Nordosten des Landes auszutrocknen. Seit dem Sommer breitet sich zudem im Norden des Landes eine Cholera-Epidemie aus.
Zahl der Menschen auf der Flucht
Syrien sei in vielerlei Hinsicht nicht auf die Ankunft von hunderttausenden Menschen vorbereitet, sagte Helberg. Viele Menschen versuchten angesichts der Lage noch immer, das Land zu verlassen. “Der Plan der Türkei würde innergesellschaftliche Krisen auslösen”, sagte die Journalistin. Ankara wolle vor allem arabisch-syrische Geflüchtete in überwiegend kurdischen Gebieten entlang der Grenze ansiedeln. “Das wäre ein demographischer Wandel und das ist das Letzte, was die zerrissene syrische Gesellschaft braucht.”
Wie läuft die Versorgung der Bevölkerung?
Humanitäre Hilfe erreicht Syrien nur schleppend. In viele Regionen gelangen Hilfsgüter derzeit nur, wenn die ausführenden UN-Organisationen mit Damaskus kooperieren. Das Assad-Regime nutzt diese Hilfen jedoch seit Jahren als Druckmittel, enthält sie Gegnern vor oder leitet sie an Verbündete um. So fließt UN-Hilfe laut einem Bericht des Center for Strategic and International Studies (CSIS) letztlich in die Stabilisierung des Assad-Regimes.
Alternative Routen gibt es jedoch immer weniger. Russland nutzt Grenzübergänge, die nicht durch von Assad kontrolliertes Gebiet führen, als politisches Druckmittel. Aktuell fließen die Lieferungen für Millionen von Menschen in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens nur noch durch den Grenzpunkt Bab el-Hawa und auch dieses UN-Mandat läuft nur noch bis Januar 2023.
Eine Lösung sieht die Journalistin und Syrien-Expertin Helberg darin, Syrien temporär als de facto geteiltes Land zu begreifen. So könnten ausländische Geber auf die unterschiedlichen Realitäten in den jeweiligen Gebieten antworten und die Lebensbedingungen der Menschen verbessern. “Der Schlüssel dazu, diesen Konflikt besser zu managen und den Menschen vor Ort zu helfen, liegt darin, dass wir in diesen vier Teilen vier verschiedene Politikansätze finden”, sagte Helberg.
Dass die Geldgeber aus Europa und den USA aktuell rund 80 Prozent des UN-Budgets für die humanitäre Hilfe in Syrien aufbringen, sei ein Verhandlungskapital, das zu häufig nicht genutzt werde. Dafür müssen die Hilfen laut Helberg an konkrete Bedingungen geknüpft und bei Verstößen zurückgehalten werden.
Welche Rolle spielen regionale Machthaber?
Neben dem Regime in Damaskus sei auch ein direkter Austausch mit regionalen Machthabern möglich, ohne diese formal anzuerkennen. “Es ist üblich, dass man auch mit Terrorgruppen oder feindlichen Akteuren redet, um die Menschen vor Ort zu versorgen. Wir haben auch mit den Taliban geredet”, sagte die Syrien-Expertin und Journalistin Kristin Helberg. Solche Gespräche seien auch mit der islamistischen Gruppierung Hayat Tahrir al-Scham (HTS) in Idlib möglich. Bisher unterstützen viele internationale Geldgeber dort nur noch Organisationen, die nachweisen können, dass die Mittel nicht an die Terrorgruppen fließen - vielen kleinen NGOs gelingt es aber nicht, diese Nachweise zu erbringen. Eine Lösung wäre die Vereinbarung von klaren Rahmenbedingungen mit HTS für Unterstützung in Idlib, die Hilfe ermöglichen, ohne die Terrorgruppe zu stärken.
Besonders in den Gebieten unter kurdischer Verwaltung im Nordosten sei die Zusammenarbeit mit lokalen Partnern aussichtsreich. Dort agieren NGOs relativ frei. Das Gesundheitssystem etwa ließe sich ohne Kontakt zu den regionalen Machthabern in Zusammenarbeit mit dem Kurdischen Roten Halbmond unterstützen. Angesichts der Corona-Pandemie und der jüngsten Cholera-Ausbrüche wäre diese Hilfe dringend nötig.
Über Nothilfe hinaus ist hier laut Helberg auch ein Ansatz vorstellbar, der den Wiederaufbau von Infrastruktur ins Auge fasst. Dafür sei auch eine partielle Aufhebung internationaler Sanktionen für diesen Teil der Region eine Möglichkeit. So könne der Nordosten nicht nur versorgt, sondern auch wieder aufgebaut werden - andernfalls steigen die Chancen für Terrorgruppen wie den Islamischen Staat, in der verarmten Bevölkerung neue Mitglieder zu rekrutieren.
Abseits von politischen und menschenrechtlichen Fragen gebe es noch viel Spielraum, Einigungen zwischen den Konfliktparteien zu erzielen. “Schon jetzt findet alles in Syrien seinen Weg, egal ob Früchte, Waffen oder Drogen. Aber aktuell profitieren davon vor allem bewaffnete Gruppen”, sagte Helberg. Die gegenseitige Aufhebung von Kontrollposten, die Anerkennung von Schulabschlüssen, bessere Kooperation bei der gesundheitlichen Versorgung der Menschen. All das seien konkrete Verbesserungen, auf die sich die regionalen Machthaber einigen könnten und die für die Menschen vor Ort große Auswirkungen hätten.
Quellen: Qantara, Medico, Human Rights Watch, Reliefweb, Felix Wellisch